Wildcat-Zirkular Nr. 50/51 - Mai/Juni 1999 - S. 62-68 [z50simon.htm]


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Das dritte internationalistische Lager:

Ein weiterer Klassenkampf

Henri Simon

Der Titel bezieht sich auf den Text eines bereits verstorbenen Genossen [1], der im Zweiten Weltkrieg damit konfrontiert war, daß sich Leute in diesem Krieg engagiert haben. Solche Entscheidungen werden immer wieder getroffen in Kriegen, die regelmäßig den unerbittlichen Gang des Kapitals erschüttern. Eines Kapitals, dessen Durst nach Profit nicht zu stillen ist, und das den Druck nicht abstellen kann, den der ihm seit seiner Entstehung innewohnende Widerspruch ausübt: der Klassenkampf. Damals, als sich die überwiegende Mehrheit einschließlich der meisten Organisationen (Parteien, Gewerkschaften, Gruppierungen usw.), die vorgaben, im Namen der Arbeiter zu sprechen, sie zu führen und zu organisieren, in den Stürmen mittreiben ließ und das eine oder das andere kriegführende Lager unterstützte, bestand eine Minderheit darauf, daß das einzig konsequente Engagement, egal in welcher Form, der Klassenkampf im eigenen Land gegen die eigenen Ausbeuter ist. Diese Minderheit behauptete völlig zu Recht, daß man nur so diejenigen zusammenzubringen kann, die - durch geographische Grenzen und ideologische Barrieren voneinander getrennt - in die Armee oder in die Produktion eingezogen worden waren, um gegeneinander zu konkurrieren bei der Verfolgung der augenblicklichen Ziele der herrschenden Klasse, die sie als Bürger ihrer Nation beansprucht. Es hat zwar seit einem halben Jahrhundert keinen Weltkrieg mehr gegeben; etliche lokal begrenzte Konflikte gaben jedoch Gelegenheit, an dem festzuhalten, was die Kraftlinie jeder militanten Aktion bleiben muß: dem proletarischen Internationalismus.

Der Krieg ist zweifellos die größte Abschlachterei der menschlichen Gesellschaften, insbesondere derer, die sich für »zivilisiert« halten. Er setzt beim Menschen die bestialischsten Instinkte frei, wobei es nicht einmal nötig ist, den Gegner zu »dämonisieren«. Der Mord, der im zivilen Leben unter Strafe steht, wird zur Heldentat; Grausamkeit und Folter werden gedeckt, weil sie angeblich für die Informationsbeschaffung erforderlich sind; das Blutbad an Soldaten wird zum notwendigen Opfer und das an Zivilisten zur kalten Taktik, um den Gegner zurückzudrängen. Vergewaltigungen, Plünderungen und Zerstörungen aller Art werden als Naturgesetz einer Armee im Einsatz beschönigt. Territoriale Eroberungen, Exodus von Völkerschaften, Deportationen - einschließlich des Aussortierens nach ethnischen, religiösen oder ganz einfach nationalen Gesichtspunkten - im Namen nationalistischer Ideologien und/oder patriotischer Tarnung von ökonomischen oder strategischen Machtinteressen: kein Krieg kommt ohne sie aus, keine Seite ist frei davon, egal mit welchen Ideologien oder welcher Propaganda sie versucht, sich als ehrenhafter, menschlicher, sauberer als die andere darzustellen. Der Zweck heiligt alle Mittel, und was ein Staat oder eine Seite von Verbündeten dort praktiziert und beweihräuchert, während sie es hier verurteilen, wird rein pragmatisch entschieden. Schon lange vor dem nicht erklärten Krieg der NATO gegen Serbien um das Kosovo sind der Beispiele Legion, wo das Humanitäre als ideologischer Deckmantel dient (das ist gar nicht so neu, denn der Krieg hat sich immer mit edlen Gefühlen geschmückt). Die modernen Medien und Kommunikationstechniken haben dem einfach eine neue Dimension gegeben, die es selbst den kriegführenden Lagern und ihren Unterstützern gestattet, sich mit einer falschen Objektivität zu schmücken und unterschiedliche Versionen des Einheitsdenkens [pensée unique] zu präsentieren, die geeignet sind, einem der Lager unter der jeweiligen Flagge Unterstützung zuzuführen.

