Bolivien: Aufstand im Armenhaus Lateinamerikas
Am Montag, den 2. Juli besetzen etwa zweihundert AktivistInnen die Hauptverwaltung der Banken in La Paz, ausgerüstet mit Mollis und Dynamit. Sie entwaffnen die Wachen, werfen Dynamit auf den davorliegenden Platz, verschütten Benzin in einem Stockwerk und drohen, das Gebäude in die Luft zu jagen. Sie nehmen 60 Angestellte als Geiseln. Sie gehören zu den 12 000 SchuldnerInnen, Arbeitern und Bauern, die durch Kleinkredite in die Schuldenfalle geraten sind, und die sich mit dieser heftigen Aktion endlich Gehör verschaffen wollen. Seit mehr als drei Monaten halten sich tausende von ihnen in La Paz auf, um eine Schuldenstreichung zu erreichen. Sie übernachten trotz der eisigen Andenkälte auf der Straße, überleben mit spärlichen Lebensmittelspenden, und sind zum Äußersten bereit. Von der besetzten Hauptverwaltung aus drohen einige per Megafon, sich vor aller Augen umzubringen, falls ihnen keine Lösung angeboten wird. Sechs Menschen haben während der Proteste bereits Selbstmord begangen. Gegen Abend werden die Geiseln freigelassen, nachdem unter Vermittlung der Kirche freier Abzug und die Aufnahme von Verhandlungen über die Schulden zugesichert worden waren. Um drei Uhr nachts wird die Besetzung beendet. Die Regierung hält sich nicht an ihre Zusage. In den folgenden Tagen gibt es Razzien, 70 Leute werden wegen der Aktion verhaftet, aber nach weiteren Protesten wieder freigelassen. Die Schuldenstreichung wurde nicht erreicht, lediglich die Zusage einer Einzelfallprüfung, und daß während der Schlichtungszeit von 100 Tagen keine Zwangsräumungen und keine Beschlagnahmungen von Werkzeug stattfinden.
Dieser Tag ist nur ein Höhepunkt in einer langen Serie von Aufständen und Kämpfen in Bolivien, dem Musterland von Weltbank und IWF, und dem zweitärmsten Land Amerikas. Im April 2000 führt der Versuch, die Wasserversorgung in der 600 000-EinwohnerInnen-Stadt Cochabamba zu privatisieren, zum »Wasserkrieg«, einem Aufstand, der eine Woche lang die ganze Stadt lahmlegt. Gleichzeitig blockiert die Kleinbauerngewerkschaft CSUTCB die Überlandstraßen, und Polizeieinheiten streiken für Lohnerhöhungen. Die Regierung muß die Privatisierungspläne zurückziehen. Ein paar Monate später fangen die LehrerInnen an zu streiken, und schon im September beginnen neue Blockaden der Kleinbauern, die drei Wochen lang das ganze Land lahmlegen. In den Städten kommt es zu Versorgungsengpässen, die Regierung Banzer setzt Militär ein, und an den Barrikaden gibt es viele Tote und Verletzte. Im Chapare, dem Coca-Anbaugebiet unterhalb von Cochabamba, eskaliert der Konflikt zwischen Coca-BäuerInnen und Militär. Die Regierung hat den Coca-Anbau in dieser Gegend für illegal erklärt und will sämtliche Coca-Sträucher ausrotten. Die Coca-Bauern sind größtenteils ehemalige Bergarbeiter, die hier nach ihrer Entlassung aus den Minen Mitte der 80er Jahre ein neues Auskommen gefunden haben. Nochmal lassen sie sich nicht ihrer Existenzgrundlage berauben. Die Parole heißt: Coca o muerte - Coca oder Tod - Wir werden siegen.
Im April 2001 brechen tausend Menschen zu einem Marsch »Für das Leben und die Souveränität« von Cochabamba in die 500 km entfernte Hauptstadt La Paz auf. Aufgerufen hat das Aktionsbündnis Comunal in dem sich Coca- und Kleinbauern, informelle ArbeiterInnen, Indigena-Organisationen, die KleinschuldnerInnen sowie die »Wasserkoordination« aus Cochabamba zusammengeschlossen haben. Neben verschiedensten Einzelforderungen der beteiligten Gruppen fordern sie vor allem den Rücktritt des Ex-Diktators Banzer und die Rücknahme des Dekret 21060, das 1984 die neoliberale Privatisierungspolitik eingeleitet hat. Trotz mehrerer Angriffe von Polizei und Militär kommt der Marsch auf Umwegen in der Hauptstadt an, wo er besonders in der ärmeren Oberstadt El Alto von Tausenden begeistert empfangen und unterstützt wird. Bei der Ankunft im Zentrum wird der Marsch von der Polizei mit Tränengas angegriffen, wobei ein Busschaffner und eine ältere Frau sterben. Danach kommt es noch zu einigen Blockaden. Wegen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Bauerngewerkschaften (Hochlandbauern / Cocabauern in den Tropen), bzw. zwischen ihren Anführern, kommt diesmal aber keine größere Bewegung zustande.
