Wildcat-Zirkular Nr. 46/47 - Februar 1999 - S. 34-39 [z46exis3.htm]


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Der Linksreformismus wittert Morgenluft

Zu einem weiteren Papier der Gruppe »Blauer Montag«

Seit Karl Heinz Roth 1991 die Debatte über neue »Proletarität« angestoßen hat, gibt es auch unter Linken wieder ein verstärktes Interesse an den realen Klassenverhältnissen im Land. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit und die Verschärfung der Ausbeutung in den Betrieben lassen die Klassengegensätze deutlicher hervortreten. Diese sinnliche Wahrnehmung des Klassencharakters der Gesellschaft fällt leider zusammen mit einer zunehmenden theoretischen Unklarheit und einem beängstigenden Verzicht auf Kapitalismuskritik. Die Reste der antikapitalistischen Linken sind in zwei Lager gespalten, die sich wechselseitig auf ihre Dummheiten beziehen, statt sie zu überwinden: die radikale Wert- und Arbeitskritik wie von Krisis oder ISF will vom Klassenkampf nichts wissen, weil er zu sehr an Arbeit und Wert gebunden sei (Lohnkampf, Gewerkschaften usw.) - die am Klassencharakter orientierte Linke wie Arranca oder Blauer Montag will von der radikalen Arbeitskritik nichts wissen, weil sich damit nicht in Klassenkonflikte eingreifen ließe. Die von den einen vorgetragene Wertkritik ist so dünn und unhistorisch, wie es die von den anderen gepflegten Vorstellungen von Klassenkampf sind. Beide Seiten bestätigen sich damit nur in ihrer wechselseitigen Kritik, statt in der Kritik des Kapitalismus ein Stück weiterzukommen.

Im Rahmen der Diskussion über das Existenzgeld hat die Gruppe »Blauer Montag« ein Papier vorgelegt, das ein weiteres Mal vorführt, wie der Bezug auf die Klassenverhältnisse scheinbar zwangsläufig zu reformistischen Illusionen führt. Statt die mit dem Erstarken der Sozialdemokratie in Europa geweckten Hoffnungen einer staatstragenden Linken zu kritisieren, wird deren Politik durch theoretische Umdeutungen die Absolution erteilt. Mit dem Papier »Gegen die Hierarchisierung des Elends« will der »Blaue Montag« die Spaltung in Beschäftigte und Erwerbslose überwinden [abgedruckt in ak 418/419; alle folgenden Zitate stammen aus diesem Text]. Richtig verstanden hätten nämlich die beiden Hauptforderungen Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung den gleichen antikapitalistischen Inhalt. Damit dieses Interpretationskunststück gelingt, muß mit Hilfe von Geschichtsklitterung eine »ursprüngliche« Bedeutung der Forderungen beschworen werden, die sie nie hatten.

Existenzgeld: Von der Aneignung zur Teilhabe

Den deutschen Verfechtern des Existenzgelds fehlt ein so genialer Theoretiker wie Toni Negri in Frankreich/Italien, dem der Brückenschlag von den reformistischen Tagesforderungen zur kommunistischen Gesellschaft mit ein paar Marxideen spielend gelingt. Trotzdem ist ihnen klar, daß sie sich nicht einfach den vorfindlichen Forderungen anschließen können. Sie müssen sie »theoretisieren«, ihnen den angeblich ursprünglich »kritischen Inhalt« wiedergeben, um sie für politische Menschen interessanter zu machen, als sie sind. Zu diesem Zweck kritisieren sie zunächst etwas umständlich den Begriff der »Prekarisierung« als zu schematische Trennung zwischen gesichert Beschäftigten und prekären/arbeitslosen Proletariern, gehen dann aber doch davon aus, daß die beiden Forderungen jeweils dem einen oder anderen Bereich zuzurechnen sind, daß also mithilfe einer entsprechenden Interpretation der Forderungen eine Brücke zwischen beiden Bereichen zu schlagen ist.