Außerdem - all das ist im Gebrodel der Informationen und Stellungnahmen schon zu einem Gespinst von Allgemeinplätzen geworden - genau weil die individualistischen Reaktionen in die Ideologien des Konflikts integriert sind, muß man über Aktionsformen in Form von Auflehnung hinausgehen. Sich aufzulehnen ist zweifellos gesund, aber es bleibt relativ machtlos angesichts des Ausmaßes an materiellen und menschlichen Zerstörungen. Selbst wenn das wenige, was man beitragen kann, virtuell oder real das gute Gewissen befriedigt, läuft heute doch alles in die Richtung, in die es die humanitäre Mainstreamideologie, die alles zudeckt, haben will. Wenn sie objektiv sein will, kann diese moralische oder ethische Haltung bestenfalls auf einen Pazifismus hinauslaufen, der seine Auflehnung höchstens im kollektiven Verteilen von Flugblättern und relativ ohnmächtigen Demonstrationen ausdrücken kann, die ebensogut mißbraucht werden können. Wenn wir darüber hinauskommen wollen, brauchen wir eine Analyse, die nicht nur die Absichten der Kriegführenden klärt, sondern den Versuch macht, die dem kapitalistischen System zugrundeliegenden Tendenzen zu bestimmen und die Klassenfeinde zu identifizieren, egal, auf welcher Seite und in welchem Lager sie kämpfen; nur diese Feinde dürfen wir mit Recht als solche bezeichnen und bekämpfen.

Der jetzige Kosovo-Krieg ist - auch wenn er sich kaum so zu nennen wagt - ein reines Produkt der modernen kapitalistischen Gesellschaft, die die Welt in ihren verschiedenen Formen und im Rahmen ihrer unterschiedlich großen und unterschiedlich mächtigen Staaten dominiert. Innerhalb dieser Welt gibt es den allgegenwärtigen und beherrschenden Imperialismus der USA, dessen ökonomische Macht ein wenig angefressen ist und der vor allem durch seine erdrückende militärische Macht abgesichert ist; diese kann aber aufgrund von inneren und äußeren Widersprüchen nicht die volle, furchtbare Wirksamkeit entfalten, die er bräuchte. D.h., die militärische Macht löst in keiner Weise die ökonomischen Probleme im innersten Kern des Weltsystems. Die Veränderungen der verschiedenen Formen dieses weltweiten Kapitalismus haben in den vergangenen 50 Jahren manchen örtlich begrenzten Krieg ausgelöst: während der Entkolonisierung wurden Einflußsphären neu definiert; in jüngster Zeit wurde die sowjetrussische Einflußzone auseinandergenommen. Die Kriege auf dem Balkan sind ein Ausdruck dieser Entwicklung. Aber dort zeigen sich nur die Folgen, auf die wir noch zurückkommen werden.

Das zentrale Problem ist der Profit oder genauer gesagt die Profitrate: Kapital ohne Profit ist nicht länger Kapital, und je mehr es als Kapital existiert, desto mehr muß es den Gesamtprofit steigern, d.h. die Ausbeutungsrate der Arbeit mit allen Mitteln vergrößern, damit die Profitrate nicht sinkt. Wenn sie weiterhin unerbittlich fällt, ist das die Ankündigung für den Tod des Kapitals und damit des kapitalistischen Systems. Natürlich wird das System von den Institutionen und Personen verteidigt, die seinen Fortbestand sichern wollen, da sie nur so ihre ökonomische, soziale und politische Macht erhalten können. Gegentendenzen bilden zum einen das bewußte Handeln der Herrschenden, um diesen Fall der Profitrate aufzuhalten, zum andern mehr oder weniger objektiv die Auswirkungen der Widersprüche innerhalb des Systems und die Folgen der getroffenen Maßnahmen zur Lösung dieser Widersprüche. Diese Gegentendenzen gruppieren sich nach zwei Faktoren, die die Profitrate bestimmen: die Bedeutung des fraglichen Kapitals einerseits und die Ausbeutungsrate der Arbeit andererseits.

