Wildcat-Zirkular Nr. 59/60 - Juli/August 2001 - S. 71-80 [z59alger.htm]


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»Alles, was nach Staat aussieht, wird zerstört.« [1]

Von der linken Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hat sich in Algerien der spontane Protest Jugendlicher von Ende April langsam zu einer Art Volksaufstand entwickelt. Mittlerweile erscheint es fraglich, ob das Regime die nächsten Wochen noch überleben wird.

Leider können wir nicht auf Berichte Beteiligter zurückgreifen, und die Berichterstattung in den Medien ist höchst widersprüchlich. Daher fällt es schwer, einzuschätzen, welche Bedeutung die Ereignisse dort haben. Die grundsätzlichen Ursachen für den verbreiteten Zorn auf die Regierung ist klar: Wohnungsnot, Perspektivlosigkeit, Korruption und nicht zuletzt zehn Jahre Krieg. Ist es nun die »Anarchie« der Straße, die z.B. Frankfurter Rundschau und FAZ beschwören; ist es die Basis der Dorfkomitees und der Gewerkschaft, die an Einfluß gewinnt, wie es z.B. die jungle world sieht; ist es ein Aufstand um kulturelle Identität, die die Gesellschaft für Bedrohte Völker gerne hätte, sind es interne Machtkämpfe der Militärs, die ausgetragen werden ...?

Wahrscheinlich sind dies alles Aspekte der Revolte.

Der jetzige Aufstand wird allgemein als »Wiederholung« der Unruhen von 1988 gesehen; damals allerdings war allen klar, daß die Revolte ihre Ursache in den »Austeritätsprogrammen« des IWF hatte - Schließung vieler Betriebe, Entlassungen und Verteuerung von Lebensmitteln. Im Herbst 1988 gab es eine relativ breite Streikbewegung; die Demonstrationen, vor allem von streikenden Schülern und Studenten, waren oft Ausgangspunkt der Revolte. Heute dagegen wird ein Zusammenhang zwischen den Privatisierungen und dem Aufstand nur selten angedeutet. Im Mittelpunkt der meisten Erklärungen steht die Korruption der herrschenden Clique, ihre Unfähigkeit, die gestiegenen Einnahmen aus den Öl- und Gasgeschäften in den Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft zu stecken und die Verstrickung der Militärs in die Massaker und Folterungen des Bürgerkrieges. Das mag mehrere Gründe haben: Zum einen war der Zusammenhang zwischen der Schocktherapie des IWF und den Unruhen schon zeitlich offensichtlich, und in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gab es in ganz Nordafrika solche Unruhen. Heute dagegen läuft der Prozeß der Anpassung an die globale Wirtschaft seit zehn, fünfzehn Jahren; die internationalen Institutionen agieren vorsichtiger, und vor allem ist der Blick von hier seit den 90er Jahren auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Islamismus fixiert.

Diese Punkte markieren auch die Pole, zwischen denen sich die Politik der Generale in den letzten Jahren bewegt hat: eine schrittweise Politik der Öffnung der Wirtschaft auf der einen Seite und ein Zerreiben jeglicher Opposition zwischen der (scheinbaren!) Front Islamismus-Staat. Diese Politik ist jetzt am Ende. Die Privatisierungspolitik greift nun an das Herzstück der algerischen Wirtschaft, den Energiesektor. Und der Islamismus ist endgültig politisch tot [2], zumindest ist das die Einschätzung der allermeisten Berichterstatter.

»Strukturanpassung«

Seit Anfang der 90er Jahre gibt es Verträge mit dem IWF und der EU über eine Umwandlung der Staatswirtschaft in eine Privatwirtschaft, somit eine Öffnung für internationale Firmen. Diese Verträge sind nach den Unruhen Mitte der 80er Jahre auf längere Zeit angelegt worden - die Angst vor einem breiten Aufstand hat auch dem internationalen Kapital etwas Vorsicht abgenötigt. Mit dem IWF wurde vereinbart, vor allem den Energiesektor bis 2001 zu privatisieren; die EU strebt zum Jahr 2010 eine Freihandelszone mit den Mittelmeeranrainern an. [3]

Bis dahin »verzichtet« die EU auf eine Verzollung algerischer Produkte und erlaubt dagegen die Erhebung von Zöllen auf Importe aus der EU. Die Folgen dieser EU-Politik im südlichen Mittelmeer wären auch für den Nahostkonflikt zu diskutieren - so werden die palästinensischen Gebiete ganz offen als pure Arbeitskräftereservoirs betrachtet. Für Algerien bedeuten sie, daß die Zurichtung auf den Sektor der Öl- und Gasgewinnung und -verarbeitung noch verstärkt wird. Dementsprechend ist er auch der einzige Sektor in den letzten Jahren gewesen, in den ausländisches Kapital in größerem Umfang geflossen ist, während die Industrieproduktion bestenfalls stagniert hat.