Als gemeinsamen eigentlichen Inhalt zaubern sie dann den »Kampf gegen die(se) Arbeit« hervor. Wie sie das machen, ist reine Geschichtsklitterei: der Trick besteht darin, bereits an der reformistischen Verdrehung der Kämpfe aus den siebziger Jahren anzusetzen, um diesen Verdrehungen dann das zu unterschieben, was die Kämpfe selber ausgemacht hatte. Demnach bedeutete die Existenzgeldforderung die Orientierung an der Parole »Wir nehmen uns, was wir brauchen!«. Die Parole stammt aus den 70er Jahren und hieß damals »Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen«. Solange sie sich in Hausbesetzungen, Fabrikkämpfen usw. tatsächlich ausdrückte, stand eine »Existenzgeldforderung« nicht auf der Tagesordnung und wäre als Gegensatz zur Praxis der Aneignung verstanden worden. Es ging nicht um Forderungen an irgendjemanden, sondern um die Selbsttätigkeit der Menschen, um ihre eigene Praxis der Selbstbefreiung durch einen unmittelbaren Bezug auf den vorhandenen Reichtum. Als Anfang der 80er Jahre radikale Gruppen wie das Jobber- und Erwerbslosenzentrum in Hamburg versuchten, in der weitgehend von sozialarbeiterischen Gruppen geprägten »Arbeitslosenbewegung« mitzumischen, wollten sie sich mit der Forderung nach einem Existenzgeld von der gewerkschaftlichen Parole »Arbeit für Alle« abgrenzen. Aber sie hatten sich bereits auf das politische Spiel der Bündniskongresse und Stellvertreterpolitik eingelassen. Der gute Wille, eine Alternative zum kapitalistischen Arbeitszwang aufzuzeigen, konnte sich so nur noch in einer alternativen Forderung an den Staat und einem Vorschlag zum Umbau des Sozialstaats ausdrücken. Ein paar exemplarische Vorzeigeaktionen (kostenloser Zoobesuch usw.) sollten Erinnerungen an militante Bewegung wecken, zielten aber schon mehr auf die Presse als auf die Mobilisierung im Proletariat.

Um die Gegensätzlichkeit von realer Aneignungsbewegung und Existenzgeldforderung runterzuspielen, wirft der »Blaue Montag« nun zwei Begriffe beliebig durcheinander: Aneignung von Reichtum und die christliche Phrase von der »Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum«. Ausgehend vom Gegensatz zwischen Beschäftigten und Unbeschäftigten wird dabei unterstellt, daß die Beschäftigten durch ihre Arbeit am Reichtum »teilhaben«, während die Arbeitslosen, Prekären oder Ausgegrenzten von dieser Teilhabe ausgeschlossen sind (damit wird dann endgültig der blödsinnige Gegensatz von »Arbeitsplatzbesitzern« und »Arbeitslosen« übernommen, den Blüm ins politische Vokabular eingeführt hat). Daher sei beim Existenzgeld »der Gedanke wesentlich, daß auch ohne den Zwang - oder die Möglichkeit - zur entfremdeten Arbeit eine Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum möglich sein soll«. Demnach eröffnet Arbeit die Möglichkeit zur Teilhabe am Reichtum. Der »Blaue Montag« reproduziert damit bedauerlicherweise exakt die bürgerliche und gewerkschaftliche Ideologie, die das fundamentale Klassenverhältnis vergessen machen soll, nämlich das Verhältnis der prinzipiellen Armut, der völligen Armut an den Mitteln der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums. Die historischen Notwendigkeiten der Reproduktion des Klassenverhältnisses (z.B. der Besitz eines Autos oder eines Videorekorders, der nix mit der Aneignung von Produktionsmitteln zu tun hat!) werden umgedeutet in »Teilhabe am Reichtum«. Völlig vergessen wird dabei, was Reichtum im Kapitalismus ist: nicht dieser oder jener Gebrauchswert, sondern die ungeheuren Dimensionen der gesellschaftlichen Produktivität. Im Kapitalismus wird diese Produktivität der Kapitalverwertung und Kapitalakkumulation untergeordnet, von der alles weitere, die Verteilung, die stoffliche Gestaltung der Produktion usw. abhängt. An dieser Akkumulation, an der Quelle und dem Zweck der Reichtumsproduktion haben die ProletarierInnen - ob beschäftigt oder unbeschäftigt - nicht »teil«. Sie hängt zwar einzig und allein von ihrer Arbeit ab, aber in der Arbeit gehören sie sich nicht selbst, sondern dem Kapital. Da, wo sie den Reichtum produzieren, erleben sie ihn als etwas Feindliches und sich selber als pure Mittel für einen anderen Zweck.

