Wildcat-Zirkular Nr. 40/41 - Dezember 1997 - S. 64-83 [z40blaum.htm]


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Gewerkschaftslinke zwischen Ökonomie und Moral

Im Sommer 1996 wurde im ak Nr. 393 ein Thesenpapier der Hamburger Gruppe Blauer Montag (Der Sozialstaat zwischen Globalisierung des Kapitals und »Moralischer Ökonomie«) veröffentlicht, die SoZ hat dasselbe Papier im Frühjahr '97 [1] nachgedruckt. Der Blaue Montag geht in diesem Papier am Anfang ganz radikal vom Kapital als antagonistischem Kampfverhältnis aus, landet aber bei reformistischen Vorstellungen. Da die GenossInnen des Blauen Montag in ihren theoretischen wie praktischen Anstrengungen versuchen, zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus ausgehend von der Arbeiterklasse beizutragen, hat es uns natürlich brennend interessiert, wie es zu diesem Malheur gekommen ist.

Beim kritischen Lesen des Textes fallen erstmal drei Dinge auf:

Da nicht alle den Text vorliegen haben werden, fassen wir ihn zunächst anhand seiner eigenen Gliederung zusammen. Dabei ergibt sich aber, daß sich die politischen Argumente nicht in dieser Gliederung diskutieren lassen. Deshalb ziehen wir im Anschluß die drei zentralen Fragestellungen raus: Bedrohungsszenario, Klassenbegriff, »moralische Ökonomie« - und diskutieren den Text daran.

Zusammenfassung des Papiers

Das Papier hat vier Teile: 1) Globalisierung und Internationalisierung des Kapitals, 2) Globalisierung des Kapitals und Nationalstaat, 3) Umkämpfter Sozialstaat, 4) Krise der Gewerkschaften und der Klassenlinken, die einen einfachen Argumentationsgang nahelegen: Das Kapital globalisiert sich, somit gerät der Nationalstaat in seiner bisherigen Form in die Krise. Der Umbau des Sozialstaats führt u.a. zur Krise der Gewerkschaften. Was sind die Perspektiven der Klassenlinken?

1) Globalisierung und Internationalisierung des Kapitals

Die Beweglichkeit des Kapitals resultiere aus dem »grundlegenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit«; somit sei »das Kapital als Kampfverhältnis ... von seiner Basis her international«. Bei der »Globalisierung« könne es sich mithin nur »um neue Formen der 'Beweglichkeit' des Kapitals als sozialem Verhältnis« handeln. »In Anlehnung an Holloway: Die Art und Weise, wie das Kapital vor diesen [Klassen-]Kämpfen flieht, wird neu bestimmt.«

Im zweiten Schritt machen sie einen Schnelldurchgang durch die »Diskussion um 'Globalisierung'« seit Anfang der 70er Jahre, in der »verschiedene Seiten dieses Prozesses unterschieden« worden seien: »ein Internationalisierungsschub des Produktivkapitals«, die »Internationalisierung des Arbeitsmarktes« und »der neue Schub an Flexibilität und Geschwindigkeit, mit dem sich das Kapital als Finanzkapital bewegt«. Zum ersten Punkt erwähnen sie die Produktionsauslagerung und »neue technologische Schübe in der Datenverarbeitung, dem Transport, der Lagerhaltung und der Logistik allgemein«. Den zweiten Punkt fassen sie so zusammen: »Im Gegensatz zu anderen Waren ist der Weltarbeitsmarkt nachwievor in hohem Maße politisch vermittelt und reguliert.« Dennoch könnten »Migrationsbewegungen als eine (gesteuerte) Internationalisierung des Arbeitsmarktes interpretiert werden.« Auf den zweiten Gedanken gehen sie aber im folgenden nicht weiter ein, sie behandeln die Globalisierung durchgängig als Projekt von oben und sehen im dritten Punkt, in der Beweglichkeit des »Kapitals als Finanzkapital«, »die entscheidende neue Qualität«: »in den weltweiten Finanzmärkten, in der schrankenlosen und blitzschnellen weltweiten Reaktion von Geld und Kredit auf kleinste Änderungen der Profitabilität kommt die Beweglichkeit des Kapitals auf seinen Begriff.« Im Satz danach machen sie den einzigen Versuch im Text, die zu Beginn aus dem Klassenantagonismus entwickelte Beweglichkeit des Kapitals auch historisch zu fassen. »Dabei ist die Verflüssigung des Kapitals seit Beginn der 70er Jahre (...) im Kern eine Reaktion auf die Krise der Ausbeutungsbedingungen, mit denen sich das Kapital seit Ende der 60er Jahre weltweit konfrontiert sieht.« Da sie im Text auf diesen Gedanken aber nicht zurückkommen, bleibt er unbestimmt: woher kam diese Krise, wer löste sie aus, worin bestand sie?

Der »neue Schub an Flexibilität und Geschwindigkeit (...) mit dem sich das Kapital als Finanzkapital bewegt« sei die »entscheidende neue Qualität in den globalen Kapitalbewegungen«.

2) Globalisierung des Kapitals und Nationalstaat

Die Rolle der Nationalstaaten beschreibt der Blaue Montag mit einem Bild von Holloway: sie seien Staubecken, die das Wasser des globalen Kapitalstroms auffangen: »Die Staaten kontrollieren nicht den Gesamtdruck, die Fließgeschwindigkeit und das Fließvolumen des Stroms. Sie können lediglich versuchen, möglichst viel Wasser auf ihrem Territorium zu binden.« Es ist schwierig, den Kern der Argumentation zu erfassen, einerseits schreiben sie: »Für die (National-)Staaten ist es ungleich schwieriger geworden, ihre 'Stau-Beckenfunktion' zu erfüllen und das Kapital an die jeweilige Region zu binden«, stellen diesen Vorgang mithin als Tatsache dar, andererseits bezeichnen sie in den folgenden Sätzen genau dies als »einseitige« »ideologische Bilder«: »Was als Rückzug des Staates aus den gesellschaftlichen Aufgaben erscheint, ist der Versuch, die Ausbeutungsbedingungen im unmittelbaren Produktionsprozeß zu verbessern«, der Staat »transformiert zum 'nationalen Wettbewerbsstaat' (Hirsch)«. Inwiefern dieser Verweis auf Hirsch das aufgeworfene Problem klären soll, bleibt schleierhaft. [4]

Treibt »der Nationalstaat« die »Globalisierung« (mit) voran, oder erleidet er sie hauptsächlich? Ist seine »neoliberale Sparpolitik« ein bewußt eingesetztes Instrument oder nur Reaktion auf die globalen Finanzströme?

3) Umkämpfter Sozialstaat

Im weiteren Verlauf wird die Vorstellung von der Machtlosigkeit des Nationalstaats wieder als Ideologie enttarnt: »Die liberale Ideologie von der Machtlosigkeit des Staates angesichts der globalisierten Märkte trifft auf verschiedene Varianten einer Nationalstaatsorientierung von unten. Dies reicht von einem eher hilflosen Pochen auf nationalstaatliche Regulierung, Abschottung und Protektionismus (...) bis hin zu einer Art 'moralischer Ökonomie des Wohlfahrtsstaates' (...) Der traditionelle Sozialstaat bzw. die Sozialstaatsidee ist damit ein mehr oder weniger heftig umkämpftes Terrain.« Dieses Hin und Her zwischen Tatsachenbehauptungen und Ideologiekritik wird nur verständlich, wenn wir davon ausgehen, daß der Blaue Montag mit dem letzten zitierten Satz im Zentrum seiner Argumentation gelandet ist: die Auseinandersetzung sei vor allem eine ideologische, es gehe um die Sozialstaatsidee; die Möglichkeiten der Revolutionäre, in diese Auseinandersetzung einzugreifen, sehen sie hauptsächlich auf der ideologischen Ebene. In mehreren Bewegungen der letzten Jahre (die Debatte um das Entsendegesetz in der BRD, die französischen Streikbewegungen vom Dezember 95, die Generalstreiks in Italien 1994) seien »verschiedene Varianten einer Nationalstaatsorientierung von unten« aufgetreten. Aber es sei möglich und Aufgabe der Linken, diese Staatsfixierung aufzuheben.

