Wildcat-Zirkular Nr. 42/43 - März 1998 - S. 40-47 [z42alger.htm]


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Zum Bürgerkrieg in Algerien

Mit dem Bürgerkrieg in Algerien scheinen die meisten Linken - wie mit so vielen Kriegen der letzten Jahre - wenig anfangen zu können: Ein Krieg zwischen einem Militärregime und den »Islamisten«, in dem man beim besten Willen keine Partei ergreifen kann. Die ideologische Kritik »des Islam« (wie z.B. in der Bahamas Nr. 25) ist nur das Spiegelbild der Begeisterung für die nationalen Befreiungsbewegungen in Nicaragua, Kurdistan oder Chiapas, die eher den in linker Rhetorik geschulten Organisationen galt und gilt als den ProletarierInnen, die früher oder später gegen diese Organisationen kämpften.

Der Mangel an potentiellen Verbündeten führt bei vielen zu Desinteresse und bei einigen sogar dazu, sich angesichts der scheinbaren »Rückkehr zur Barbarei« auf die Seite des Staats zu schlagen und zur Verteidigung der »Menschenrechte« auf militärische oder zivile Intervention der »Weltgemeinschaft« in Form der UNO oder NATO zu hoffen.

Was uns interessiert, nämlich der Zusammenhang zwischen den Massakern, und dem Klassenkampf in Algerien, ist uns bisher nicht sehr klar. Wir haben einige Texte zusammengetragen, die zumindest einige der materiellen Hintergründe des Konflikts erhellen:

Algeria-watch, ein Menschenrechtsverein in Berlin, glaubt, daß der Krieg im wesentlichen aus staatlichem Kalkül geführt wird (der Geheimdienst hat überall seine schmutzigen Finger drin). Die Gruppe will die Verbrechen in Algerien dokumentieren und die Verantwortung für die Massaker und eine mögliche Verstrickung staatlicher Stellen darin öffentlich machen. Als eigentlichen Hintergrund sehen sie wirtschaftliche Interessen bis hin zu einem Machtkampf zwischen französischem und US-amerikanischem Kapital um Stücke aus der großen Torte vor allem im Erdölbereich (der algerische staatliche Ölkonzern Sonatrach soll der zehntgrößte der Welt sein). Über den IWF zwingen sie den algerischen Staat, die verstaatlichten Betriebe und Ländereien bis Ende des Jahres zu privatisieren.

In »Ein Viertel unter dem Terror« berichtet ein Bewohner eines Vorortes von Algier über die Stimmung in seiner Nachbarschaft, den Aufbruch 1988 [1], den Übergang der Revolte in eine islamisch orientierte Bewegung und das Klima des Terrors jetzt. In »Irgendwo inmitten all der Lügen liegt die Wahrheit« versucht algeria-watch zu zeigen, daß sich die Massaker u.a. gegen die »gemäßigte« islamische Strömung richten, und daß die wachsende Militarisierung der Gesellschaft im Interesse des Staates, bzw. einzelner Machtblöcke innerhalb des Staates sei.

»Der Krieg um den Boden« und »Alle töten, um Raum zu haben« sind Artikel aus der Libération. Sie beleuchten den Zusammenhang der Massaker mit der Privatisierung des Grund und Bodens.

Diese Erklärungsansätze sprechen jeweils interessante und wichtige Aspekte an. Über die Kämpfe der letzten Jahre, seien es Streiks, Landbesetzungen oder Frauenbewegung, sind jedoch meistens nur Bruchstücke und Andeutungen zu erfahren. Dabei wäre genau das der Punkt, der deutlich machen könnte, warum sich viele Menschen dem Islam zuwenden und wer ein Interesse am Terror hat.