Seit mindestens drei Jahrzehnten versucht das Kapital weltweit mit allen Mitteln die Mehrwertrate zu steigern, d.h. den Teil zu vergrößern, den das Kapital zu seiner Reproduktion und Ausweitung einbehält. Was die Kapitalisten »Produktivität« nennen, ist ein Schlüsselwort für diesen weltweiten Druck, man bräuchte ein ganzes Buch, um seine Wirkungen zu beschreiben: den Zusammenbruch aller totalitären oder demokratischen Systeme einer minimalen sozialen Absicherung der Arbeiter; die Auslagerung von Industrien in Gebiete, wo die Arbeitskraft weniger kostet; die damit zusammenhängende Entwicklung der Reservearmee der Arbeitslosen. Aber dieser Weg hat seine Grenzen, die vom Niveau der Produktionstechniken, den Methoden der Arbeitsorganisation, die sich daraus ergeben, und dem Widerstand der Arbeiter, d.h. dem Klassenkampf bestimmt werden.

Der andere Weg ist die Verringerung der Kapitalsumme durch Zerstörung des existierenden Kapitals in der einen oder anderen Form, d.h. durch seine Reduzierung auf Null. Das geschieht durch die Akkumulation von Rüstungsgütern, also durch eine Akkumulation von nicht-produktivem Kapital, dessen Kosten aus Steuern gedeckt werden, die mehr von den Löhnen der Arbeiter als von dem Teil des Mehrwerts, den die Kapitalisten verbrauchen, abgezogen werden. Die Rüstungsgüter wiederum werden zerstört: weil sie überaltert sind (man denke z.B. nur an die enormen weltweiten Kosten für die Produktion von 100 000en von Atombomben, deren Einsatz immer zweifelhafter wird) oder sie werden in Kriegen verbraucht, und müssen dann ersetzt werden, d.h. weitere Investitionen in unproduktives Kapital. Hinzu kommen noch die materiellen Zerstörungen aller Art: von konstantem Kapital, das in Fabriken und Transportmittel investiert wurde, sowie alle anderen »Kollateral«schäden von der Zerstörung von Wohnungen, diverser Infrastruktureinrichtungen bis hin zur Vergiftung der Böden. Die Verluste an Menschenleben, Lieferanten von Arbeitskraft und Kanonenfutter, d.h. variablem Kapital, können sich widersprüchlich auswirken: einerseits rechtfertigt der Kriegszustand auf allen kriegführenden Seiten Opfer zur Verteidigung des Vaterlandes, d.h. zur Steigerung der Ausbeutungsrate, was durch die Verschubung von Bevölkerungen verstärkt werden kann; andererseits kann eine zu weitgehende Zerstörung von Menschenleben die spätere Warenproduktion beeinträchtigen, weil die Verknappung der Arbeitskraft das Kapital dazu zwingt, einen höheren Preis für die knapper gewordene Ware Arbeit zu zahlen, was dann wieder die Mehrwertrate senkt. Darüber hinaus können der Krieg und seine Zerstörungen auch die »normale« kapitalistische Ökonomie mehr und mehr auflösen, vor allem durch die Entwicklung einer unkontrollierten Untergrundwirtschaft, deren Auswirkung auf die traditionellen Funktionsweisen des Kapitalismus schwer zu durchschauen ist. Auf jeden Fall wird die große Mehrheit der Ärmsten - der ewigen Opfer - immer ärmer, und die Minderheit der Reichsten immer reicher. Daraus enstehen im sogenannten »Wiederaufbau« auf einer mehr oder weniger ausgedehnten lokalen Ebene die Bedingungen für die Neukonstituierung des Kapitals nach dem Krieg.