Die Staatsfixierung sei darin begründet, daß der Staat historisch die Aufgabe der Sicherung des Sozialeinkommens übernommen habe. »Faktisch eignet sich der Staat über das Steuersystem Teile des Mehrwerts und Teile des Lohns an. In beiden Fällen ist die letztliche und einzige Quelle der Einnahmen des Staates die lebendige Arbeit.« »Insofern ist es auch richtig, wenn es heißt, der Staat gebe 'unsere Steuergelder' aus oder, noch überspitzter, der Staat sei im Kern 'die Gemeinschaft der Steuerzahler'. Das richtige Bewußtsein über die lebendige Arbeit als Quelle und Basis des Staatshaushalts ist die Grundlage vielfältiger Ideologien (...), die eines gemeinsam haben: Der Staat als Staat der (produktiven) Arbeit.« »Die gegenwärtige Umdeutung des Sozialstaatsprinzips als ideologischer Angriff kann damit an Bewußtseinsstrukturen ansetzen, die richtigerweise in der lebendigen Arbeit die Quelle der Staatstätigkeit sehen.«

Daraus leitet der Blaue Montag seine zentrale politische Stoßrichtung ab: Eine »ideologische Gegenpositionen zu diesen Spaltungsversuchen« lasse sich nur entwickeln, »wenn man den Standpunkt der verwertbaren Arbeit und der Reproduktion der Ware Arbeitskraft verläßt.« Richtiger sei, auf das »Naturrecht eines jeden Menschen auf einen eine menschenwürdige Existenz sichernden Bedarf« zu orientieren. [5]

4) Krise der Gewerkschaften und der Klassenlinken

Mit der Durchsetzung von neuen Produktionsbedingungen verlören die Gewerkschaften in ihrer Orientierung auf die Stammbelegschaften in den Großbetrieben real an Boden. »Ihre Fähigkeit, ein Ventil für wachsende Unzufriedenheit anzubieten und damit den 'sozialen Frieden' zu garantieren wird gezielt eingesetzt, um sich für zukünftige Kanzlerrunden ins Spiel zu bringen.« Der DGB wolle sich als Teil des politischen Machtapparats retten. Vor diesem Hintergrund erscheine die Diskussion in linken Betriebs- und Gewerkschaftskreisen über einen neuen radikalen Reformismus »in hohem Maße trügerisch«. Gleichzeitig sei aber auch kein Erstarken einer gewerkschaftsunabhängigen Klassenbewegung zu beobachten. Hieran schließen sie ihre Überlegungen über »Möglichkeiten strategische[r] und praktische[r] Handlungsansätze zur Überwindung dieser Hilflosigkeit« an. Diese wollen wir am Ende in unserem Resümee diskutieren.

Im folgenden wollen wir das Papier anhand von drei Fragestellungen kritisieren: Ihre politische Analyse entwickeln sie in einem Bedrohungsszenario, das aber verschwommen bleibt. Deshalb lesen wir im ersten Schritt den Text quer unter der Fragestellung: welche Art von Angriff sehen sie, gegen welchen Angriff richten sie ihre Vorschläge? Zweitens bricht die Argumentation im Papier an einer zentralen Stelle: Sie entwickeln einen sogenannten »'objektiven Klassenstandpunkt' der produktiven Arbeit«, bezeichnen diesen als »richtig«, fordern aber letztlich dazu auf, »den Standpunkt der verwertbaren Arbeit« zu verlassen. Wir versuchen deshalb, den Klassenbegriff des Blauen Montag herauszuarbeiten und zu diskutieren. Drittens führen sie den Begriff der »Moralischen Ökonomie« ein, um das Kampfterrain für die radikale Klassenlinke zu definieren. Wir halten diesen Begriff für die zentrale Schnittstelle zwischen ihren revolutionären Fragestellungen und ihrer reformistischen Orientierung.

Wer greift uns womit an?

Der Blaue Montag geht durchgängig von der Erfahrung des Angegriffenwerdens aus, der Text ist geradezu in ein Bedrohungsszenario getränkt. Sie sind damit recht dicht dran am Pessimismus der letzten Jahre und an den Erfahrungen vieler ArbeiterInnen: wenn sich was bewegt, wird es schlechter. Aber seltsamerweise gibt der Text wenig her in bezug auf unsere Fragestellung: Sie analysieren nicht, wer und was da wen mit welchen Waffen angreift, sondern verweisen mal eben auf »Hirsch: Wettbewerbsstaat«. Hirsch hat das Buch explizit geschrieben, um zu behaupten, daß in der heutigen Phase der »Globalisierung« keine Revolution mehr möglich ist, und daß wir alle zu »radikalen Reformisten« werden sollen. Indem sie seine (schlechte!) Analyse nicht hinterfragen, landen sie bei sehr ähnlichen politischen Vorschlägen.

Anstatt ihre Fragen über mögliche Bruchpunkte zu stellen, versuchen sie, mit einem scheinbar runden analytischen Bild und mit politischen Antworten darauf an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Staat betreibe »eine höchst aktive Politik der (Sozial-)Lohnsenkung, Deregulierung und Flexibilisierung, begleitet von verstärkt repressiven Formen der sozialen Kontrolle.« Solche Befunde werden aber an keiner Stelle vertieft, sondern immer wieder auf die ideologische Ebene umgebogen: »Der Staat kündigt gewissermaßen die 'moralische Ökonomie des keynesianischen Klassenkompromisses' auf und ersetzt sie durch eine Politik und Ideologie des 'work-fare-Staates'.« Ganz ähnlich im ersten Abschnitt, wo sie mit Taylorisierung, Outsourcing und anderen Managementstrategien beginnen und beim Kampf um die Globalisierungsideologie enden: »Allerdings - und das ist eigentlich wichtiger - gibt es eine Globalisierungsideologie und -propaganda, die in den Köpfen der Menschen schon viel weiter wirkt als die bereits vorhandenen internationalen Auslagerungen.« Ganz am Ende des Artikels sprechen sie dann von drei Ebenen des Angriffs: »verschärfte Angriffe auf betriebliche Kernbelegschaften«, »Neuzusammensetzung der Klasse« durch Prekarisierung und Illegalisierung eines wachsenden Teils der Beschäftigten und drittens »das gesamte Ausmaß der Angriffe (...) auf die Gesundheits- und Altersversorgung, auf die Arbeitslosenversicherung oder auf die Sozialhilfe«.

Am Ende, wo es um praktische Maßnahmen geht, erwähnen sie nur die materiellen Angriffe, während der eigentliche rote Faden des Artikels die Vorstellung ist, daß es sich im Kern um einen ideologischen Kampf handelt: »Die Sozialstaatsidee ist Gegenstand eines ideologischen Klassenkampfes, in dem in der BRD die Linke völlig in der Defensive ist.« Diese Zweiteilung hängt mit ihrem Konzept einer »moralischen Ökonomie« auf der einen Seite und ihrer Reduzierung des Klassenbegriffs auf ökonomische Kategorien zusammen (siehe die Abschnitte dazu weiter unten). Möglich wird dies durch eine völlig einseitige Vorstellung des keynesianischen Sozialstaats, die wir zunächst betrachten wollen.