Von der Streikwelle 1998 zum »heißen Frühling« 2000

Allerdings stehen der Zielsetzung der Wirtschaftsankurbelung noch die Arbeiter im Weg. Bereits die IWF-»Schocktherapien« waren Ende der 80er Jahre gescheitert, bzw. mußten abgefedert werden. Nachdem die Jugendrevolte von den Panzern des Militärs niedergeschlagen worden war, versuchte die alte FLN [4]-Elite, ihre Macht mit demokratischen Reformen (Mehrparteiensystem, relativ liberale Presse etc.) zu erhalten. In diesem Klima, das einerseits durch die große Militanz der Jugendbewegung bestimmt wurde und andererseits durch ein politisches Zurückweichen der Staatsmacht, entwickelte sich eine breite und entschlossene Arbeiterbewegung. Sie war erst einmal unabhängig von den Funktionären der alten Einheitsgewerkschaft UGTA. Auch die Islamisten versuchten, sich daran anzuhängen, und gründeten eigene Gewerkschaften, allerdings ohne großen Erfolg. Mit der offiziellen Machtübernahme der Militärs und der Inszenierung des islamistischen Bürgerkrieges Ende 1991 war für einige Jahre offensichtlich Ruhe. Erst 1998 wurden wieder Meldungen über Streiks verbreitet. Im März 1998 meldete das North Africa Journal einen »Aufruhr in der Arbeitswelt« und eine Streikwelle vor allem im Agrarsektor und der Post. Aber auch die Angestellten der staatlichen Fluglinie Air Algerie und die Lehrer und Universitätsangestellten streikten 1998. Nur mühsam war die UGTA in der Lage, ihre Kontrolle aufrecht zu erhalten und die Arbeiter zu vertrösten. Trotzdem wurden seit 1996 ca. 600 000 Arbeiter entlassen.

Ein Bruch zwischen Regierung und UGTA deutete sich im Herbst letzten Jahres an, als der Präsident Bouteflika versprach, bei der Privatisierung auf die Tube zu drücken. Tatsächlich kündigten u.a. Air Algerie und die Banque Exterieure d'Algerie im November an, daß sie sich Teilhaber suchen wollen. Nachdem schon im Oktober die Taxifahrer Algiers gestreikt hatten und für November weitere Aktionen planten, drohten nun die Bankangestellten. Daraufhin setzte sich Bouteflika mit Gewerkschaft und Unternehmern an einen Tisch. Die Gewerkschaftsforderungen einer 25-prozentigen Lohnerhöhung für Staatsangestellte und einer Anhebung des Mindestlohnes um 150 Prozent seien diskussionswürdig, um »sozialen Unruhen« zuvor zu kommen. Passiert ist dann erstmal nichts.

Nachdem der staatliche Energiekonzern SONATRACH in den letzten Jahren in Vorbereitung der Privatisierung umstrukturiert worden war - Aufbau einer Art Holding von mehreren Einzelgesellschaften: Erschliessung, Förderung, Verarbeitung, Transport und Vermarktung - kündigte die Regierung Anfang des Jahres nun die Umsetzung an. Unter dem Druck der Basis kündigte die UGTA für das Frühjahr einen heißen »labor spring« an. Sie wollte erreichen, daß vor allem die Lohnpolitik im Ölsektor staatlich beaufsichtigt bleibt und Abfindungen für Entlassene gezahlt werden.

Am 20., bzw. am 28. März wurde zu landesweiten Streiks im Öl- und im Finanzsektor aufgerufen: »Der Streikaufruf wurde aber (...) nach Presseangaben in der Ölindustrie, an den Tankstellen, aber auch in der Metallbranche zu 92 Prozent befolgt. Nach einem Gipfeltreffen mit der Regierung rief die UGTA ihre Mitglieder zur Ruhe auf. Dennoch wurden Ende März auch der Banksektor, die Finanz- und Zollbehörden von einer Streikwelle erfasst.« (jw, 01.05.01) Für April drohten Beschäftigte von 40 Transportfirmen mit Arbeitsniederlegungen. In der Basis der Gewerkschaft wurde ein Generalstreik um den ersten Mai diskutiert. In der Kabylei wurde für den 20. 4. zum Generalstreik aufgerufen, anläßlich des Jahrestages des Berberaufstandes 1980.