Ein Viertel unter dem Terror

»Früher steckten wir im Elend. Heute ist es immer noch so, aber außerdem haben wir noch das Blut und den alltäglichen Terror, der uns nicht verlassen will.« Der ältere Mann erzählt detailliert, wie das Arme-Leute-Viertel, in dem er aufgewachsen ist und immer noch lebt, nach und nach in einem unbeschreiblichen Terror versank. Heute sehnt er sich nach den belebten Straßen, »wo vier oder fünf Personen zusammenstehen und stundenlang über alles lästern«, vom Staatspräsidenten bis zum Händler an der Ecke, der immer versuchte, ein Paar Dinar mehr zu verlangen als die anderen. Abgesehen von den unvermeidlichen Streitigkeiten unter den Kindern und gelegentlichen kleinen Nachbarschaftsproblemen ging das Leben so dahin. Das heißt, schlecht. Aber ohne Angst. Hinter den brüchigen Mauern verbargen sich die Leiden und die Wut, die mit der unerträglichen Enge und der Unmöglichkeit verbunden waren, ein anständiges Leben zu führen. Die jungen Menschen, Mädchen wie Jungen, waren in einer Sackgasse. Das Leben bot keinerlei Versprechen. Das Jenseits war vielleicht sicherer. Wie viele andere begann das Viertel mit den »Ereignissen« von Oktober 1988 aus der Anonymität zu treten. Es gab nicht viel zu zerstören oder in Brand zu setzen, aber man tat es mit dem Spott kleiner Strolche, die den Großen einen Streich spielen. Gewiß waren die darauffolgenden Tage ernüchternd, da man zum Einkaufen drei Kilometer hinunterlaufen mußte: »Sie« hatten die Filiale der Galeries in Brand gesetzt.

Die Sehnsüchte des Oktober

Der Oktober 88 hatte die Sehnsucht genährt, daß die Veränderung von den Arme-Leute-Vierteln ausgehen könnte. Kein Jugendlicher des Viertels starb während der Revolten, aber mehrere wurden festgenommen und verhört. Dann hat die Wut in der FIS ein Ventil gefunden und das Viertel fing an zu tanzen, sich zu bewegen und sich mit Lärm und Energie zu füllen. Die Jugend begann zu glauben, daß ein gerechter Staat kein Traum sei und sie trugen in Massen den Kamis und den Bart. Sie fingen wieder an, in die Moscheen zu gehen und die Lektüre der Schriften zu erlernen. Es kam zu den ersten Konflikten in der Moschee, in der die betagten Aktivisten der »FM« (frères musulmans) bald die Kontrolle verloren. Die ungehaltenen jungen Menschen, die den Führern der FIS einen rasanten Rhythmus von Forderungen auferlegten, konnten sich nicht mit »Etappen« begnügen, wie sie die besonnenen FM vorschlugen. »Gerechtigkeit, und zwar schnell, der Islam ist die Lösung!