An keiner Stelle im Text wird der keynesianische Sozialstaat in seiner Funktion als Zwang zur Arbeit thematisiert. [6] Sie tun so, als könne die Frage des Sozialeinkommens losgelöst davon diskutiert werden. Daß sich die Reproduktion derjenigen, die nicht im Produktionsprozeß stehen, auf die Ebene des Sozialstaats verlagert hat, ist eine relativ neue Erscheinung. Zuvor war der Zusammenhang zwischen Lohn und gesellschaftlicher Reproduktion deutlicher. Die Reproduktion aller Menschen, die im Kapitalismus leben, ist über Arbeit vermittelt. In der speziellen Ausprägung des deutschen Sozialstaats wird die Reproduktion von Menschen, die gerade nicht arbeiten, nochmal auf zwei Ebenen abgetrennt: Die Abtrennung auf die Ebene der Sozialversicherung (Arbeitslosen- und Rentenversicherung, ebenso Lohnfortzahlung und Krankengeld) erzeugt den Versicherungsfetisch. [7] Die Abtrennung anderer Leistungen (Sozialhilfe) auf die Ebene der Fürsorge erzeugt bis heute Spaltungen im Proletariat: für viele ist es (heutzutage) völlig korrekt und legitim, Versicherungsleistungen so weit wie möglich abzuzocken (Lohnfortzahlung, Arbeitslosengeld, Rente), sie schauen aber auf andere herab, die von Sozialhilfe leben. Der Blaue Montag bezieht sich auf die Ideologie der Fürsorge und setzt sie mit der gesamten Sozialstaatsidee gleich, damit verfestigt er die kapitalistischen Ideologien vom Sozialstaat:

»Das Bedarfsdeckungsprizip und das Prinzip, daß bei aller Verpflichtung auf Arbeit in dieser Gesellschaft eine menschenwürdige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gesichert werden soll, wird ideologisch geschleift und materiell abgeschafft.«

Im Begriff des »Bedarfdeckungsprinzips« ist die Vorstellung enthalten, der Kapitalismus sei eine Marktwirtschaft, in der die Produktion den Bedarf der Konsumenten deckt; »Lohnersatzleistungen« wie Krankengeld, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe haben dafür zu sorgen, daß auch Menschen, die nicht arbeiten können, ihren Bedarf decken können. Bedarfdeckungsprinzip wird in jedem Wirtschaftslexikon etwa wie folgt definiert: »Prinzip, an dem sich wirtschaftliche Aktivitäten orientieren, die allein [!] auf die Deckung eines vorhandenen Bedarfs ausgerichtet sind. In früheren Wirtschaftssystemen und in primitiven Kulturen bestimmte das Bedarfdeckungsprinzip das Wirtschaftsleben. (...) Gegensatz: erwerbswirtschaftliches Prinzip.« (Gabler, 12. Auflage) Die Nicht-Orientierung am Gewinn ist wesentliches Moment des Begriffs. Damit wird unterstellt, die keynesianisch regulierte Ökonomie habe in einem Gegensatz zur Orientierung zum Gewinn gestanden. Selbst wenn wir annehmen, daß der Blaue Montag an der Stelle nur vom Sozialstaat sprechen will (aber nach der allgemeinen Definition bezieht sich der Begriff nicht auf Teileinheiten einer Wirtschaft, sondern auf sie als ganze), bliebe es Ideologie: der Zweck des Sozialstaats ist nicht Bedarfdeckung, sondern dieses ist nur Mittel, um den eigentlichen und materiell realen Zweck - das Gewinnmaximierungsprinzip - abzusichern. An der Stelle kann sich der Blaue Montag auch nicht darauf herausreden, daß es nur um den Kampf um Ideen ginge, da er davon spricht, daß das Bedarfdeckungsprinzip »ideologisch geschleift und materiell [!] abgeschafft« werde. Im Lichte dieser Aussage können dann auch die dürftigen zuvor gelieferten Bestimmungen zum Sozialstaat nur noch so interpretiert werden, daß der Staat des Keynesianismus kein kapitalistischer Staat war, weil der Profit und das Kapital nicht mehr sein oberster Orientierungspunkt gewesen sind.

Indem sie den keynesianischen Sozialstaat idyllisieren (er habe »eine menschenwürdige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben« gesichert!) und die Rolle der ArbeiterInnen bei seiner Zerrüttung ganz weglassen, malen sie ein Bild, wo eine über uns stehende Macht uns aus dem Paradies vertreibt. Diesen Angriff analysieren sie nicht, sondern begnügen sich damit, die üblichen linken Main-stream-Meinungen zu zitieren (Armut, Prekarisierung, Hirsch, Globalisierung, »verschärfte Angriffe auf betriebliche Kernbelegschaften«).

Klassenbegriff

Was versteht der Blaue Montag unter »Klasse«? Ganz am Anfang des Papiers wird das Kapital als soziales Kampfverhältnis bestimmt, dessen weltweite Beweglichkeit aus dem grundlegenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit resultiere, nämlich »aus dem Bestreben der lebendigen Arbeit, der Ausbeutung 'zu entfliehen' einerseits und dem Bestreben des Kapitals, seinerseits den Restriktionen, die der Ausbeutung in den Klassen- und anderen Kämpfen auferlegt werden, zu entkommen.« In der Art, wie sie hier Holloway falsch aufgreifen, liegt der Hase schon im Pfeffer. In Capital moves hatte Holloway die Entstehung des Kapitals als doppelte Fluchtbewegung des Knechts und des Herrn gefaßt, das Kapital entsteht bereits als Klassenkampf. Der Blaue Montag macht daraus eine überhistorische Tatsache: der Klassenkampf führt zu »Restriktionen«, vor diesen flieht das Kapital und ist dann im Gegenschlag aber unabhängiges Subjekt. An anderer Stelle schreiben sie, auch in seiner Geldform könne das Kapital »dem Zwang, lebendige Arbeit ausbeuten zu müssen, nicht entfliehen«, »letztlich ist die tatsächliche Ausbeutung, die tatsächliche Produktion von Mehrwert im unmittelbaren Produktionsprozeß die Basis, die gesichert werden muß. Gelingt die Erhöhung der Ausbeutungsrate nicht, endet die Glitzerwelt des Casino-Kapitalismus mit einer Bauchlandung.« Diese Einsicht steht im Textzusammenhang allein, sie wird nicht aufgegriffen oder vertieft. Aber so wie sie hier die Tatsache, daß das Kapital von der lebendigen Arbeit abhängig ist, als Warnung von Lord Keynes vor dem »Casino-Kapitalismus« aufgreifen, bleibt das Kapital unabhängiges Subjekt, das seine Grenzen nur an sich selber findet.