Exkurs zur Methode der Gedankenlosigkeit

Mit seiner Wiedergabe von bürgerlicher Ideologie fällt sich der Blaue Montag selbst in den Rücken. An anderer Stelle und im Titel des Textes will er der »Hierarchisierung des Elends« entgegentreten: »Verstärkt werden diese Fronten im Massenbewußtsein durch eine Hierarchisierung des Elends, worin leider Linke die größten Meister sind. Argumentationsmuster wie 'Euch geht's ja noch gut, ihr profitiert vom Elend der Armen und Entrechteten' reproduzieren bei den fest Beschäftigten nur das Bewußtsein vom Glück und Privileg: 'Warum soll ich noch kämpfen, wenn es anderen doch noch viel schlechter geht?'« Mit der Identifizierung des Lohns als »Teilhabe am Reichtum« tut der »Blaue Montag« genau das, was er den Linken vorwirft. Statt den Lohn als das bloßzustellen, was er ist, nämlich die Verkehrung der Aneignung fremder Arbeit durch das Kapital in einen gerechten Tausch zwischen Individuen, wird er indirekt zur »Teilhabe am Reichtum« durch Arbeit stilisiert. Das ist katholische Soziallehre pur! Plausibel wird diese Auffassung durch die dem bürgerlichen Bewußtsein ebenso geläufige Einschätzung, der Sozialstaat sei Ausdruck und Ergebnis eines »Deals« gewesen, als hätten sich zwei gleichberechtigte Partner auf die gemeinsame Aufteilung des Produkts und »wechselseitige Garantien« geeinigt.

Das alles wirkt in dem Text so interessant, weil er in gedankenloser Beliebigkeit zwischen kapitalismuskritischen Einsprengseln und reformistischer Naivität hin- und herspringt. Zum Beispiel so: »Nun wird niemand etwas gegen eine Verbesserung der gesetzlichen Regelungen haben, - es ist ja nicht alles reformistisches Teufelswerk, was das Leben besser macht.« Dann war doch der ganze Sozialstaat eigentlich eine feine Sache und nicht ausgemachtes »Teufelswerk«! Wozu also ihre eigenen Einwände, der Sozialstaat bedeute auch »ein erhebliches Ausmaß an Regulierung und Kontrolle der Arbeitskraft«? Oder: »So wunderbar es ist, daß wieder in vielen Städten Menschen auf die Straße gehen, um gegen die Erwerbslosigkeit und die damit verbundene Ausgrenzung zu protestieren, ...« Was ist denn an der Scheiße wunderbar, bei der sich ein paar Sozialarbeiter und Gewerkschaftsfunktionäre als Sachwalter des Elends andienen und in dessen Namen nach mehr Arbeit schreien? Steckt darin etwa nicht der »militante Produktivismus«, von dem sie sich an anderer Stelle entschieden abgrenzen? Die Initiatoren der Arbeitslosenproteste lassen keinen Zweifel daran, wie sie es mit der Arbeit halten; Angelika Beier von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen in Bielfeld zur FAZ: »Derzeit fehlten etwa 7 bis 8 Millionen Stellen. Daher sei es auch nicht legitim, durch eine Absenkung der finanziellen Unterstützung Druck auf die Arbeitslosen auszuüben. 'Das kann man nur machen, wenn genügend reguläre Arbeit zur Verfügung steht.'« (FAZ v. 12.9.98) Wir können uns ausmalen, was wir von solchen Leuten zu erwarten haben - »regulär« ist ein recht dehnbarer Begriff!

Das gedankenlose Hin- und Herspringen zwischen Kapitalismuskritik und Verbesserungsvorschlägen macht nur einen Sinn: wie schaffe ich es, trotz eines gewissen Balasts an kapitalismuskritischen Theoriebeständen in meinem Hirn zum Propagandisten reformistischer Politik zu werden. Vielleicht ist es das, was solche Texte für Linke interessant macht: er spricht ihre eigenen Transformationsprobleme beim Übergang zur Realpolitik an!