Bezogen auf die Gesamtheit dieser Probleme kann man einwenden, daß der Krieg im Kosovo im Verhältnis zum Weltkapital unbedeutend ist, daß hier zu wenig Kapital vernichtet wird, als daß es einen Einfluß auf die globale Profitrate haben könnte. Schon mit einigen Zahlen ändert sich dieser Blickwinkel. Die Gesamtkosten der »lokalen« Kriege der letzten 50 Jahre sind höher als die akkumulierten Kosten aus den beiden Weltkriegen. Und diese Zahlen beziehen nicht die Kosten aus der Zerstörung von anderen materiellen Gütern (konstantes Kapital) und an menschlichem Leben (variables Kapital) mit ein.

Wir berühren hier die »objektive« ökonomische Funktion des Kriegs, wobei wir die zusätzliche, weniger objektive, Frage aufwerfen können, ob es bei Ländern wie Vietnam, dem Irak und Serbien nicht auch wissentlich darum geht, daß die Großmächte im Schlepptau der USA Länder mit einem gewissen unabhängigen kapitalistischen Entwicklungsgrad in eine halbkoloniale Situation zurückbefördern. Eine Frage, die die friedlichen Zerstörungen von Entwicklungsökonomien durch Krisen einschließt, wie die asiatische Krise oder die derzeitigen Verheerungen in Afrika durch innerkapitalistische Konflikte. Wenn man - häufig aus Zufall - erfährt, daß beim letzten Angriff auf den Irak mehr Bomben abgeworfen wurden als im gesamten Vietnamkrieg, oder allein der Tarnkappenbomber, der von den Serben abgeschossen wurde, mehr gekostet hat als das Bruttosozialprodukt von Albanien betrug, bevor es im Wirtschaftschaos versank, kann man daraus den Schluß ziehen, daß der jetzige Krieg einen gewaltigen Verbrauch oder eine Vernichtung von Kapital bedeutet; auch wenn man das Ausmaß der durch die »chirurgischen Schläge« verursachten Schäden nicht beziffern kann, d.h. die Investitionen in konstantes Kapital (Fabriken und Infrastruktur). Jenseits der »unmittelbaren wirtschaftlichen und strategischen Notwendigkeiten« und ideologischen Schleier, die zur Rechtfertigung dienen, hat auch der jetzige Krieg wie jeder Krieg seinen tieferliegenden Grund in der Bewegung zur Verteidigung des weltweiten Kapitals. Wie alle anderen Konflikte dieser Art ist er eine Sauerstoffgabe wie viele andere vor ihm in den letzten 50 Jahren. Es stellt sich die Frage, ob diese Linderungsmittel ausreichen werden, um eine dauerhafte Wirkung zu erzielen, oder ob ein Konflikt größeren Umfangs notwendig sein wird, wenn man auch zur Zeit schlecht erkennen kann, wo und wie bei der gegebenen immensen militärischen Überlegenheit der USA und der weltweiten Entwicklung in nächster Zukunft ein allgemeinerer Konflikt ausbrechen könnte.

Man kann schon aus dem Ablauf dieser lokalen Kriege oder anderer Konflikte, die nicht dieses Stadium erreichen, erklären, warum solche Konflikte an bestimmten Orten ausbrechen und warum es zu ihren Merkmalen gehört, daß sie den Eindruck einer gewissen relativen Ohnmacht und einer großen Konfusion vermitteln, und zwar je mehr die wirklichen Ziele hinter humanitären verdeckt werden. Diese werden im übrigen nie erreicht werden, weil sie nicht mit maximalem Aufwand verfolgt werden und besonders in die Augen springende Heucheleien enthüllen würden. Obwohl die USA über keinen Erbfeind mehr unter dem Banner des Antikommunismus verfügen, seit das Wettrüsten und der Klassenkampf die östliche Zone des Kapitalismus implodieren ließen, müssen sie allem zuvorkommen, was künftig ihre Vorherrschaft bedrohen könnte, und gleichzeitig die Probleme lösen, die die niedrige Profitrate stellt: nach Innen durch Druck ohnegleichen auf die Arbeitsbedingungen, nach Außen, indem sie alles tun, um sich die dauerhafte Versorgung mit Rohstoffen zu günstigen Preisen zu sichern.