In welches Dilemma sie damit geraten, wird bei den Diskussionen um das zweite Schiffahrtsregister und um Arbeitsmigration aus Polen (Themen, zu denen sie Veranstaltungen mit Gewerkschaftsvertretern organisiert hatten) deutlich: einerseits finden sie den »Unmut« deutscher ArbeiterInnen über ausländische Lohndrücker »ja völlig legitim«, das habe »erstmal nichts mit Rassismus zu tun«. Andererseits orientierten »selbst die Überlegungen der Betriebs- und Gewerkschaftslinken auf unseren Veranstaltungen (...) eher auf einen verstärkten nationalistischen Arbeitsmarktprotektionismus, auf nationalstaatliche Regulierung und Abschottung des nationalen Arbeitsmarktes.« Sie stellen die moralische Berechtigung, einen bestimmten Standard der Ausbeutung zu verteidigen, gegen die Berechtigung, nach Deutschland zu kommen und sich relativ billig ausbeuten zu lassen. Und auf dieser Ebene, auf der sich die Arbeiter als Konkurrenten um die besten Ausbeutungsplätze gegenübertreten, ist in der Tat keine revolutionäre Antwort möglich.

Im zweiten Abschnitt »Globalisierung des Kapitals und Nationalstaat« taucht dann der Begriff des »keynesianischen Klassenkompromiß« auf. Dieser Begriff wird mit drei Stichwörtern umrissen: Wohlfahrtsstaat, Integration der Gewerkschaften in den Staat, sozialstaatliche Ideologiebildung. Seine Grundlage seien hohe Profitraten und somit eine relative Stabilität und Unbeweglichkeit des Kapitals gewesen. Nun werde diese »regionale Unbeweglichkeit und Stabilität des Kapitals« durch seine Verflüssigung abgelöst und somit die »Bindung von (National-)Staat und 'nationalem Kapital' ausgehöhlt«. Die Vorstellung ist also die eines Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit, der heutzutage vom Kapital aufgekündigt wird. Im Begriff »Kompromiß« ist der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit gelöscht. [8] Zudem sind hierbei zwei gleichberechtigte Partner vorausgesetzt, diese hat es aber nur in der Form der Arbeiterbewegung und der Unternehmerinstitutionen gegeben. Es gibt geschichtlich eine Dialektik zwischen (offizieller) Arbeiterbewegung (SPD, Gewerkschaften) und Klasse(nkämpfen). Die Institutionalisierung mit den Kämpfen, die offizielle Arbeiterbewegung mit der Klasse gleichzusetzen, ist aber das wesentliche Merkmal des Reformismus. Im Text des Blauen Montag führt das zum politischen Kurzschluß. Wie kritisch auch immer, sie erkennen die Gewerkschaften als Vertreter der Klasse an und sie orientieren auf eine Rückkehr in den nationalstaatlich regulierten Keynesianismus. Dabei waren es gerade die Kämpfe der Arbeiterklasse, die Ende der 60er Jahre die für den »Keynesianismus« typische Kopplung der Unterordnung unter das Fabrikkommando bei gleichzeitiger politischer Anerkennung der Arbeiter als Arbeitskraft aufbrachen, indem sie ihre Rolle als Arbeitskraft angriffen: gegen die Arbeit kämpften, höhere Löhne durchsetzten und trotzdem weniger arbeiteten, absichtlich arbeitslos wurden, den Sozialstaat ausnutzten usw. Hier ist das Wesen der Krise zu finden. Die offensiven Kämpfe sind seit Beginn der 70er Jahre abgeflaut, aber aufgrund des Verhaltens der Klasse (und aufgrund der kapitalistischen Reaktionen darauf) gibt es keinen Weg zurück.

Ohne solch eine Analyse landen wir zwangsläufig in einer machtlosen Opferrolle. Die Herrschenden braten uns mal wieder eins über.

Um Widersprüche innerhalb der Klasse thematisieren zu können, führt der Blaue Montag den Begriff vom »objektiven Klassenstandpunkt der produktiven Arbeit« ein. Die Tatsache, daß die Reproduktion der Gesamt-Arbeiterklasse im Kapitalismus über die Form des direkten und (auf sozialstaatlicher Ebene) indirekten Lohnes läuft, schreibt der Blaue Montag in die Unterteilung zwischen »Produktiven« und »Unproduktiven« fest. Das materielle Interesse der Produktiven, Arbeitenden, beschränken sie somit auf das, was die Arbeiterbewegung vertritt: das individuelle Verhältnis des Einzelarbeiters zum Einzelunternehmer, sein Interesse als Ware Arbeitskraft. Wie bei ihrer Diskussion über Migration so gehen sie auch hier wieder nicht davon aus, daß das Kapital die Arbeiterklasse ausbeutet und der revolutionäre Standpunkt der Arbeiterklasse somit darin besteht, nicht mehr Arbeiterklasse sein zu wollen; sondern sie gehen von der Fetischform aus, wie sie der vereinzelte Arbeiter als Verkäufer »seiner« Ware Arbeitskraft erfährt. Der Kreis schließt sich: der »objektive Klassenstandpunkt der produktiven Arbeit« ist nichts anderes als das Interesse am Fortbestehen des Kapitalismus. Damit haben sie sich in die Patsche argumentiert: Einerseits finden sie den gewerkschaftlichen Standpunkt der Interessenvertretung der Ware Arbeitskraft richtig, andererseits wollen sie den Kapitalismus überwinden. Sie schlagen nun einen Spagat vor: A ist zwar richtig, das müssen wir jetzt aber mal kurz vergessen: »Daraus folgt, daß sich eine ideologische Gegenposition zu diesen Spaltungsversuchen nur entwickeln läßt, wenn man den Standpunkt der verwertbaren Arbeit und der Reproduktion der Ware Arbeitskraft verläßt.« Stattdessen sei »nach wie vor« [?] »auf so was wie ein Naturrecht eines jeden Menschen auf einen eine menschenwürdige Existenz sichernden Bedarf zu orientieren«. »Ein umfassender Begriff von sozialer Sicherung und Existenzrecht weist auf ein Leben jenseits des Betriebs und der Arbeit hin.«

Mit der Trennung der Gesellschaft in Kapitalisten, Arbeiter und diejenigen, die zwischen allen Stühlen sitzen, ist der Versuch einer politischen Klassenanalyse hinfällig. Wer sollen die »Unproduktiven«, die »nicht verwertbaren Teile der Gesellschaft« denn sein? Alte? Kranke? Behinderte? Arbeitslose? In aller Regel ist die Arbeitslosigkeit z.B. kein statischer Zustand. Nur sehr wenige Menschen sind auf lange Zeit wirklich völlig ohne Arbeit. Für die allermeisten stellt sich die Situation als Wechsel zwischen regulärem Lohnarbeitsverhältnis, Arbeitslosengeld, Schwarzarbeit, geringfügig bezahlten Teilzeitjobs und wieder regulärer Arbeit dar. Also »unproduktiv«?!