Die Illusion der Arbeitszeitverkürzung

Ähnlich wie beim Existenzgeld wird auch der Arbeitszeitverkürzung ein Inhalt angedichtet, den sie in der gewerkschaftlichen Politik nie hatte. »Die ursprüngliche gewerkschaftliche Forderung entstand zu einer Zeit, als der Einfluß auf die Gestaltung der Arbeit - jedenfalls in den Debatten - noch eine wesentliche Rolle spielte. ... Tatsächlich ist es in den letzten Jahren zwar gelungen, Arbeitszeitverkürzung tarifpolitisch zu vereinbaren. Die Einflußnahme auf die Gestaltung und Organisation der Arbeit hat jedoch eher ab- als zugenommen...« Auch hier geraten die Motive und Ziele von Bewegungen erst dann in den Blick, als diese Bewegungen schon längst vom Reformismus kooptiert und umgedreht worden sind. Die Ende der 70er Jahre einsetzende innergewerkschaftliche Debatte um Arbeitszeitverkürzung ist nur eine ideologische Verdrehung und forderungsmäßige Eindämmung des realen Widerstands gegen die Arbeit, der sich in den 70er Jahren zugespitzt hatte. Ein paar gewerkschaftliche Ideologen versuchten mit der Debatte um Arbeitszeitverkürzung an die sozialdemokratische Strategie der »Humanisierung der Arbeitswelt« anzuknüpfen, die schon damals nichts anderes war, als eine Reaktion auf die akuten Probleme, Arbeitskräfte dauerhaft für die verhaßten Fabriken rekrutieren zu können. Die gewerkschaftliche Linke, die dem »Jahrhundertkampf« um die 35-Stunden-Woche erst den richtigen Pepp gab, machte sich damit zum Steigbügelhalter für die im Leber-Kompromiß von 1984 festgelegte Richtung einer Kombination von individueller tariflicher Arbeitzeitverkürzung und betrieblicher Arbeitsintensivierung und -flexiblisierung.

Benebelt von der gewerkschaftlichen Propaganda um die Arbeitszeitverkürzung in den 80er Jahren sitzt auch der »Blaue Montag« der Illusion auf, diese Jahre hätten einen besonderen Fortschritt bei der Arbeitszeitverkürzung gebracht. Historisch stimmt das nicht. Nach Zahlen betrachtet waren nicht etwa die 80er und 90er, sondern die 60er und 70er Jahre die Phasen der deutlichsten Arbeitszeitverkürzungen: während in den beiden Jahrzehnten 1960-70 und 1970-80 das Jahresarbeitszeitvolumen pro Beschäftigten um jeweils 10 Prozent sank, waren es 1980-90 nur noch 8 Prozent und 1990-1995 nur 3 Prozent (wobei noch nicht der Effekt der gerade in diesen Jahren angestiegenen Teilzeitquote herausgerechnet ist!). Von einer »neuen« Politik oder Phase der Arbeitszeitverkürzung zu sprechen, ist daher nur gewerkschaftliche Ideologie. Möglicherweise werden wir diese Phase im Nachhinein sogar als die entscheidende Umkehr der langfristigen Tendenz zur Verkürzung der individuellen Arbeitszeit begreifen müssen und darin ihren »Sinn« ausmachen.

Zwänge der Realpolitik

Das Ziel der ganzen geschichtsklitternden Uminterpretationen der beiden real existierenden Forderungen besteht darin, sie auf einen gemeinsamen Inhalt zurückzuführen, der eine Brücke zwischen den beiden institutionellen Trägern möglicher sozialer Bewegungen - Gewerkschaften und Erwerbslosengruppen - schlagen soll. Realpolitisch möchte der »Blaue Montag« an den beiden Forderungen festhalten können und gerade dafür stellt er ihrer schlechten Realität einen idealen Inhalt gegenüber, relativiert ihre Bedeutung als Forderung von Stellvertretern und führt einen Eiertanz zwischen »außerparlamentarischer Bewegung« und Einflußnahme auf staatliche Sozialpolitik auf: »Keine Forderung wird und kann den gesamten Anspruch auf Aneignung gesellschaftlichen Reichtums transportieren.« Und dann der Eiertanz: »Der Rückzug des Staates aus der Sicherung der Sozialeinkommen, der neue militante Produktivismus mit immer massiveren Elementen von Ausgrenzung und workfare verschlechtert die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen ganz erheblich. Dagegen gab und gibt es Widerstand. Der kann sich auf bloße Forderungen an den Staat zur Aufrechterhaltung des Status Quo beziehen. Er kann aber auch Ansprüche entwickeln, die weit über den Anteil des Kuchens hinausgehen, der uns heute zugestanden wird.« Wenn wir uns erstmal so weit auf das Terrain des Staates und der Politik eingelassen haben, dann bleibt wirklich nicht mehr viel übrig, als ein bißchen mehr Kuchen zu verlangen. Das wirkt ganz radikal gegenüber denjenigen, die nur das bisherige Tortenstück verteidigen - aber es stellt nicht mehr infrage, was in dieser Bäckerei eigentlich los ist.


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