« Die FM hielten monatelang dagegen. Aber schließlich erlangten die jungen Leute der FIS die Kontrolle über die Moschee. Erster Sieg und erster Drang zur Veränderung. Die Armen und Bedürftigen wurden gezählt und islamistische junge Frauen kümmerten sich darum, ihnen diskret und regelmäßig Proviantkörbe zukommen zu lassen. Medizinische Beratungen wurden organisiert. Der Staat, der in allem versagt hatte außer in der Repression, wurde auf dem Terrain durch einen außergewöhnlichen karitativen Aktivismus ersetzt. Die FIS siegte in den Kommunalwahlen von Juni 1990. Euphorie: Die Dinge würden sich endlich ändern. Aber sehr schnell stellte man fest, daß die FLN in den Kommunen nur Probleme und sehr wenige Mittel hinterlassen hatte. Wut und Frustration. Der Streik von Juni 1991 führte erneut zur Mobilisierung des Viertels. Sie gingen hinunter in die Innenstadt von Algier und verbrachten schlaflose Nächte auf den öffentlichen Plätzen. Am 4. Juni wurden die Plätze mit Gewalt geräumt. Die Stunde der Massenverhaftungen und Feuersalven hatte geschlagen. Viele junge Männer wurden in Lager verschleppt. Der Haß auf die Polizei, der für kurze Zeit verblaßt war, war mit einem Schlag wieder wach. Manche Jugendliche waren verschwunden. Das Untergrundleben begann. Aber die meisten blieben mobilisiert, um zu verhindern, daß die »Verräter« die Kontrolle über die FIS übernehmen. Schließlich beruhigten sich die Dinge etwas. Die Parlamentswahlen rückten näher. Die FIS zögerte, gab aber schließlich ihre Teilnahme bekannt. Im Viertel hat sie klar gesiegt. Als die Wahlzettel ausgezählt wurden, tönte es wie eine Litanei: »FIS, FIS, FIS ...«. So sehr, daß, als zum ersten Mal »FLN« zu hören war, alle in Lachen ausbrachen und klatschten. Die FIS hatte gewonnen. Das Viertel würde verlieren. »Chadli wird zurückgetreten«. Boudiaf wurde ans Steuer berufen. Hachani kam ins Gefängnis. Das Viertel war in Aufruhr. Wieder Razzien und Lager. Wenn möglich, verbrachten die jungen Leute die Nacht anderswo. Die Moscheen fingen Feuer und wurden zum Ausgangspunkt unerlaubter Demonstrationen. Man begann, das Prasseln von Kugeln kennenzulernen. Der erste Tote war ein Jugendlicher von 13 Jahren. Getötet von einem Querschläger. Andere Opfer folgten, in einem Todesspiel, in dem die Jugendlichen mit Sticheleien und Beschimpfungen die Sicherheitskräfte herausforderten. Die ersten Attentate. Die Moschee wurde den Alten überlassen. Es war die Zeit der Flugblätter. Chebouti, dem die Jugendlichen den Titel »General« verliehen, rief zum Jihad und forderte die Polizisten auf, unverzüglich die Uniform abzulegen. Die ersten bewaffneten Gruppen entstanden. Die Repression verschärfte sich. Polizisten wurden erschlagen. »Denunzianten« auch.