Ziemlich paradox daran ist, daß IWF und Weltbank, die von den USA dominiert werden, die Staaten zwingen, ihre Haushalte und Handelsbilanzen auszugleichen, während sie selbst eines der höchstverschuldeten Länder der Welt sind. Ebenso paradox ist, daß gerade die von den USA militärisch besetzten Länder Japan und Europa über kurz oder lang in der Lage zu sein scheinen, die wirtschaftliche und militärische Macht der USA ernsthaft zu bedrohen. Diese Drohung besteht darin, daß sie über Rohstoffquellen und eine autonome Produktionskapazität verfügen, die der Kontrolle der USA entgleitet, und eine politische Vereinigung und ein militärisches Wiedererstarken vorbereiten. Eines der Konfrontationsfelder ist Eurafrika, was zahlreiche lokale Kriege auf diesem Kontinent erklärt: wenn Europa diesen Kontinent wirtschaftlich so kontrollieren kann, wie die USA den südamerikanischen, wird es zur großen Weltmacht.

Der andere Pol ist der asiatische; die jüngste Krise hat, als das rund um Japan errichtete ökonomische Gebäude durch einen Dominoeffekt zusammenbrach, einer tendenziell autonomen Zone einen Schuß vor den Bug versetzt. Die Sache ist natürlich komplexer, denn diese Krise wurde von der globalen Entwicklung des Kapitals hervorgerufen, aber das gewollte oder ungewollte Resultat ist, daß der wirtschaftliche Aufstieg des asiatischen Pols gebremst ist.

Eine der Grundlagen der US-Weltpolitik ist die Kontrolle über die globalen Ölreserven und zwar insbesondere im Mittleren Osten, wo die wichtigsten Vorräte liegen. Billiges Öl ist lebensnotwendig für die USA, nicht nur für die Ölkonzerne, sondern auch als Garantie des sozialen Friedens in einer Volkswirtschaft, die auf der intensiven Nutzung des Autos und der Lufttransporte und der militärischen Vorherrschaft beruht. Der Mittlere Osten wird so von einem Gürtel von Staaten umschlossen, die von den USA abhängig sind. Israel, die Türkei, Griechenland, Ägypten und Pakistan sind Teil dieses Gürtels. Der Irakkrieg, die Konflikte mit dem Iran und mit Afghanistan sind die »schwachen« Punkte dieser Politik. Die Auflösung des sowjetischen Blocks hat die USA dazu gebracht, die Grundlagen einer Art zweiter Schutzlinie zu skizzieren, insbesondere weil einige der kaukasischen Staaten und Kasachstan auch Ölstaaten sind: deshalb haben sich die USA schon frühzeitig in Bulgarien und Albanien festgesetzt. Die Kriege in Ex-Jugoslawien und zuletzt im Kosovo zielen darauf, diese Schutzzone zu erweitern und damit gleichzeitig den letzten Rest von russischem Einfluß in dieser Region auszulöschen und die Tendenz zur Schaffung eines autonomen vereinten Europas zu blockieren. Hinter der scheinbaren Einheit der Alliierten unter dem NATO-Banner zeichnen sich unterschwellige Konflikte ab zwischen einer Macht, die ihre Präsenz noch aufzwingen kann, den USA, und einer anderen, die sich nur auf Umwegen über scheinbar sekundäre Fragen behaupten kann, aber die, ganz wie der Wirtschaftskrieg über spezifische Fragen behauptet, enthüllen, daß alles auf einen größeren Konflikt hinauslaufen wird. Es ist schwer zu sagen, worin die Neuformulierung der Rolle der NATO beim »Schutz« der Integrität der europäischen Staaten besteht; aber diese Formulierung könnte die bewaffnete Intervention in Staaten autorisieren, wo eine revolutionäre Bewegung die Eingliederung in eine kapitalistische Welt anficht: der Systemfeind ist also klar definiert; allein die Klasse der Arbeiter kann durch ihren Kampf die staatlichen Strukturen in Gefahr bringen; deshalb wird präventiv angegriffen, bevor sie die ganze weltweite kapitalistische Sphäre infiziert.