Am 7. Juni betreten 12 000 Menschen einer politisch längst totgesagten Gruppe unerwartet die Bühne von La Paz: die Bergarbeiter. Mitte der 80er Jahre waren die staatlichen Minen in Bolivien geschlossen und 30 000 Bergarbeiter entlassen worden. Der kämpferischste Teil der Arbeiterbewegung sah sich zur Migration gezwungen. Eine Überlebensmöglichkeit bot der bereits erwähnte Coca-Anbau im tropischen Chapare. Andere zogen in Richtung Hauptstadt, wo sie größtenteils auf der zugigen Hochebene in El Alto landeten, einer expandierenden Armutsstadt ohne Infrastruktur, aber mit riesigem informellen Sektor und Straßenmarkt. Ein Teil der Bergarbeiter aber blieb bei den Gruben. Sie gründeten Kooperativen und begannen auf eigene Faust zu schürfen. Inzwischen arbeiten dort wieder fast 50 000 Arbeiter. Bei einem 12-Stunden-Tag unter lebensgefährlichen Bedingungen kommen sie auf 110 US-$ im Monat. Ein Drittel des Exportes von Bergbauprodukten wird von den 500 Kooperativen gefördert.
Als die Bergarbeiter und ihre Frauen in La Paz ankommen, sind das Bild und der Sound dieselben wie bei dem »Marsch für das Leben«, mit dem sie vor 15 Jahren gegen die Entlassungen demonstriert haben: Grubenhelme und Dynamitgetöse. Vor dem Tränengasangriff der Bullen laufen sie nicht wie sonst bei Demos üblich weg, sondern antworten mit Dynamit. Die Bullen müssen ihnen teilweise das Zentrum überlassen. Bei den stundenlangen Straßenschlachten werden zwei Bergarbeiter schwer verletzt.
Die Kooperativen fordern für die Reaktivierung des Bergbausektors erweiterte Abbaukonzessionen und die Überlassung der Maschinerie, sowie 100 Millionen US$ und 30 Prozent der Entwicklungshilfegelder aus dem HIPC II Programm. Nach vier Tagen in der Hauptstadt und Verhandlungen, an denen etwa 200 Delegierte teilgenommen haben, unterschreiben sie eine Vereinbarung, in der es zwar nur um einen Bruchteil der geforderten Geldsummen geht, die aber alte Forderungen enthält, die nie verhandelt worden waren, und die somit zum ersten Mal von Regierungsseite aus die Existenz der Bergarbeiter als Kooperativisten anerkennt. Nach der Freilassung aller Verhafteten und Entschädigung der Verletzten verlassen die KooperativistInnen La Paz, mit der üblichen Drohung wiederzukommen, falls die Regierung sich nicht an die Zusagen hält.
Gleichzeitig zur Aktion der Bergarbeiter, mit denen sich die Coca-Bauern im Chapare durch Demonstrationen solidarisieren, finden verschiedene andere Kämpfe statt: im Gesundheits- und Bildungsbereich wird einen Monat lang gegen Privatisierungspläne gestreikt, die schließlich zurückgenommen werden müssen; hundert pensionierte LehrerInnen befinden sich im Hungerstreik für die Rückgabe von Beiträgen zu einer Versicherung, die tatsächlich nie abgeschlossen wurde; in verschiedenen Fabriken finden Streiks statt. Die LKW-Fahrer blockieren die Überlandstraßen, für bessere Straßen und weniger Gebühren. Bei Auseinandersetzungen mit den Bullen an den Blockaden werden Fahrer verletzt und viele LKWs beschädigt. Nach sieben Tagen und Zugeständnissen der Regierung werden die Blockaden aufgehoben.
Am 21. Juni beginnen die Bauern auf dem Altiplano, dem Hochland, wieder mit Blockaden - für Land, gegen den Neoliberalismus und gegen die Antidrogenprogramme. In die Yungas, ein traditionelles Coca-Anbaugebiet im Hochland, das bisher im Gegensatz zum Chapare in Ruhe gelassen worden war, sind inzwischen ebenfalls Militärs und Antidrogeneinheiten eingefallen. An den Blockadepunkten ermordet das Militär zwei Bauern. Gegen den Anführer der Bauerngewerkschaft Felipe Quispe hat die Regierung Anklage erhoben und einen Haftbefehl erlassen.
Nach der Besetzung der Bankenhauptverwaltung durch die SchuldnerInnen spitzt sich die Lage weiter zu. Die SchuldnerInnen haben sich in der Universität verschanzt; verschiedene Gruppen demonstrieren in den Straßen; in den Knästen finden Hungerstreiks und Protestaktionen statt. Gegen die blockierenden Bauern hat die Regierung Panzer auffahren lassen. Die haben ihrerseits erklärt, daß sie genügend Lebensmittelvorräte haben, um die Blockaden drei Monate lang durchzuhalten. Felipe Quispe kündigt am 8. Juli eine Belagerung von La Paz an: dies sei der richtige Moment, denn es gäbe noch nicht mal mehr einen Präsidenten. Bei Banzer wurde Krebs in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert, und er befindet sich in den USA zur Behandlung.
Die aktuellen Informationen stammen vor allem aus den Berichten der Juventudes Libertarias aus Bolivien, zu finden bei www.argentina.indymedia.org (spanisch) und www.ainfos.ca (spanisch und teilweise englisch). Das Aprilheft der ILA (Nr. 244) hat Bolivien als Schwerpunkt. Weitere Artikel zu Bolivien sind zu finden in den ILA-Heften Nr. 235 (Wasseraufstand), Nr. 240 (Blockaden im Oktober 2000) und Nr. 246 (Spaltung der Bewegungen).