Geschichten des Grauens

Im Viertel herrscht inzwischen ein echter Bürgerkrieg. Viele junge Leute sind Flics und zu Feinden ihrer früheren Freunde geworden, mit denen sie in Schule und Moschee gingen und in derselben Mannschaft Fußball spielten. Die Angst hat sich eingenistet. Das ganze Viertel wird von den Polizisten als terroristisch eingestuft. Und jedesmal, wenn sie ins Viertel einfallen, schleppen sie junge Männer ab. Die, die zurückkehren, erzählen von dem Grauen: Hunger, Folter, »Chiffon«, Eisenstange ... Manche schwören, daß sie sich in Zukunft lieber das Leben nehmen, als sich schnappen zu lassen. Unter der Folter haben junge Menschen, die nichts getan haben, gestanden, den bewaffneten Gruppen anzugehören und irgendwelche Leute denunziert. Nur damit es aufhört. Jedesmal, wenn ein Jugendlicher verschleppt wird, wird den anderen im Viertel schlecht: Welche Namen wird er ausspucken, wenn er auspackt unter dem schlagkräftigen Nachdruck der Polizisten, die zur Routine verwandelt haben, was der Staat nie zugegeben hat?

Die Liste der Gesuchten wurde länger und ihre Wohnungen wurden regelmäßig und gewaltsam aufgesucht. Kollektivhaftung. Die ganze Familie ist terroristisch, weil der Sohn ein Terrorist ist. Das ganze Viertel ist terroristisch, weil es Terrorismus gibt. So geht es seit drei Jahren. Die Alten ducken sich noch mehr. Die jungen Männer, von denen sich die meisten nicht den bewaffneten Gruppen angeschlossen haben, versuchen, den Polizisten nicht in die Hände zu fallen. Wer die Möglichkeit hat, schläft bei Verwandten, die woanders wohnen. Am Tage kommen sie ins Viertel zurück, damit die »Verräter« sehen, daß sie noch da sind und sich nicht den »anderen« angeschlossen haben. In einigen Familien gibt es keine jungen Männer mehr. Sie wurden vom Krieg hinweggerafft. Eine furchtbare Bilanz für ein armes Viertel, das eines Tages die Sehnsucht gehegt hatte, daß ein Staat der Gerechtigkeit nicht zum Reich der Träume gehört. Viel zu viele Tote in diesem Bürgerkrieg, unter der Jugend eines Viertels, in dem man nur die Wahl hatte, entweder kleine Jobs als Verkäufer von Kleinkram zu machen oder Flic zu werden. Die Überlebenden sagen fatalistisch, daß sie einfach nur warten, bis sie an der Reihe sind. Und um das fürchterliche Grauen zu bekämpfen, das bei jedem Alarm Besitz von ihnen ergreift, sagen sie sich, daß der Zeitpunkt des Todes von Gott bestimmt wird und es nichts nützt, ihn verschieben zu wollen. Es sind die letzen »Hoffnungszeichen« einer Arme-Leute-Jugend, die geglaubt hatte, sie könnte die bestehende Ordnung stürzen.

Hamid Larbi (algeria-watch, Infomappe 2)

 

Irgendwo inmitten all der Lügen liegt die Wahrheit

Die Massaker haben sich in den Westen verlagert, in die Region um Oran, die bis dahin verschont geblieben war. Diese Verlagerung wirft Fragen auf, die wir hier nur andeuten, ohne darauf Antworten geben zu können.

Nach den Massakern Ende August und September 1997 an den Toren Algiers war sowohl eine groß angelegte militärische Operation der Armee, als auch eine Medienoffensive gestartet worden, die zeigen sollte, wie effizient die Armee gegen den »Terrorismus« vorgeht und angeblich die Region von »terroristischen Elementen« säubert. Es wird vermutet, die Armee habe sich von den Verdächtigungen, in die Massaker nicht interveniert zu haben bzw. sogar verstrickt zu sein, rein waschen wollen und deswegen eine zweiwöchige Schlacht gegen die GIA inszeniert (siehe dazu den Artikel »Algerische Geheimdienste in die Attentate in Paris verwickelt« [2]). Es wurde allerdings schon damals gemeldet, daß die nicht getöteten »Terroristen« gen Westen geflohen seien, ausgerechnet dorthin, wo sich die AIS (bewaffneter Arm der FIS) befindet und die Massaker jetzt wüten.

Die jetzigen Massaker finden in Regionen statt, in denen die Bevölkerung keine Milizen gebildet hat. Nach den Massakern erfahren wir, daß z.B. in der Gemeinde Ramka mehr als 200 Bewohner bewaffnet wurden (AFP, 06.01.98).

Diese armen Bergregionen haben in den Kommunalwahlen 1990 und den Parlamentswahlen 1991 massiv für die jetzt verbotene FIS gestimmt. Viele Familien haben Angehörige, die sich der AIS angeschlossen haben. Es berichten Angehörige im Ausland, daß vorzugsweise Familien dieser Kämpfer niedergemetzelt werden. Oder soll die AIS selbst vernichtet werden, indem ihr der Rückhalt in der Bevölkerung entzogen wird und sie verfolgt wird?