Dies bringt uns über einen scheinbaren Umweg auf die wesentliche Frage, die wir uns zu Beginn des Artikels gestellt haben, nämlich: was können diejenigen gegen den Krieg tun, die in ihm nicht Partei ergreifen wollen und die nicht an einer x-beliebigen Aktion mitmachen wollen, aus Angst, dabei indirekt eines der Kriegslager zu unterstützen, die keine Gelegenheit versäumen, in eigenem Interesse die Heterogenität des Widerstands gegen den Krieg auszubeuten. Eine Klassenaktion darf nicht von vergangenen oder derzeitigen politischen Optionen geleitet werden und noch weniger von humanitären Gründen: die Solidarität mit dem Elend der Welt, so nobel, wünschbar und nützlich sie scheinen mag - abgesehen davon, daß sie genauso in die Manipulationen des »Einheitsdenkens« integriert ist - bestätigt nur die Folgen des Kriegs. Man darf sich weder im Feind noch in der Solidarität irren. Der Krieg ist teuer, selbst wenn er in dieser Dimension geführt wird, und die Arbeiter werden die Rechnung bezahlen, sei es über eine Steuererhöhung oder Inflation oder die Blockierung der Löhne und Zahlungen aller Art, sei es durch den Aufschub von Versprechungen betreffs der öffentlichen Ausgaben. Es ist den Regierenden zuzutrauen, daß sie uns, um ans Ziel zu gelangen, die Kosten des Kriegs nicht durch Gewaltmaßnahmen, sondern auf Umwegen tragen lassen. (Sie wissen, daß eine Mehrheit gegen den Krieg ist, davon zeugt der Appell ans Humanitäre in allen seinen Formen, insbesondere die Solidarität mit den Flüchtlingen, wo unter der Decke der Emotion freiwillig die Folgen eines kapitalistischen Krieges finanziert werden - was jeder ablehnen würde, wenn dies beispielsweise in Form einer Sondersteuer geschähe).

Wir müssen die Situation ausnützen und, während die Regierenden konfus sind und Unterstützung verlangen, uns gegen jede Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen und präzise Forderungen aufstellen, weil sie ein wenig verwundbarer sind und mehr »Leistung« brauchen. Das ist Klassenkampf an unserem eigenen Arbeitsplatz und nicht nur wilde Rödelei, Erklärungen und Demonstrationen. Dieser Kampf muß mit allen individuellen oder kollektiven Mitteln geführt werden, die der Situation angemessen sind, (alle Formen von Sabotage, Widersetzlichkeit, usw.) gegen diejenigen, die uns ausbeuten, und um die Bedingungen unserer Ausbeutung. Es geht nicht einmal darum, ihn mit dem stattfindenden Konflikt zu verbinden, weil die großen ideologischen Appelle nicht (mehr) angebracht sind; es geht einfach darum, die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen abzulehnen, was die unausweichlichen Folgen der Kriegsbeteiligung sein werden.

Unser Feind ist hier, es sind die, die unser Leben kommandieren. Und es wird dabei auch um die kleinen Dinge des Alltags gehen: hier müssen wir Widerstand leisten und überall angreifen, wo wir können.

Dieser Text erscheint in der nächsten Ausgabe des französischsprachigen Bulletin Échanges«, BP 241, 75866 Paris Cedex 18, France. Abonnement: 60 FF für 4 Ausgaben.


[1] Pierre Lannerat, Mitglied der Gruppe »Socialisme ou Barbarie«, ist in den 50er Jahren nach Kanada, später in die USA gegangen. Er hat über den Zweiten Weltkrieg einen Text geschrieben, der betont, daß man sich auf keine Seite stellen sollte: »Le troisième camp international devant la deuxième Guerre Mondial«.


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