Lokale Aufstände im Sommer 2000

Gerade nachdem die Preiskontrollen aufgehoben und Subventionen für Lebensmittel weggefallen waren, wodurch die Lebenshaltungskosten drastisch anstiegen, wurden die (relativ) hohen Löhne in den Staatsbetrieben für viele Familien überlebenswichtig. Zudem werden mit den Einkünften von SONATRACH [5] noch rudimentäre Sozialleistungen bezahlt - Sozialwohnungen und Geldleistungen. Abfindungen und Unterstützungen sind gering und werden nicht an alle bezahlt; die Vergabe von Sozialwohnungen dient in vielen Fällen zunächst der Versorgung von Angehörigen der lokalen Herrschenden mit billigem Wohnraum. Daran entzündeten sich im Sommer 2000 örtliche Aufstände: »Während somit das politische Leben durch die Einbindung von Oppositionskräften in die Regierung erstarrt ist, erweist sich die soziale Frage zunehmend als eine Zeitbombe, die in jedem Moment zur Explosion kommen kann. In zahlreichen Gemeinden kam es in diesem Sommer aus Anlass der umstrittenen Vergabe von öffentlich geförderten Sozialwohnungen zu kleinen Volksaufständen. Weil der Verdacht aufkam, daß die mehrheitlich dem Rassemblement pour la démocratie (RND) angehörenden Bürgermeister ihre eigene Klientel begünstigten, wurden die Vergabelisten regelmäßig von Bürgern angefochten, die keine politischen Druckmittel oder Beziehungen im Rahmen von Parteien und Verbänden hatten. In Sidi-Abbès, im Osten Algeriens, führte der angestaute Unmut am 24. Juli zum Aufruhr, nachdem die Behörden die Liste der 1500 erfolgreichen Bewerber ausgehängt hatten, die aus über 10 000 Antragstellern ausgewählt worden waren. Ein wenig erinnerte das Ganze an die Unruhen vom Oktober 1988, als es Angriffe auf das Bürgermeisteramt, die Polizeistation und sogar auf die Amtsräume des Wali (des Regierungspräsidenten) gegeben hatte.« (Le Monde Diplomatique, 13.10.2000)

Der Aufstand in der Kabylei

In dieser Situation, in der schon längst alle Institutionen vor einer »sozialen Explosion« warnen, provoziert das Militär anläßlich der Demonstrationen in der Kabylei zum Jahrestag des sogenannten Berberfrühlings Mitte April dieses Jahres einen Aufstand. Massive Verbände von »anti-riot«-Polizeieinheiten werden in der Region um Tizi Ouzou zusammengezogen, willkürliche Verhaftungen durchgeführt und schließlich ein Jugendlicher am 18. April auf einer Polizeiwache hingerichtet. Die Reaktion der Jugendlichen war vorhersehbar: es kommt zu Plünderungen, über dreißig Kasernen werden angegriffen und teilweise zerstört, Büros staatlicher Institutionen werden in Brand gesteckt. Aber auch in dieser Situation bemüht sich die Staatsmacht nicht um eine Deeskalation; es wird Explosivmunition eingesetzt, Krankenhäuser werden überfallen, verwüstet und mit Tränengas eingenebelt. Auch als am 14. Juni nahezu eine Million Menschen in Algier demonstrieren, bemühen sich die Militärs nach Kräften um eine Zuspitzung der Lage; nach Berichten auch algerischer Zeitungen gingen den Auseinandersetzungen zumeist Provokationen jugendlicher Banden, bzw. von Polizisten in Zivil voraus, die unter dem Schutz der Polizei Demonstranten mit Steinen bewarfen. Auch der Tod zweier Journalisten, die von einem gestohlenen Bus überfahren werden, soll auf das Konto dieser Leute gehen. Wieder werden Krankenhäuser gestürmt und Verhaftete einem lynchbereiten Mob übergeben. Mehr als fünfzig Menschen werden noch seit diesem Tag vermißt. Einige tauchten mittlerweile wieder auf - tot, in die See geworfen oder totgeschlagen.