Die algerischen Medien und die ausländischen Medienagenturen betonen, daß die Massaker ausgerechnet dort stattfinden, wo sich die islamistischen Maquis [bewaffneter Untergrund] befinden (auch der GIA). Verwunderlich nur, daß nicht früher Feldzüge gegen die Zivilbevölkerung unternommen wurden. Um zu erklären, warum dies nicht der Fall war, wird auf einen Brief hingewiesen, den ein getöteter »Terrorist« bei sich getragen haben soll, in dem den Gruppen im Westen empfohlen wurde, ihre Angriffe zu verstärken, um die Gruppen im Zentrum zu entlasten (Le Matin, 01.01.98). Darüber hinaus soll ein Bewohner Algiers, der vor kurzem aus dem Westen des Landes zurückkam, wiedergegeben haben, daß seit etwa zwei Monaten Flugblätter von der GIA im Umlauf sind, in denen stünde: »Wir werden bald hier sein. Wir haben in Algier gefrühstückt. Wir werden in Oran zu Abend essen. Gezeichnet: GIA« (Reuters, 03.01.98).

Weiter wird erklärt, die Angreifer seien die GIA (Islamische Bewaffnete Gruppen). Sie würden sich an der Bevölkerung vergreifen, weil es ihr letztes Aufbäumen sei, bzw. gegen die AIS vorgehen, weil diese seit Oktober 1997 einen Waffenstillstand einhält.

Wie schon während der Massaker im Zentrum des Landes beobachtet wurde, treten die Angreifer oft in afghanischer Kleidung auf, mit langen Bärten und einfachen Waffen (Säbel, Äxte, Messer). Sie gehen methodisch vor und wissen scheinbar genau, welche Familien dezimiert werden sollen. Bei den letzten Vorfällen tauchten sie mit Fernsprechgeräten auf, über die sie ausgerufen haben sollen: »Hier sind wir bald fertig.«

Obwohl am darauffolgenden Tag das Militär mit großem Aufwand die Gegend durchkämmte und bombardierte, konnten die Angreifer in der nächsten Nacht ihr Unheil erneut treiben.

algeria-watch (Infomappe 3) - Kohlfurter Str. 46, 10999 Berlin

Der Krieg um den Boden

Vor zwei Jahren begannen die Morde in der Mitidja.

Viele Menschen fragen nach einem Zusammenhang zwischen der Ankündigung der Privatisierung von bäuerlichen Ländereien 1995 und den ersten Massakern in den isolierten Weilern in der Mitidja-Ebene. Die Presse bezweifelt, daß dieses Zusammenfallen zufällig sei, klagt aber den »Terrorismus« an, »die Ebene zum Zweck der Privatisierung von ihren Bewohnern leermachen« zu wollen. (...) Louisa Hanoune, Chefin einer kleinen trotzkistischen Partei ist davon »überzeugt, daß es eine Verbindung zwischen den Massakern (in der Mitidja) und der Privatisierung der bäuerlichen Ländereien gibt«. Manche gehen weiter und sehen im Massaker ganzer Familien eine endgültige Methode, um sicherzustellen, daß niemand eines Tages das »ewige und übertragbare« Nutzungsrecht auf ein Stück Land einfordern könnte, das 1986 zum Vorteil der dort arbeitenden Bauern angeordnet worden war..

Wenn es in Algerien ein Tabu gibt, so ist es das Privateigentum am Boden. Seit der Unabhängigkeit, als fast der gesamte Grundbesitz nationalisiert wurde, gilt dieser Frage ein hoher politischer Einsatz. Im Oktober 1990 führte bereits die Veröffentlichung einer Liste von »150 ungebührlichen Besetzungen« durch den »Reform«-Premierminister Mouloud Hamrouche zu großem Gezeter. Diese Liste war ein Who is who der Nomenklatura und legt offen, daß diese Güter von Leuten an sich gerissen worden waren, die nichts mit den algerischen Bauern zu tun hatten, die seit 1986 im »ewigen und übertragbaren Besitz« der Ländereien waren, die sie bearbeiteten.