Moralische Ökonomie - ein Exkurs [9]

»An die Herrschaften von Colyton: Wenn wir nicht bald alle Dinge günstiger erhalten können als es jetzt möglich ist, müßt ihr damit rechnen (...), daß die Stadt bis auf die Grundmauern niedergebrannt wird; und der See wird mit Blut so vollaufen wie jetzt mit Wasser. Wir sind 452 und haben verdammt noch mal darauf einen getrunken.« [10]

Etwa in der Mitte des Textes taucht ein Begriff auf, der als zentrales Scharnier zwischen Analyse und politischen Vorschlägen dient: »Der Staat kündigt gewissermaßen die moralische Ökonomie des keynesianischen Klassenkompromisses auf (...) Dieser Rückzug des Staates aus den Verpflichtungen einer moralischen Ökonomie des keynesianischen Klassenkompromisses gilt dem Kern nach für alle Nationalstaaten unabhängig von den jeweils konkret unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen der jeweiligen Regionen.«

»Moralische Ökonomie« war bereits in der Überschrift vorgekommen und in einer Fußnote so erklärt worden: »Den Begriff der moralischen Ökonomie verwenden wir in lockerer, aber durchaus bewußter Analogie zur moral economy des britischen Sozialhistorikers E. P. Thompson. Grob und vereinfachend sind damit Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen von Bauern, Handwerkern sowie städtischer und ländlicher Armutsbevölkerung gemeint [11], die zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit den Normen und Zwängen des heraufziehenden Industriekapitalismus kollidierten und Motor heftiger und revoltenhafter Klassenauseinandersetzungen waren (E. P. Thompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt 1987).« Dieser Verweis ist irreführend: E. P. Thompson untersucht in seinem Hauptwerk die Selbstkonstituierung der Arbeiterklasse um die Jahrhundertwende. [12] Der orthodoxe Marxismus hatte seit dem Kommunistischen Manifest ein Phasenschema vertreten, nach dem die Proleten zunächst »rückwärtsgewandte Maschinenstürmerei« betreiben, sich dann von der Bourgeoisie politisch organisieren lassen (eine Lesart der '48er Revolution), sich drittens eigene Gewerkschaften geben und viertens dann mit der kommunistischen Partei für die Revolution kämpfen. Grundlage solcher Modelle war die Vorstellung, die Bourgeoisie habe die Arbeiterklasse »erzeugt« (siehe ebenfalls Manifest). Gestritten wurde allenfalls darum, wie von Stufe 3 zu Stufe 4 fortzuschreiten sei. Thompson schrieb The Making ... zu Beginn der 60er Jahre gegen zwei Gegner: die bürgerliche Geschichtsschreibung, welche die Existenz von Klassen leugnete, und den zur Weltanschauung des »Diamat« geschrumpften Marxismus der offiziellen Arbeiterbewegung. Dagegen ging es Thompson immer um die Frage, wie die Massen zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte werden (können). Er arbeitete am historischen Material heraus, daß die Brotunruhen, Sabotage-Aktionen gegen Maschinen, Enteignungen und das Zerstören von fixem Kapital gut organisierte Aktionen waren - und keine antisozialen Aktionen hungernder Individuen. Laut Thompson waren »alle diese Volksaktionen (...) durch die alte paternalistische moralische Ökonomie legitimiert.« (S. 72) »So erlebte das Ende des 18. Jahrhunderts einen letzten verzweifelten Versuch des Volkes, die ältere moralische Ökonomie gegen die Ökonomie des freien Marktes zu verteidigen.« (S. 73) In The Making ... beschreibt der Begriff der »moral economy« einen Übergang, die sittlichen Wurzeln der Selbstkonstituierung der Arbeiterklasse. Im Aufsatz The Moral Economy of the English Crowd ... von 1971 wendet sich Thompson nochmal explizit gegen die bürgerliche, reformistische Vorstellung, vor ihrer gewerkschaftlichen Organisierung hätten die Menschen nur »instinktiv« reagiert. Gegen die Vorstellungen der Historiker von den »spasmodischen [krampfartigen] Hungerrevolten« setzt er das Geplante und die sittliche Ebene der riots. [13] Er mokiert sich über solche Vorstellungen mit einer Formulierung, die fast wörtlich einem Satz von Danilo Montaldi gleicht, mit dem dieser die militante Untersuchung der aktuellen Klassenzusammensetzung einforderte: »Wir wissen alles über das feine Gespinst von sozialen Normen und Reziprozitäten, die das Leben der Trobriand-Insulaner beherrschen, und über die psychischen Energien, die bei den Cargo-Kulten der Melanesier eine Rolle spielen. Aber plötzlich, an irgendeinem Punkt der Entwicklung, wird dieses unendlich komplexe soziale Wesen, das melanesische Individuum, in unseren historischen Darstellungen der englische Bergmann des 18. Jahrhunderts, der sich mit seinen Händen 'spasmodisch' auf den Bauch schlägt und auf elementare ökonomische Stimuli reagiert.« [14]

Aber bei allen Verdiensten, die Thompson als Historiker hat und bei allen guten Vorsätzen: politisch hat sein Konzept der »moralischen Ökonomie« Schlagseite. Thompson definiert den heutigen Kapitalismus als »nicht regulierte Marktwirtschaft«. [15] Deshalb schwingt im Begriff »moralische Ökonomie« immer die Vorstellung mit, die Proleten hätten sich gegen die neue »politische Ökonomie des freien Marktes«, gegen die »wucherischen Mechanismen einer unkontrollierten Marktökonomie« gewehrt, »welche menschliche Beziehungen auf bloße Lohnabhängigkeit reduzierte«. Moral gegen Markt. Von daher ist der Begriff verlockend für politische Vorstellungen, die den heutigen Kampf als »neoliberale Durchsetzung des freien Marktes gegen hergebrachte sozialstaatliche Klassenkompromisse« interpretieren. [16] Daß solche politischen Orientierungen den Kapitalismus nicht abschaffen wollen, sondern nur seine Auswüchse abmildern, haben wir bereits im Wildcat-Zirkular Nr. 24 in einem langen Artikel dargelegt; auch in diesem Zirkular ist wieder ein Beitrag dazu [17]. Inzwischen ist aber auch die historische Forschung weitergegangen, [18] und wir wissen heute mehr über die geschichtliche Etappe, die Thompson untersucht hat. So stellt Bohstedt [19] fest, daß die englischen »food rioters« ihre Handlungen nicht mehr von einer traditionellen Subsistenzwirtschaft herleiteten, sondern als Konsumenten und häufig auch als Produzenten »längst in kapitalistische Marktzusammenhänge integriert gewesen« seien. [20] »Typische Hungeraufständische lebten nicht in einer lokalen Subsistenzwirtschaft, ganz im Gegenteil (...) waren die meisten Aufständischen Industriearbeiter aus Städten und ländlichen Gewerbegebieten, die viele Wanderarbeiter im 17. und 18. Jahrhundert anzogen. (...) [sie] waren von weitgespannten kapitalistischen Marktverflechtungen abhängig, um durch den Verkauf ihrer Produkte im Fernhandel ein Einkommen zu sichern und auch, um Nahrungsmittel zu bekommen. Solche Abhängigkeit rief nicht notwendigerweise Liebe zum Kapitalismus hervor, aber jene Leute hatten sich zweifellos mit den eigenen Füßen zu seinen Verheißungen bekannt.« [21] Die »moralische Ökonomie« der Nahrungsmittelrevolten sollte nicht als Ideologie im Sinne Thompsons (»geschlossene traditionelle Sicht sozialer Normen und Verpflichtungen«) aufgefaßt werden, sondern »als eine lockere Konstellation von zeitbedingten und variablen Praktiken.« [22] »Es lassen sich kaum Belege für Thompsons Behauptung finden, daß die 'moralische Ökonomie' eine 'selektive Rekonstruktion' des Paternalismus gewesen sei.« [23] Die paternalistischen Fürsorgegebote seien Reaktionen der Eliten auf die den Marktplatz kontrollierende Volksmenge gewesen und nicht umgekehrt. »In politischer Hinsicht übernahm der Paternalismus Anregungen zur Regulierung der Märkte von den Aufständen und nicht umgekehrt.« [24]

Schließlich verweist Bohstedt darauf, daß es im historischen Verlauf und je nach sozialem Umfeld und beteiligten Gruppen eine große Vielfalt von Handlungsmustern gab, was mit dem Konzept der »moralischen Ökonomie« nicht erklärt werden könne, »weil es nahezu ausschließlich auf die Motive der Aufständischen zielt.« [25] Viel sinnvoller sei es, solche Aufstände vor dem Hintergrund unterschiedlicher örtlicher Umstände, der daran beteiligten Gruppen [26] usw. zu untersuchen. Man könne nicht danach suchen, welche Gemeinde mit ihren Wertvorstellungen welche Aktionen hervorbrachte, denn sehr oft hätten die Unruhen erst »Gemeinden« erzeugt. [27]

