Wildcat-Zirkular Nr. 59/60 - Juli/August 2001 - S. 57-62 [z59tuteb.htm]


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Vorbemerkung zum Artikel »Demaskiert die weißen Überzieher« aus Umanità Nova

Wir haben den Text aus dem Englischen übersetzt, nicht vom italienischen Original. Er beschreibt ganz kurz die Geschichte der Tute Bianche. An einer Stelle sollte man vielleicht für die deutschen LeserInnen etwas weiter ausholen. Wenn im Artikel steht: »Als Folge dieses 'neuen' politischen Kurses fand seit 1998 innerhalb der antagonistischen Bewegung ein tiefer Bruch statt ...«, so ist es richtig, um diese Zäsur und die heutige zugespitzte Situation deutlich zu machen, wo sich Anarchos und Tute Bianche teilweise körperlich angreifen. Aber es könnte den falschen Eindruck erwecken, früher sei das in Italien anders gewesen. Dabei kommen gerade die Tute Bianche aus einer Tradition (ihre Führer zudem größtenteils auch aus einer Organisation), in der Gewalt gegen andere Linke schon immer benutzt wurde, um die eigene Position durchzusetzen (die Organisierte Autonomie / Padua hat in den 70ern und 80ern Leute aus Demos geprügelt, Kongresse anderer linker Gruppen überfallen und Leute krankenhausreif geschlagen).

Mit dem Zerfall der radikalen Linken sind in Italien im großen und ganzen drei Strömungen »entstanden«: die (im Artikel erwähnten) Squatters (hauptsächlich in Turin), die nur ihr Haus (sie nennen das »besetzte Orte«) sehen und einen antikommunistischen, organisationsfeindlichen Individual-Anarchismus vertreten. Andere anarchistische Gruppierungen (zu denen auch der Autor des Artikels gehört) sammeln sich um Alternativgewerkschaften. Und die dritte Strömung entstand aus einem Zusammenfließen der zu Unternehmen gewordenen Centri Sociali mit den Post-Autonomen aus Padua und dem Veneto (von denen im Anhang viele zitiert werden). Zur Klarstellung: nicht alle Centri Sociali haben dabei mitgemacht! Es gibt viele, die sich gegen die Tute Bianche auch öffentlich ausgesprochen haben. Und zur Erklärung: es gibt seit Jahren eine Debatte in Italien über die Centri Sociali als Unternehmen; damit ist gemeint, dass sie bestimmte Bereiche regelrecht monopolisieren (bestimmte Konzerte, Handel mit weichen Drogen; inzwischen auch eine bestimmte Gastronomie); der italienische Staat hat sie ebenfalls seit Jahren als gesundheitspolitische Vorposten benutzt und einige Centri dafür bezahlt, dass sie sanitäre Versorgung für Illegale, Obdachlose usw. deutlich unterhalb der üblichen Levels sicherstellen.

Die Post-Autonomen haben seit ihrer Wende auf den Listen von DS, Rifondazione und den Grünen kandidiert, sind darüber zu teilweise einflussreichen Kommunalpolitikern geworden und schlagen auf alle ein, die von Arbeiterklasse sprechen.

Mir ist diese Vorbemerkung wichtig, weil ich eine Kontinuität sehe zwischen dem »Politikmachen« der Organisierten Autonomie und dem, was sie heute tun. Außerdem beziehen sich Arranca! und die AAB explizit darauf, dass sie »aus Italien« bestimmte Politikformen einführen möchten, und damit meinen sie genau die mediale Effizienz von Ya Basta! und den Tute Bianche. Zu diesem »Politikmachen« gehörte bei der Organisierten Autonomie in Italien auch schon immer eine gehörige Indifferenz den Inhalten gegenüber: wenn alle von Klassenkampf sprachen, dann tat man das auch, wenn alle von Ökologie sprachen, dann organisierte man Umwelt-Camps usw. - und das funktionale Verhältnis den Mitteln gegenüber, mit denen man Leute rekrutiert (Rock-Konzerte in den 70ern, Videos in den 80ern ... heute »Pop-Antifa«?? [siehe Bericht zum Göttinger Antifa-Kongreß]).J.


Demaskiert die WEISSEN ÜBERZIEHER

Die Geburt der sogenannten »Bewegung in weißen Overalls« geht zurück auf das Jahr 1998. Damals beschlossen die Centri Sociali, die sich auf die »Carta von Mailand« beziehen, sich - auch in ihrem Image - vom Rest der antagonistischen Bewegung abzuspalten, der die politischen Positionen, die in jenem Dokument zum Ausdruck gebracht werden, nicht übernahm. Die »Carta von Mailand« geht zurück auf eine Versammlung in jener Stadt am 19. September 1998 im Centro Sociale Leoncavallo. In der Carta scheinen verschiedene Linien zusammenzutreffen, die es innerhalb der Centri Sociali wie dem Leoncavallo, dem »Verschmelzen« der Centri Sociali im Nordosten Italiens (Padua, Mestre, der Veneto usw.) und einiger in Rom (Corto Circuito, Forte Prenestino) gab. Später kamen auch Centri in Ligurien und Marche hinzu.