Als im September 1995 ein Gesetzesprojekt angekündigt wurde, das zur Privatisierung bäuerlichen Grund und Bodens führen sollte, mußte das folglich zu Wirbel führen. Insbesondere im Innern der »revolutionären Familie«, dem sozialen Fundament des Regimes, der von all jenen, die am Unabhängigkeitskrieg (unmittelbar oder aus der Ferne) teilgenommen haben, und ihren Familienangehörigen gebildet wird. Der Druck ihrer einflußreichsten Mitglieder hat den Staatschef wirklich gezwungen, das Projekt auf Eis zu legen, das schließlich in der Nationalversammlung bei ihrer Frühjahrssitzung landen sollte.

Auf den ersten Blick kann die Größe des zum Verkauf versprochenen nationalisierten Grundbesitzes zwar akzeptabel erscheinen: 2,8 Mio. Hektar von 8 Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche - und 42 Mio. Hektar, die zum Landwirtschaftssektor gehören.

Aber das »zu privatisierende Land« gehört fast ausschließlich zur sehr fruchtbaren Mitidscha-Ebene, die heute wie unter der Kolonialherrschaft als Kornspeicher Algeriens gilt. Daß diese fruchtbaren Ländereien urbanisiert werden sollen, in einem Land, das den wesentlichen Teil seiner Nahrungsmittel importiert, läßt das zukünftige Gesetz bereits nach Skandal riechen. Regierungschef Ahmed Ouyahia hat die Sache noch durch seine Erklärung verschlimmert, man würde mit Priorität »an die Mudschaheddin (Kämpfer im Befreiungskampf) und ihre Familienangehörigen« verkaufen - anders gesagt, an die Privilegierten des Systems.

Der Premierminister hatte behauptet, die Bauern hätten die Option, ihre Ländereien »für eine Zeitspanne von dreißig Jahren, die danach erneuert werden kann« zu pachten, und daß die Pächter genauso wie die Käufer »gehalten (seien), die landwirtschaftliche Bestimmung« der Ländereien aufrechtzuerhalten. Aber die Geschwindigkeit, mit der Bauwerke rund um bestimmte Gemeinden wie Bab Ezes herum hochgezogen werden, wächst.

Ein Prozeß Anfang 1997 hat dazu geführt, daß neun Honoratioren unter gerichtliche Kontrolle gestellt wurden: Funktionäre der Ämter für Landwirtschaft und für Städtebau, und vor allem, Vorsitzende und Mitglieder der »Exekutivdelegationen« (DEC) - die von der Macht bestellten Gemeindeverwaltungen, welche die abgesetzten FIS-Bürgermeister bis zur Kommunalwahl am 23. Oktober letzten Jahres ersetzen sollten. In der Gemeinde Borj el-Kiffan zum Beispiel hatten die Verantwortlichen der DEC in betrügerischer Weise echte-falsche Baugenehmigungen erteilt. »Trotz dieses Gerichtsverfahrens«, kommentierte die Tageszeitung El Watan am 17. Oktober, »gehen die Landübertragungen auf Kosten des Ackerlands weiter [...] und bereichern diesen oder jenen, wobei sie den landwirtschaftlichen Gürtel um den Großraum Algier fast vernichten.« Einige Zahlen geben ein Bild von der Beschleunigung beim unerlaubten und anarchischen Bau von Villen. Während in 22 Jahren (1974-1996) 150 000 Hektar bestellbares Land erschlossen wurden, übergab man in nur vier Jahren 60 000 an die Immobilienspekulation (1988-1992) und weitere 14 000 Hektar in der Periode, die mit der Einsetzung der DEC zusammenfällt (1992-1995).

Die Spekulation ist so zügellos, daß die Regierung im Juni 1996 eine interministerielle Kommission ernennen mußte, um »den Schleier zu lüften, der über diesen Praktiken liegt«. Angeklagte Nummer eins: »die Grundstücksmafia«. Diese in Algerien gebräuchliche Beschönigung bezeichnet jedermann und somit niemanden. Das Gerücht bezieht sich darauf, daß der Staat riesige Immobilienprojekte realisiert und zielt auf Grundbesitzer, der zivilen und militärischen Nomenklatura nahestehende Investoren, aber auch auf die Chefs der Milizen, die zu Kriegsherren geworden sind.