Die ArbeiterInnen tun etwas bestimmtes, sie reden aber anders darüber: Der Arbeitsmigrant aus dem Süden benutzt mit größter Selbstverständlichkeit die technologisch fortgeschrittensten Fließbandsysteme in Turin, um seinen Kampf zu führen - aber wenn er darüber redet, erklärt er es vielleicht mit den Wertvorstellungen, die er aus dem bäuerlichen und halbfeudalen Süd-Italien mitgebracht hat. Es ist sehr entscheidend, wie wir diesen Widerspruch auflösen. Für Zygmunt Bauman [28] war es der Punkt, »Abschied vom Klassenkampf« zu nehmen: wenn Klasse offensichtlich nur »Gedächtnis ihrer selbst« ist, welchen Sinn mache es dann, diese Kategorie weiter zu benutzen? Uns erscheint ein Ansatz wie der von Bohstedt sinnvoller, das Verhalten der Menschen im sozialen Kontext zu untersuchen. Auch bei der aktuellen Untersuchung der Klassenkämpfe ist dieses Verfahren überlegen, gerade auch deshalb, weil die ArbeiterInnen in ihrem sozialen Verhalten in der Regel schon weiter sind als es sich in ihren Ansichten ausdrückt.

Der Blaue Montag benutzt den Begriff der »moralischen Ökonomie« als ideologische Überwölbung des »keynesianischen Klassenkompromiß«. An einer Stelle im Text wird »moralische Ökonomie« durch erklärende Einschiebung als »ein Festhalten an tradierten Gerechtigkeitsvorstellungen über Sozialeinkommen und soziale Sicherung« definiert. Dieser Gedanke wird im weiteren verstärkt: »der Ausgangspunkt [der moralischen Ökonomie ist] ein konservatives Moment, nämlich das Festhalten oder Zurückholen besserer Zeiten.« Im etwa gleichzeitig geschriebenen Editorial der Hamburger Zeitschrift 1999 wird »moralische Ökonomie« noch stärker mit dem Sozialstaat gleichgesetzt: Die »sozialstaatliche Wohlfahrt« sei »praktischer Bezugspunkt für Wertmaßstäbe«. »Die 'Sozialstaatsidee' erweist sich so als eine Art moralische Ökonomie der Lohnabhängigen«. [29]

Somit sind wir im selben Teufelskreis gelandet wie weiter oben mit dem »Standpunkt der produktiven Arbeit«: moralische Ökonomie wäre das Festhalten an alten Ausbeutungssystemen.

Wir haben also folgendes Bild: Das Kapital globalisiert sich, weil es in der Krise war. In der Folge wird der Sozialstaat reduziert. Widerstand von unten regt sich in Form von moralischer Ökonomie und Staatsfixiertheit. In dieser moralischen Ökonomie sind zudem leistungs- und produktivitätszentrierte Vorstellungen enthalten. Das Dilemma wird weiter verschärft durch den objektiven Standpunkt der produktiven Arbeit: »Die sich jetzt vollziehende Umdeutung der Sozialstaatsidee ist damit nicht soweit vom 'objektiven Klassenstandpunkt' der produktiven Arbeit entfernt.« Jetzt haben sie sich endgültig in die Patsche argumentiert: Die moralische Ökonomie ist produktivitätsorientiert; gleichzeitig kann der Globalisierungsangriff auf (»richtige«!) Vorstellungen der »produktiven Arbeit« zurückgreifen. Somit sind alle Wege für eine revolutionäre Lösung verbaut.

Resümee

Die Argumentation des Blauen Montag knüpft an die Diskussionen Anfang der 80er Jahre um die »Zwei-Drittel-Gesellschaft« an. Aus dem Fehlen einer offensiven Klassenbewegung wird geschlossen, daß die Arbeiter, vor allem in der Metropole, durch ihre Existenz als Arbeiter schon zu sehr in die kapitalistische Logik integriert seien, als daß sie überhaupt revolutionär seien könnten. Stattdessen sei es die »unproduktive Unterklasse«, deren Überlebenskampf antagonistisch zum Kapitalverhältnis sei, da ihr Existenzrecht unabhängig von einer Einbindung in den Produktionsprozeß durchgesetzt werden müsse. Diese Überlegungen führen allerdings aus zwei Gründen in eine Sackgasse. Erstens sind die sogenannten Unproduktiven ein sozialpädagogisches Konstrukt, der Anspruch ihrer VertreterInnen auf eine Avantgarde- oder Sozialarbeiter-Rolle ist bereits eingebaut. Das leninistische Konzept, die revolutionäre Avantgarde müsse den »trade-unionistischen« Massen das richtige Bewußtsein bringen, unterscheidet sich nur in Nuancen vom Konzept, die radikale Linke müsse auf die widersprüchliche moralische Ökonomie der Unterklassen einwirken. Zweitens bleibt unklar, warum in einer Bewegung für mehr Arbeitslosengeld oder ähnliches mehr revolutionäres Potential als in einer Kampagne für mehr Lohn gesehen wird. Die Frage, von wem denn ein Existenzrecht eingefordert werden könnte, führt logisch zu Forderungen an den Staat.

Obwohl sie in den Vorbemerkungen betonen, daß ihr Papier »die politischen Konsequenzen« nur andeuten solle, steckt in dem Satz: »Es geht also um eine Gra[t]wanderung [30] zwischen einer Verteidigung der Lebensansprüche der Menschen, der Verteidigung von Sozialstaatsleistungen und einer gleichzeitigen Überwindung der erwähnten Staatsfixierung« ein politisches Programm der kleinen Schritte.

Am Ende des Artikels stellen sie folgende politische Überlegungen an: Die Gewerkschaftslinken müßten sich trotz der praktischen Schwierigkeiten mit den Formen der prekären Arbeit beschäftigen und versuchen, »Kommunikationsstrukturen zu organisieren mit denen sowohl die unterschiedlichen Realitäten in den verschiedenen Betrieben und Beschäftigungsverhältnissen als auch in den Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes oder die Umgehensweisen mit Arbeits- und Sozialämtern gemeinsam diskutierbar werden, so daß überhaupt eine Basis für sich aufeinander beziehende Kämpfe in den unterschiedlichen Segmenten der Ausbeutung entstehen kann«. Genauso wichtig sei es, daß »die betrieblichen Bewegungen« das »gesamte Ausmaß der Angriffe, die in den letzten Jahren auf die Gesundheits- und Altersversorgung, auf die Arbeitslosenversicherung oder die Sozialhilfe durchgeführt worden sind«, endlich wahrnehmen.

Ihr Schlußresümee »Wir denken, daß es darauf ankommt, einen umfassenderen Begriff von sozialem Einkommen zu entwickeln und diesen sowohl bei betrieblichen Abwehrkämpfen als auch außerhalb zum Thema zu machen. Auch in diesem Sinne halten wir einen Blick über die betriebliche Wirklichkeit hinaus für unabdingbar«, bleibt sehr vage. Sollten die GenossInnen den Braten gerochen haben, daß sie sich mit einer Neu-Auflage der »Existenzgeld-Forderung« der 80er Jahre bestenfalls zu »Gewerkschaftsvertretern der Armen« machen würden, schlimmstenfalls zu Vorreitern eines kapitalistischen Umbaus des Sozialstaats? Wir nehmen ihnen allerdings den Paternalismus des garantierten Arbeiters nicht ab: In ihren gesamten Überlegungen am Ende nehmen sie (künstlich) die Rolle des Arbeiters im Großbetrieb ein, der nur Abwehrkämpfe führt [31] und dem man deutlich machen muß, daß er über seinen betrieblichen Tellerrand hinausschauen und sich um die Prekären und Arbeitslosen kümmern muß.