In den nächsten Tagen wird in vielen Städten die Polizei durch die paramilitärische Gendarmerie ersetzt, die Leute auf offener Straße mit Eisenstangen zusammenschlagen, Büros oppositioneller Zeitungen werden zerstört usw. Auch, wenn viele Berichte übertrieben sein mögen, es ist offensichtlich, daß zumindest von Teilen des Staatsapparates bewußt mit dem Feuer gespielt wurde. Über die Motive kann man spekulieren. Geht es um die militärische Zerschlagung von Basisorganisationen, oder soll der EU die Dringlichkeit neuer Unterstützung vorgeführt werden, bzw. dem IWF klargemacht werden, daß die für dieses Jahr angestrebte Liberalisierung der Wirtschaft nicht durchgeführt werden kann?

Zudem gibt es auch innerhalb der Herrschenden jede Menge widerstreitende Interessen. Viele sehen die Geschichte des Bürgerkrieges in dem Zusammenhang des Kampfes der lokalen Herrscher, ihren Einfluß in ein neues wirtschaftliches System hinüberzuretten oder sich darin erst richtig zu entfalten. 1998 schrieb Werner Ruf, seines Zeichens Professor in Kassel: »Zur Spezifik der Terrorismusbekämpfung und der Bürgerkriegsökonomie in Algerien gehört auch, daß der Staat sich von seinem Gewaltmonopol verabschiedet hat: Anstatt die Bevölkerung zu schützen, hat er diese bewaffnet und aufgefordert, sich selbst zu verteidigen. Die Zahl der Milizionäre und Angehörigen von Dorfverteidigungskomitees wird auf ca. 200 000 geschätzt. Angesichts der ökonomisch katastrophalen Situation, der Verknappung von Grundnahrungsmitteln und Ausrüstungsgegenständen, die weiterhin von mafiosen Gruppen kontrolliert werden, bedeutet Selbstverteidigung auch Selbstbeschaffung lebenswichtiger Güter. So errichten zu Banden degenerierte Milizen Straßensperren auf eigene Faust, führen »Vergeltungsschläge« gegen benachbarte Dörfer aus, alte tribalistische Strukturen werden wiederbelebt, Blutrachemechanismen für Generationen in Gang gesetzt. Es entspricht der Logik dieses Chaos' durchaus, daß in Rachefeldzügen ganze Dörfer ausgelöscht, Industrieanlagen in Brand gesetzt, Bevölkerungsteile zwecks Zahlung von Abgaben terrorisiert werden. Betrachtet man jedoch die Geographie der Massaker genauer und bedenkt man den möglichen Sinn der Zerstörung von industriellen Anlagen, so wird deutlich, daß gerade die massenhafte und bestialische Ermordung der Einwohner und Einwohnerinnen ganzer Dörfer oder von Vierteln der Großstädte sich in jenen Gegenden, wie etwa in der Mitidja-Ebene zwischen Algier und Blida, häuft, wo sich eine hohe Konzentration der Ländereien der ehemaligen colons, also der heutigen Selbstverwaltungsbetriebe befindet. Aufgrund des Umschuldungsabkommen mit dem IWF von 1994 hat sich Algerien verpflichtet, seine Staatsbetriebe bis Ende dieses Jahres zu privatisieren. Um politischem Druck vorzubeugen, erhielten die Beschäftigten dieser Betriebe ein Vorkaufsrecht auf das Land. Ist es aber nicht problemloser für die Barone des Regimes, dieses Land billig dem Staat abzukaufen, nachdem die Bauern vertrieben und so möglicher Widerstand gegen anstehende Entlassungen von vornherein beseitigt ist? Ist es nicht sinnvoll, zerstörte Betriebe zu Schleuderpreisen zu kaufen, um sie dann mit günstigen Krediten und durch die nun möglichen und häufigen joint ventures wieder aufzubauen? Müssen vor diesem Hintergrund nicht Vermutungen plausibel erscheinen, daß an den Massakern auch Todesschwadrone rivalisierender Barone des Regimes beteiligt sind? Ist es tatsächlich ein Anzeichen für den Versuch, das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen, wenn erstmalig Sicherheitskräfte gegen Anhänger des Regimes und deren private Milizen vorgehen wie Mitte April in der Gegend der westalgerischen Stadt Relizan, oder ist dies ein erstes Anzeichen für das Zerbersten der Koalition der Profiteure an der Spitze der Macht?«