José Garçon (Libération 2.1.98)

 

»Alle töten, um Raum zu haben«

Als technischer Angestellter in einer Gemeindeverwaltung, die an El Harrach, im östlichen Banlieue von Algier, angrenzt, hat Rachid D. in den letzten Jahren den Osten der Mitidja durchfurcht. Er hat die anarchische Besiedlung dieser alten Ackerbaugebiete gesehen: Villen der Honoratioren oder von Lumpenproletariern aus Algier schnell errichtete Barackenanlagen. »Die katastrophale Verwaltung der Bevölkerung durch den Staat, sowie die Korruption der Abgeordneten und der Verwalter erklären die aktuelle Krise« sagt er.

Ihm zufolge fließt Blut auf dem Boden der Mitidja, um sie von ihren Bewohnern zu entleeren. »Das ist ein territorialer Krieg geworden, wo alle töten, um Raum zu haben: die lokale Mafia, die bewaffneten islamischen Gruppen (GIA), die offiziellen Honoratioren, oder die privaten Honoratioren, welche letztere benutzen.« Wie die Mehrheit der Bevölkerung der Mitidja hat sich die Familie von Rachid, die aus der »Kleinen Kabylei« stammt, zur Zeit der Landflucht nach der Unabhängigkeit 1962 in der Gegend niedergelassen. Im Rathaus, wo er 20 Jahre lang gearbeitet hat, verlangte man, die Herkunft der in der Gemeinde lebenden Familien zu erfassen. (...) 1987 beschließt die Regierung den Umzug der Elendsviertel von Algier. »Der Staat hat den Armen anderswo kostenlos Land angeboten und Einkaufsgutscheine für das Material.« Die Leute haben sich geweigert zu gehen. Eines Morgens im September 1989 sind Militärs in den Slum von Oued el-Harrach eingerückt. »Sie haben unsere Erfassung benutzt und jede Familie wurde gemäß ihrer Herkunft in eine Region zurückgetrieben. Man hat sie mit Gewalt nach Sor el-Ghozlane, Boussada und Ain Bessem, 300 bis 400 km südlich von Algier gebracht, wo man ihnen Unterkünfte versprochen hat... Es gab aber nur Zelte. Eine soziale Integration existiert nicht in Algerien«, sagt Rachid. Eingesessene Algierer Familien wurden (...) ins Hinterland der Hauptstadt vertrieben. Und die neuen Wohnungen sind lange leer geblieben. »Viele Slum-Bewohner glaubten, daß sie eine Sozialwohnung bekommen würden, dann, als sie gebaut wurden, hat der Staat den Status der Wohnanlage geändert, so daß sie nur noch für wohlhabende Familien erschwinglich war.«

Rachid hat gesehen, wie sich Kinder aus den Bidonvilles den Islamisten zuwandten. »In der Mitidja sind sie Zuschauer einer allgemeinen Korruption: die Militärs, die mit ein wenig Land und Traktoren als Abfindung in Pension geschickt werden; die Ex-Direktoren des Staatsbetriebe, die in Sidi R'zine beispielsweise Villen gebaut haben, dann in ihrer Garage dank ihres früheren Arbeitgebers, dem Staat, Import-Export-Geschäfte machen.« Ihr Parasitentum, schätzt Rachid, bringt das politische Spiel durcheinander. »Sie bezahlen Steuern an den Staat und an die GIA.«

Nidam Abdi (Libération 2.1.98)


Fußnoten:

[1] Zur Revolte 1988 siehe auch: »Die Revolte in Algerien - Intifada im Sozialismus?« in der Wildcat 46 (Winter 88/89) und »Der Fall von Algier?« in der Wildcat 58 (Februar 92).

[2] Dieser Artikel ist erhältlich bei der unten angegebenen Adresse von algeria-watch.


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