Sie versuchen einen Spagat zwischen gewerkschaftlichem Standpunkt (»Verteidigung der Sozialstaatsleistungen«) und Ideologiekritik (»Überwindung der Staatsfixiertheit«). In ihrer Orientierung auf ein Naturrecht bleiben sie in der Illusion des »keynesianistischen Klassenkompromiß« gefangen. Nachdem sie zunächst aufgefordert hatten, den »objektiven Klassenstandpunkt der produktiven Arbeit« zu verlassen, landen sie am Ende genau dort: ihre Perspektive ist ein linksgewerkschaftlicher Kampf auf Betriebsebene, verbunden mit einer politischen Intervention von außen, die auf einer moralischen Ebene das »Existenzrecht« der Unterklassen einfordert.

Die politische Wirkung des Textes beschränkt sich leider darauf, die aktuelle Main-stream-Debatte zu bedienen: gegen den »entfesselten Kapitalismus« eine anständige Gesellschaft zu verteidigen, Moral gegen Markt, kleine Schritte gegen revolutionäre »Utopien«. Die sich brutal durchsetzende »neoliberale Marktwirtschaft« bedroht uns von allen Seiten, wir können uns nur noch mit einer reformistischen Politik der kleinen Schritte vor dem Allerschlimmsten schützen. Die gegebenen Verhältnisse erscheinen als unüberwindlich, auf die allseitigen Angriffe können wir nur mit der Verteidigung des Status quo reagieren, eine revolutionäre Perspektive scheint unmöglich. Mit der »Globalisierung« haben die Herrschenden ihr altes Projekt neu durchgesetzt: die kapitalistische Verwertung alles Lebendigen erscheint als ökonomischer Sachzwang, der sich über unseren Köpfen abspielt, den wir erleiden oder regulieren können. Der Blaue Montag erfaßt das teilweise, wenn er schreibt, es ginge um einen »ideologischen Klassenkampf«. Aber sein Begriff von Klasse reproduziert diesen kapitalistischen Sieg: Klasse ist ökonomische Kategorie - damit haben sie sozusagen auf einer begrifflichen Ebene bereits kapituliert. Zwangsläufig kann der Blaue Montag keine Analyse entwickeln, die in den Kämpfen der Arbeiter selber ein Moment des Kommunismus auszumachen sucht.


Fußnoten:

[1] SoZ-Magazin, Nr. 7, 12. Jg., Ostern 1997, S. 4-9 (Themenschwerpunkt: »Globalisierung - epochaler Wandel oder kapitalistisches Tagesgeschäft«).

[2] Sie beziehen sich auf zwei Artikel von John Holloway: Wildcat-Zirkular Nr. 21: Capital moves und Nr. 28/29: Globales Kapital und Nationalstaat. Unsere Kritik daran haben wir in Nr. 39 veröffentlicht: Offener Brief an John Holloway.

[3] Siehe dazu die treffliche Kritik Die Politik des neuesten Trends in Wildcat-Zirkular Nr. 38. Zugespitzt ließe sich mit diesem Text die These aufstellen, daß der Blaue Montag Vorstellungen des SPD-Beraters Beck (»Risikogesellschaft«) vertritt - obwohl wir sicher sind, daß sie das nicht wollen.

[4] Zur Kritik an Hirschs »nationalem Wettbewerbsstaat« siehe Werner Bonefeld, Postfordismus, Globalisierung und die Zukunft der Demokratie und John Holloway, Kommentar zu Joachim Hirsch, in Wildcat-Zirkular Nr. 39.

[5] Naturrecht; Grundbegriff von Morallehren sowie Staats- und Rechtstheorien, die von einer natürlichen bzw. einer göttlichen Seinsordnung des Menschen ausgehen und daraus verbindliche Normen für das Zusammenleben der Menschen, für das sittliche Verhalten oder für die Gestaltung der politisch-rechtlichen Ordnung ableiten. Zu unterscheiden sind a) antike Naturrechtslehren, b) das christliche Natur- oder Gottesrecht und c) die Naturrechtslehre der Aufklärung (Locke, Rousseau usw.); im 19. und 20. Jahrhundert setzt sich die Theorie durch, die im Naturrecht ein überzeitliches und ideologiefreies Idealrecht sieht. Quelle: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie; Hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr; Reinbek 1972.

[6] So wie sie sich aufs »Naturrecht« berufen, ohne sich klar zu machen, daß dieses schon immer einen Ausgleich zwischen Herrschenden und Beherrschten schaffen sollte: »Die Sicherung der von Hunger bedrohten Existenz galt seit jeher als ein naturrechtlich begründeter Anspruch. Ebenso war es eine der ältesten Legitimationsquellen von Herrschaft überhaupt.« Gailus/Volkmann: Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770 - 1990. Opladen 1994, S. 10. Das Buch versammelt die Beiträge zu einer Tagung an der FU Berlin im März 1991 zu »Nahrungsmangel, Hunger und Protest in Deutschland 1750 - 1950«.

[7] Siehe Thesen zu Sozialstaat und Mindesteinkommen in Wildcat-Zirkular Nr. 6 S. 13 ff. »Das Entscheidende bei dieser staatlichen Form der Absicherung war, daß sie einen gesellschaftlichen Konsens, d.h. eine allgemeine Vorstellung von Gerechtigkeit ihrer Leistungen erzeugen konnte - den Versicherungsfetisch als Fortsetzung des Lohnfetischs im sozialen Staat.«, ebenda S. 14.
Die Thesen waren folgende:
»1. Der Sozialstaat ist nicht in die Krise geraten, weil er zu teuer geworden ist, sondern weil er seine Aufgabe, den allgemeinen Arbeitszwang aufrechtzuerhalten, nicht mehr erfüllen kann.
2. Der bisherige gesellschaftliche Konsens, der sich in dem System der Sozialversicherung ausdrückt, beruhte auf einer bestimmten historischen Klassensituation und einem dementsprechenden Arbeiterverhalten. Dieses ist seit den 70er Jahren dauerhaft in die Krise geraten.
3. Die Vorschläge zu einem Mindesteinkommen/Bürgergeld sind Versuche, die Absicherung des Arbeitszwangs angesichts veränderter Klassenverhältnisse wieder zu festigen.
4. Von einer revolutionären Perspektive aus kann es weder darum gehen, das alte System der Sozialversicherungen zu verteidigen, noch darum, sich an der Formulierung neuer staatlicher Sicherungskonzepte zu beteiligen.«, ebenda S. 13.

[8] Das ist im übrigen ein sehr schwieriges Problem, wie man den keynesianischen Versuch, die Kämpfe der Arbeiterklasse als Motor der Entwicklung ins System einzubauen, begrifflich fassen kann. Siehe dazu Wildcat-Zirkular Nr. 24: Ist der Kapitalismus eine Marktwirtschaft?