Zeitungen wie Le Monde Diplomatique und Frankfurter Rundschau oder auch die Konrad Adenauer Stiftung gehen davon aus, daß spätestens ab etwa 1998 die Massaker zunehmend offen einen materiell diktierten Hintergrund hatten und die islamistische Guerilla keine Bedeutung mehr hat. Braucht also jetzt das Regime eine neue Spaltungsideologie - den berberischen Nationalismus? In diese Richtung gehen die Ankündigungen Bouteflikas, das Tamazight als Sprache zuzulassen auf der einen Seite, während andererseits die gewaltsame Repression der Opposition über die Mobilisierung arabisch-nationalistischer Kräfte läuft.

Eine derartige Strategie ist bislang nicht von Erfolg gekrönt. Nahm der Aufstand seinen Anfang in der Kabylei, so hat er sich mittlerweile über das ganze Land ausgebreitet. Einige der größten Demonstrationen fanden in der Gegend von Oran statt, wo es die letzten zehn Jahre ruhig geblieben war.

Die äußere Situation und die Interessenslage der Herrschenden ist noch halbwegs einzuschätzen. Schwieriger ist es, zu verstehen, wie sich die Jugendlichen organisieren, was ihre Träume und Perspektiven sind. Immerhin währt der Aufstand schon fast drei Monate, also wesentlich länger als 1988. Trotz massivster Staatsgewalt und dutzender Toter und Verschwundener geht die Unruhe weiter.

Wenn wir den Widerstand in den Betrieben hervorheben, so bedeutet dies nicht, daß die Arbeitenden die Masse derjenigen sind, die auf der Straße gegen die Polizei kämpfen. Aber es sind ihre Kinder und Bekannten, und es gibt offensichtlich einen Zusammenhang zwischen den Kämpfen gegen die Umstrukturierung und denen gegen Polizeigewalt und Korruption.

Diejenigen, die einen »konstruktiven« Gehalt der Revolte suchen, beschreiben zumeist die Organisationsversuche der gewerkschaftlichen Basisorganisationen und der Dorfkomitees. Die traditionellen (Oppositions-) Parteien sind Zuschauer, oft sogar Ziel von Angriffen. Das gilt für die sozialdemokratische FFS, wie für die RCD, aber auch für kleine Parteien, wie die Arbeiterpartei von Louisa Hanoune. Den Islamisten ist wohl noch weniger Erfolg beschieden.

Die Gewerkschaftsbasis scheint zumindest in der Kabylei eine gewisse Rolle zu spielen. So nahmen die riots in Bejaja am 13. Juni ihren Ausgangspunkt in einem Streik von ArbeiterInnen einer staatlichen Jutefabrik, die ihre Löhne seit neun Monaten nicht gesehen hatten. Ein anderes Beispiel, ein Zitat aus der Jungle World vom 29. Mai, Gespräch mit Baddradine Djahnine, dem Generalsekretär der Lehrergewerkschaft Sete in der kabylischen Region Bejaïa:

Besteht nicht die Gefahr, dass der Aufruhr allein auf die Kabylei beschränkt und vom Rest des Landes isoliert bleibt?

Die arabischsprachigen Teile sind weit stärker geprägt vom Terror der letzten Jahre, von der Erfahrung des Umkippens der islamistischen Massenbewegung in den Terrorismus. Diese Erfahrungen haben die Spontaneität abgetötet, für ein Misstrauen gegenüber kollektiven Utopien gesorgt. In der Kabylei haben wir andere Voraussetzungen, da der bewaffnete Islamismus zumindest in der Region um Bougie niemals Fuß fassen konnte.

Trotzdem glauben wir, dass der Funke auch auf die arabischsprachigen Landesteile überspringen könnte, wo die grundlegenden sozialen Probleme dieselben sind - wenn es nur einen organisierten Kern gäbe.

Bisher hat das nicht funktioniert.

Nein, nicht so richtig. Es hat Demonstrationen gegeben, bei denen sich in der Regel um die 5000 Teilnehmer versammelten - die Zahlen werden manchmal auch von der unabhängigen Presse aufgebauscht, die derzeit einen schweren Konflikt mit der Regierung wegen des neuen Zensurgesetzes auszufechten hat. Der RCD und der FFS schaffen es bisher noch in der Hauptstadt Algier - deren Einwohner zu 50 Prozent aus der nahegelegenen Kabylei stammen - als Träger der Protestbewegung zu erscheinen. Die Voraussetzungen dort sind andere, denn hier in der Kabylei haben wir beispielsweise den FFS als lokale Regierungspartei in zahllosen Rathäusern erlebt; RCD und FFS haben sich konkret vor Ort diskreditiert.

