Wildcat-Zirkular Nr. 58 - Dezember 2000 - S. 60-64 [z58dauve.htm]


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Der Rassismus existiert noch, aber er ist nicht mehr offizielle Ideologie

Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf H.s Text »Antisemitismus und die Grenzen des Klassenbegriffs« im Wildcat-Zirkular 56/57 vom Mai 2000. Sie sind nicht so sehr eine Kritik seines Textes, als vielmehr ein Beitrag zu einer Debatte, die wir nicht vermeiden können.

Der Rassismus ist keineswegs verschwunden, und er hat immer noch eine spalterische Wirkung: sowohl gegen »andere Ethnien« als auch gegen die ArbeiterInnen, die der Staat »Illegale« nennt (das unsichtbare Proletariat). In der Europäischen Union hat sogar die Rechte damit aufgehört, die Einwanderung komplett abzulehnen. Es gibt eine große türkische Minderheit in Deutschland, und es wird sie weiter geben, in Frankreich große arabische und afrikanische Minderheiten, die unterprivilegiert und überausgebeutet bleiben werden.

Doch offener Rassismus ist nicht länger eine gesellschaftlich akzeptable Ideologie. Können wir uns für das Deutschland von 1930 oder sogar für das Frankreich oder Großbritannien von 1935 antirassistische Gesetzgebungen vorstellen? Heutzutage wird der Antirassismus als eines der Grundprinzipien der Demokratie angesehen. Natürlich wirkt er nur als Prinzip und wird begleitet von zahlreichen rassistischen Handlungen. Aber der Anti-Rassismus (oder einfach Nicht-Rassismus) ist »mehr zu einem sozialen und politischen Erkennungszeichen« (Wildcat-Zirkular 56/57) geworden, dem kleinsten und niedrigsten gemeinsamen politischen Nenner. Eine oberflächliche Akzeptanz aller Kulturen und eine Ablehnung der Intoleranz sind nun Teil des Normverhaltens des Mainstreams. Natürlich gibt es da Konflikte mit den Fakten, wie bei jeder Ideologie, wie etwa bei »Gleichheit« und »Freiheit«, aber sie hat auch einen realen Inhalt. Im heutigen Frankreich wird ein junger Akademiker aus Mali immer noch diskriminiert sein, weil er schwarz ist, aber viel weniger als 1960. Das ist ein weiterer Aspekt der Amerikanisierung: Sicher werden Schwarze in den USA diskriminiert, aber an der Spitze der US-Army steht ein schwarzer General.

Faschismus und Antifaschismus gehören beide der Vergangenheit an

Nicht, daß es jetzt Mißverständnisse gibt. Ich sage nicht, daß der Kapitalismus Gesetz und Ordnung immer auf sanfte und friedliche Weise aufrechterhalten wird. Das Gegenteil wird der Fall sein! Die Demokratie wird auf diktatorische Mittel zurückgreifen, wenn sie muß. Außerdem spreche ich nicht von z.B. Rußland, das kaum als Demokratie durchgehen wird, sondern ich spreche ausschließlich über »entwickelte« kapitalistische Länder wie die USA, die EU und Japan.

In jenen »modernen« Ländern steht der Faschismus als eine populäre Massenbewegung außerhalb des Staats, die eine starke Staatsmacht wiederaufbauen will, nicht auf der Tagesordnung. Mussolini und Hitler übten genügend Druck auf den Staat aus, um ihn zu zwingen, sie als die einzige politische Kraft zu akzeptieren, die in der Lage war, die Gesellschaft wieder zu vereinigen. Dies geschah nicht, weil sie die besseren Demagogen waren oder kämpferischer, sondern weil der Staat selbst eine tiefe Krise durchmachte, als er zwischen völlig entgegengesetzten politischen Optionen zerrissen war, zwischen denen er sich nicht entscheiden konnte. Sowohl Italien als auch Deutschland wiesen beide große, unkontrollierbare Arbeiterbewegungen auf, sowie schrecklich gespaltene herrschende Klassen. Dies ist heute weder in Europa, Japan noch in Nordamerika der Fall.

Jede/r kann Begriffe auf die Weise benutzen, wie es ihr oder ihm paßt, und den »Faschismus« als gewaltsame systematische Repression definieren. Aber dann begann der »Faschismus« lange Zeit vor Mussolini. Dann war die französische Regierung, die gegen die Aufständischen des Juni 1848 die Armee einsetzte, »faschistisch«, genauso wie Thiers, als er die Pariser Kommune im Blut der 20 000 oder 30 000 Pariser ertränkte, oder De Gaulle, als seine Polizei im Oktober 1961 200 Algerier tötete. Jeder koloniale und neo-koloniale Krieg ist dann ebenfalls »faschistisch«. Der Begriff wird so weit gefaßt, daß er bedeutungslos wird.