[9] Die Bezugnahme der radikalen Linken auf Versatzstücke einer Theorie der »moralischen Ökonomie« verfolgt uns seit den letzten Heften der Zeitschrift Autonomie/Neue Folge. Da er im Papier des Blauen Montag wieder auftaucht und als Erklärung herangezogen wird, haben wir an dieser Stelle etwas weiter ausgeholt und stellen die geschichtswissenschaftliche Debatte um diesen Begriff etwas genauer dar.

[10] Zitiert nach John Bohstedt Moralische Ökonomie und historischer Kontext; in: Der Kampf um das tägliche Brot, a.a.O. S. 41.

[11] Siehe zu dieser Aufzählung Fußnote 23!

[12] Thompsons 1963 veröffentlichtes Hauptwerk The Making ... erschien erst 1987 auf Deutsch! Sein berühmter Aufsatz von 1971 The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century war bereits Ende der 70er Jahre in zwei verschiedenen Übersetzungen auf Deutsch erschienen: Die 'sittliche Ökonomie' der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: D. Puls (Hrsg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt 1979; und: E. P. Thompson: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1980 - und hatte in Hamburg begeisterte Interpretatoren gefunden: Die »moralische Ökonomie« wurde v.a. von der Hamburger Gruppe der Autonomie Neue Folge als Vorwegnahme sozialistischer Vergesellschaftung hochstilisiert. In seinem 1991 erschienen Buch Customs in Common rückte Thompson deutlich von solchen Interpretationen ab (The Moral Economy Reviewed; ebenda S. 259-352). Er weist die Übertragung des Begriffs auf beliebig viele andere Regionen, Zeiten und Konfliktkonstellationen ausdrücklich zurück. Hiermit müßte sich der Blaue Montag doch zumindest auseinandersetzen, wenn er sich »bewußt« auf Thompson bezieht und dann genau diese Übertragung vornimmt! Der Blaue Montag bezieht sich auf den Aufsatz von 1971.

[13] »Hinter dem einfachen Wort 'Aufruhr' kann sich eine Auffassung von der Geschichte des einfachen Volkes verbergen, die man als 'spasmodisch' bezeichen kann. Ihr zufolge läßt sich das gemeine Volk vor der Französischen Revolution kaum als historisches Subjekt betrachten. Vor dieser Zeit drängt es nur gelegentlich und spasmodisch, in Phasen plötzlicher sozialer Unruhe, auf die historische Bühne, doch sind diese Einbrüche eher zwanghaft als bewußt oder vom Volk selbst ausgelöst: Sie sind nur einfache Reflexe auf ökonomische Stimuli.« - »Ich habe versucht, nicht einen unfreiwilligen Spasmus, sondern ein Verhaltensmuster zu beschreiben.« Moralische Ökonomie der englischen Unterschichten; S. 67, 124.

[14] Ebenda, S. 69. Der Satz von Danilo Montaldi wird zitiert im Artikel Renaissance des Operaismus? in der Wildcat Nr. 64/65, März 1995 S. 103: »(...) fast immer wird in der Analyse, in der Interpretation der 'zurückgebliebenen' Lebensweisen versucht, die Fäden abzuschneiden, die diese Erscheinungen mit dem gegenwärtigen System verbinden, das sie doch bestimmt. Diese Haltung leistet einem gewissen kulturellen Reformismus Vorschub (...) die Chronik der heutigen Sitten und Gebräuche der Abkömmlinge der Ligurier, die sich vor 400 Jahren in Sardinien ansiedelten, ist interessanter als die Situation in der Produktionsanlage bei FIAT; der Dialekt der Gevatterinen ist sicherlich schöner als das nicht zufällige Schweigen der Arbeiter in den Basisorganisationen. Uns interessiert nicht die folkloristische Seite, in die diese Formen oft verfallen (...)«.

[15] Moralische Ökonomie ..., S. 127.

[16] Auch an diesem Punkt liegt der Blaue Montag voll im aktuellen main stream: Anscheinend haben gerade alle Verlage herausgefunden, daß Bücher, die schon im Titel Orientierung über Anstand, Moral und Sitte versprechen, zu Bestsellern werden. Und auch die Sozialwissenschaften entdecken die Ethik neu: »Hartnäckig hält sich das Vorurteil, daß moderne Gesellschaften durch das harmonische Einverständnis ihrer Bürger zusammengehalten werden« (H. Dubiel). »Unlösbare Probleme par excellence heißen heute Werte« (Luhmann).

[17] Richard Greeman, Brief an alle Freunde der Zapatisten oder »Gefährliche Abkürzungen«.

[18] Siehe z.B. M. Gailus und Th. Lindenberger: Zwanzig Jahre »moralische Ökonomie«; in: Geschichte und Gesellschaft Nr. 20, 1994; S. 472.

[19] Bohstedt, a.a.O.

[20] Ebenda.

[21] Ebenda, S. 32.

[22] Ebenda, S. 36.

[23] Ebenda, S. 37.

[24] Ebenda, S. 41.

[25] Ebenda, S. 43.

[26] »Wir laufen Gefahr, daß wir die Bergleute des Forest of Dean, die neuen Weber von Lancashire und Mailsworth und die Frauen aus den Industriegebieten des West Riding, die Seeleute und die Schneider, die Zinnbergarbeiter und die 'Sünder', die Wesley bewarfen, im selben Konzept einer defensiven 'Tradition' und Obrigkeitsgläubigkeit einfangen.« ebenda, S. 50.

[27] »Statt Hungerunruhen als Ausdruck einer älteren »moralischen Ökonomie« aufzufassen, die gegen kapitalistische Innovationen verteidigt wurde, erscheint es mir erfolgversprechender, dynamischere Begriffe von Gemeinde zu entwickeln, um zu erkennen, daß Unruhen daran mitwirkten, intensive Gemeindebeziehungen zu schaffen und auch, sie zu wandeln.« ebenda, S. 45.

[28] Memories of Class; in vieler Hinsicht übrigens trotzdem ein lesenswertes Buch, weil er z.B. sehr genau die historische »Ökonomisierung« des Klassenkampfes herausarbeitet: Der Kampf der Ausgebeuteten ist immer Revolte gegen die Kontrolle ihrer Körper durch einen anderen; aber die Gewerkschaften machen daraus einen Lohnkampf um ein paar Pfennige.

[29] Martin Rheinländer: Belagerung von Maastricht, 1999 Nr. 2/96, S. 9.

[30] Freud läßt grüßen! Im Text steht »Gradwanderung«, ein Wort, das es nicht gibt und das vielleicht bedeuten könnte: »graduelle Wanderung«, eine Fehlleistung, die sich psychoanalytisch nur so interpretieren ließe: sie wissen schon, daß sie mit ihrem Konzept »der Verteidigung von Sozialstaatsleistungen und einer gleichzeitigen Überwindung der ... Staatsfixierung« in den reformistischen Brunnen fallen. Weder der ak noch die SoZ haben es korrigiert!

[31] Im oben bereits zitierten Aufsatz von Gailus/Lindenberger findet sich ein interessanter Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang von »moral economy« und Abwehrkämpfen: »John Rule ... warf mit seinem Beitrag 'Industrial Disputes, Wage Bargaining and the Moral Economy' die Frage nach der Übertragbarkeit des 'moral economy'-Ansatzes auf andere, nicht auf Konsumgüter bezogene Märkte auf... Gerade bei defensiven Arbeitskämpfen bedienten sich Gesellen gegenüber ihren Meistern einer an Herkommen und gegenseitige Verpflichtungen appelliernden Rhetorik des 'ganzen' Gewerbes und versuchten, vertikale, moralischen Druck aufbauende Allianzen herzustellen.« a.a.O., S. 473.


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