In der Le Monde Diplomatique von Juli 2001 werden dagegen die Dorfkomitees als Versuche der »alten« Generation Oppositioneller in der Tradition von 1980 gesehen, dem Widerstand eine regionale Identität zu geben. Die Dorfkomitees gründen sich auf eine Vertretungsstruktur, in der nicht gewählt wird, sondern anerkannte und respektierte Persönlichkeiten entscheiden. Sie stehen somit in der Tradition patriarchaler Dorfstrukturen. Ob sie die Revolte repräsentieren, wird zurecht infrage gestellt.

Es sieht so aus, daß sich die Dorfkomitees und andere Organisationen immer wieder als Verhandlungspartner des Staates ins Gespräch bringen wollen. Sie organisieren Protestmärsche und Petitionsübergaben an den Präsidenten, aber regelmäßig läuft ihnen die Situation aus dem Ruder. Die Menschen besetzen zum Beispiel Häuser, die für die Unterbringung der Besucher der sozialistischen Weltjugendfestspiele in Algier geräumt worden sind; sie versuchen die Absperrung von Strandabschnitten für Hotels und Privatvillen rückgängig zu machen; sie greifen Zentren der Ölindustrie an (was in zehn Jahren »Bürgerkrieg« nicht ein einziges Mal vorgekommen ist!) und nehmen die alltäglichen Belästigungen der Militärs nicht mehr hin. Krankenhauspersonal demonstriert gegen Besuche von Parteioberen und versucht, verletzte Jugendliche vor der Polizei zu schützen.

Die Situation ist noch offen. Hoffen wir, daß die Frankfurter Rundschau (ausnahmsweise) recht behält!


Englische und deutsche Informationsquellen:
(Bei Organisationen wie Algeriawatch finden sich viele Links zu frazösischsprachigen Zeitungen)

http://www.jungle-world.com
http://www.en.monde-diplomatique.fr
http://www.waac.org (World Algerian Action Coalition)
http://www.pmwatch.org/awi/ (algeria watch international)
http://dailynews.yahoo.com/full_coverage/world/algeria/
http://www.north-africa.com/one.htm (North Africa Journal)
http://www.arabicnews.com/ansub/index.html
http://middleeastwire.com/algeria
http://www.arabmedia.de/MEPD/digest.htm (wöchentlicher Pressezusammenschnitt)
http://www.algeria-watch.de/index.html
http://www.algeria-interface.com
http://www.merip.org


Fußnoten:

[1] Zitat aus Frankfurter Rundschau vom 31.5.2001.

[2] »Tot« im Sinne einer Oppositionsbewegung; islamistische Parteien sind an der Regierung beteiligt. Die staatliche Politik ist in vielerlei Hinsicht »islamischer« als viele sogenannte Fundamentalisten, z.B. was die rechtliche Stellung der Frauen betrifft.

[3] In einer Konferenz in Barcelona 1995 wurde eine »Europa-Mittelmeer-Partnerschaft« vereinbart. Mit den teilnehmenden Staaten (Maghrebstaaten, Jordanien, Israel, Palästina etc.) wurde keine allgemeine Freihandelszone angepeilt, sondern eine auf Industrieprodukte beschränkte. Zudem auf der Basis von bilateralen Verträgen zwischen den einzelnen Staaten und der EU; eine mit der EU assoziierte Freihandelszone wird momentan wegen der höchst unterschiedlichen Struktur der Staaten des südlichen Mittelmeerraumes als zu gefährlich für das Gleichgewicht gesehen. Zudem erleichtert dieses Modell die Ausrichtung der einzelnen Staaten auf die europäische Wirtschaft: Indem der Handel mit der EG verbilligt wird, fliegen amerikanische und asiatische Waren raus. So wird zumindest kalkuliert.

[4] Front Liberation National, die alte Befreiungsorganisation und spätere Staatspartei.

[5] Ein großer Teil des Staatshaushaltes wird mit den Einnahmen aus dem Energiesektor bestritten und 98 Prozent der Exporteinnahmen stammen daher.


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