Der aktuelle europäische Populismus (Le Pen, Haider und in Belgien usw.) ist kein faschistisches Revival, auch nicht eines der sanfteren Art. Der Faschismus war nie sanft, und er tat auch nie so.

Wenn es heute keinen Faschismus gibt, dann kann es auch keinen Anti-Faschismus geben, außer als Ideologie, als eine erinnernde Art, mit Politik umzugehen. Le Pen und Haider werden zuerst und hauptsächlich nicht wegen ihres aktuellen reaktionären Programms angegriffen, dessentwegen, was sie selbst tun wollen, sondern wegen ihrer Sympathien (oder Entschuldigungen) für das, was der Faschismus in der Vergangenheit tat. Fragt einen Anti-Haider-Demonstranten: sein erster Kommentar wird sich nicht gegen Haiders politische Plattform richten, sondern darauf verweisen, welche Ähnlichkeiten diese zu der von Hitler aufweist.

Ich schlage nicht vor, AntiFa-Demos zu verwerfen. Viele DemonstrantInnen zeigen eine echte Ablehnung der Gesellschaft, was weit über Haider hinausweist. Und darüber können wir mit ihnen reden und vielleicht gemeinsam handeln. Aber nur, wenn wir ihnen sagen, daß Anti-Faschismus als solcher die Vergangenheit angreift.

Nur Rationalität erklärt das Irrationale

Die konventionelle Weise, über den Nazismus nachzudenken, ist nicht aufgrund ihrer Theorien verwirrend, sondern weil sie den Nazismus außerhalb der restlichen Geschichte ansiedelt und ihn als eine derartig verrückte Ungeheuerlichkeit darstellt, daß völlig neue Konzepte nötig wären. (Natürlich gehen nicht alle Historiker so vor.) Unser erster Schritt besteht deshalb darin, das Teil wieder in das Ganze einzufügen, den Nazismus wieder in den allgemeinen Lauf des 20. Jahrhunderts einzugliedern.

Es ist sicher wahr, daß »Klassenkampf« nicht alles erklärt. Erklären wir die Geburt des Christentums aus dem Verhältnis zwischen Sklaven und Sklavenhaltern? Oder die Kreuzzüge lediglich als ein Anwachsen mittelalterlichen Handels? Der Fehler liegt darin, zuviel von der »Klassenanalyse« zu verlangen, oder vielmehr darin, die falschen Fragen zu stellen.

Nur wenige Leser des Wildcat-Zirkulars würden abstreiten, daß der Erste Weltkrieg ein Produkt des Imperialismus war. Und doch schlachten sich Millionen von Soldaten nicht gegenseitig ab aufgrund ökonomischer Widersprüche. Selbst der »kapitalistischste« Krieg bricht nicht an dem Tag aus, an dem eine große kapitalistische Macht eine andere angreift, um deren Wirtschaft zu ruinieren und sich deren Märkte zu schnappen. Nationale, religiöse, ethnische ... Faktoren spielen ihre Rolle - umsomehr bei einem Phänomen wie dem Völkermord.

Eine Trennung zwischen dem »Rationalen« und dem »Irrationalen« verschleiert das Problem nur: sie trennt »rationale« (= wirtschaftliche und gesellschaftliche) Bestimmungen von »irrationalen« (= psychologischen) Motiven. Das würde bedeuten, daß das menschliche Gemüt nicht rational verstanden werden kann und daß die Geschichte nicht als eine logische Abfolge verstehbarer Ursachen und Wirkungen interpretiert werden kann. Dann würde nicht nur Auschwitz sich unserem Verstehen entziehen, sondern alles außerhalb des Bereichs rein berechenbarer Tatsachen. Wir könnten verstehen, warum eine Firma bankrott geht, wenn ihre Produktivität sinkt, aber sicherlich keine Spekulationsblasen und Panikausbrüche.

Der US-amerikanische und der serbische Staat sind Produkte des Klassenkampfs. Aber wenn die USA gegen Serbien Krieg führen, ist das nicht einfach das Ergebnis des Klassenverhaltens in den USA und Serbien. Die Politik führt ihr eigenes Leben. Ideologien auch.

Es geht nicht darum, Auschwitz zu verstehen, sondern was dazu geführt hat. Es war das Versagen der revolutionären Bewegung nach 1914-18 und dann die Unfähigkeit der europäischen Bourgeoisien, dieses Versagen in einen positiven kapitalistischen Umbau zu verwandeln, was die Nazis an die Macht brachte und einem wild rassistischen Regime eine mörderische Kriegsmaschine in die Hand gab. Es gibt keine direkte Verbindung zwischen Berlin 1919 und Auschwitz 1942. Sondern eine Kette von Ereignissen verbindet den Klassenkampf von 1919 mit dem industrialisierten Mord ab 1942.

Unser Problem besteht also nicht in der Frage, ob die »Klassenanalyse« Auschwitz erklären kann, sondern ob sie den Lauf der Weltgeschichte erklären kann. Wenn sie das kann, dann kann sie auch dabei helfen, die Völkermorde zu verstehen, einschließlich des besonderen Völkermords an den Juden. Wenn sie das nicht kann, können wir insgesamt auf sie verzichten, und nicht nur weil sie zum Verständnis des Zweiten Weltkriegs nichts beiträgt.

Allgemein wird gesagt, der »Marxismus« könne den Nazismus nicht analysieren, geschweige denn die Vernichtungslager, da der Marxismus angeblich Wirtschaft und Klassenverhältnis überschätze, auf Kosten anderer Ursachen, insbesondere der Massenpsychologie.

Fragen wir doch zunächst diese Nicht- oder Anti-Marxisten, wie sie Auschwitz erklären. Ihre Antwort ist, daß die Nazis Millionen Juden umbrachten, weil 1.) sie das schon immer tun wollten und 2.) der Krieg ihnen die Gelegenheit dazu gab. Sehr richtig, nur daß das antisemitische Handlungen durch Ä Antisemitismus erklärt. Nicht viel besser als ein vereinfachender Marxismus, oder?

Gewiß war die nazistische Staatspartei zum Töten geboren. Aber wie konnte eine solche Partei an die Macht kommen? Ihr Erfolg 1933 hatte sicherlich etwas zu tun mit der Gewalt, die der Klassenkampf nach 1918 entfesselte.

Auschwitz war unökonomisch. Die deutsche Industrie machte ihre Profite, als sie die Arbeit der Sklaven ausbeutete, und nicht bei der Vergasung von Massen deportierter Juden. Systematische Vernichtung, das war nicht Zwangsarbeit, die durchgeknallt war und zum Mörder wurde.

Auschwitz trug auch nicht zu den Kriegsanstrengungen bei und verbrauchte tatsächlich militärische Ressourcen. Der Transport und die Massenvernichtung ganzer Familien stärkten nicht die Wehrmacht.

Und doch war Auschwitz rational. Der Nazismus hatte den Antisemitismus entwickelt, um die Arbeiter als Klasse zu spalten und alle Deutschen als ein Volk wiederzuvereinigen. Später wurde diese gewalttätige Ideologie, mit der ganzen Macht eines skrupellosen Staates hinter sich, autonom und verfolgte ihren eigenen Zweck. Die Propaganda des Mords wurde zum wirklichen Mord. »Tod den Juden« war eine Parole gewesen, die oft auch Tod verursacht hatte, aber nach 1940-41 verwandelte sie die von Deutschland besetzten Gebiete für Millionen polnischer und russischer Juden in Schlachtfelder (siehe das exzellente Buch von Arno J. Mayer, »Der Krieg als Kreuzzug«).

Massenideologien sind keine persönlichen Anschauungen, denen man zu folgen beschließt oder eben nicht. Sie existieren in großen Gruppen, werden von Institutionen gefördert und wurzeln im Alltagsverhalten, besonders in einer Volksbewegung wie dem Nazismus, der von ständiger tatsächlicher und potentieller Gewalt lebte. Wie entfernt von den Kriegszielen Auschwitz auch gewesen sein mag, so gab es doch eine starke Verbindung zu der globalen politischen Logik, auf der der Nazismus sich aufgebaut hatte. So wie der Krieg präsent war, als Hitler 1933 Kanzler wurde, so war in der Nazipolitik die massenhafte Vernichtung von Ostjuden präsent. Sie war nicht unvermeidlich: nichts ist »historisch notwendig«, es sei denn wir unterziehen die Vergangenheit einer zwangsweisen Rationalisierung und beschließen, daß das Geschehene auch geschehen mußte. Aber sie folgte einer Logik.

Auschwitz war sowohl ein Industriekomplex, mit der niedrigen Produktivität der Zwangsarbeit, aber immer noch mit einiger wirtschaftlicher Rationalität, als auch ein riesiger Tötungsapparat mit lediglich politisch-ideologischer Rationalität. Aus der Sicht eines Mr. Ford 1942 oder von BASF-Managern im Jahr 2000 war beides absurd. Aus der Sicht des Nazistaats erfüllte beides seinen Sinn.

Gilles Dauvé, 22.10.2000


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