Diese Linien waren nicht gänzlich homogen, aber sie hatten sich in der vorangegangenen Periode um jene Aktivisten herum entwickelt, die eine Neudefinition und eine neue politische Rolle suchten. Die Praxis wurde in Verbindung mit der institutionellen »Linken« durchgeführt, sowie auch mit Vereinen, besonders den katholischen. Gleichzeitig waren Verhandlungen geführt worden mit Bürgermeistern - auch den rechten -, um politische Anerkennung zu erreichen, und besetzte Centri waren legalisiert worden mit der Begründung, sie böten öffentliche Dienstleistungen und Unterhaltung an, organisiert durch soziale Kooperativen mit Verbindungen zum »Non-Profit«-Sektor.

In Mestre (Venetien) endeten die Verhandlungen damit, dass der Stadtrat das besetzte Centro »Rivolta« - eine ehemalige Fabrik - von öffentlichen Geldern für etwa 1 Mio US$ kaufte, mit Unterstützung des Benetton-Konzerns und darauffolgender Legalisierung.

Diese politische »Wende« - für die es Applaus sowohl von der linken Presse als auch vom Fernsehen gab - wurde dann als Konsequenz einer theoretischen Revision präsentiert, bei der davon ausgegangen wurde, dass die Periode des Klassenkampfs und der kommunistischen Subversion zuende sei, und eine nicht genau definierte »zivile Gesellschaft« als neuer Gesprächspartner anerkannt wurde. Als neues strategisches Ziel wurde eine »konfliktive Reform der Wohlfahrt« [des Sozialstaats, sie haben die Gewohnheit, immer nur »welfare« zu sagen ohne »Staat«, als könne man so den Staat weg-denken; Anm. d.Ü.] ausgegeben, durchzusetzen mittels der Forderung nach universellen Rechten, in erster Linie nach einem »Bürgergeld«.

Bei ihrer Praxis, der diese Sichtweisen zugrunde lagen, entdeckten die Centri Sociali der Mailänder Carta einen merkwürdigen Föderalismus. Kommunalismus und Selbstregierung nicht als radikale Alternativen für die Selbstorganisation, sondern eher als ein »neues« Modell demokratischer Teilnahme und politischer Vertretung innerhalb von Institutionen wie etwa den örtlichen Verwaltungen. Das ging soweit, dass das Leoncavallo zur Bürgermeisterwahl in Mailand einen Christdemokraten unterstützte.

Während man sich hinter dem Banner des Neo-Zapatismus versteckte, bestand der nächste Schritt darin, dass Mitglieder dieses Bereichs auf den Listen der Grünen Partei oder der Rifondazione Comunista an Gemeinderatswahlen teilnahmen, ohne gegenüber den Mitte-Links-Regierungen auch nur etwas Opposition auszudrücken. Luca Casarini, ein Sprecher (in Wirklichkeit: Führer) der Weißen Überzieher wurde zum Berater von Livia Turco ernannt, der Sozialministerin, die für das Gesetz verantwortlich zeichnet, das Konzentrations-»Lager« vorsieht für Einwanderer ohne Papiere oder Aufenthaltserlaubnis, die auf die Abschiebung warten.

Als Folge dieses »neuen« politischen Kurses fand seit 1998 innerhalb der antagonistischen Bewegung ein tiefer Bruch statt, bei dem auf der einen Seite die Weißen Überzieher sich mehr und mehr am institutionellen und sozialdemokratischen Umfeld beteiligen. Auf der anderen Seite Centri Sociali, besetzte Häuser und Erfahrungen sozialer und syndikalistischer Selbstorganisation, die ihren Bezugspunkt in der »Autonomie der Klasse« oder den verschiedensten Ausdrücken des Anarchismus sehen, die von Besetzern bis zur Anarchistischen Föderation (FAI) reichen.

Was die Verwerfungen noch verschlimmerte, war während Demonstrationen die Frage des sogenannten »zivilen Ungehorsams«. Bei mehr als einer Gelegenheit wurde deutlich, dass Zusammenstöße zwischen den Weißen Überziehern und der Polizei vorher abgesprochen worden waren, wie es am 1. Februar 2000 in der Tageszeitung Il Manifesto öffentlich gemacht wurde, in einem Artikel von Livio Quagliata mit dem Titel »Stadtguerilla? Aber bitte...« Des weiteren waren die Weißen Überzieher bei mehreren Gelegenheiten und an verschiedenen Orten (Bologna, Aviano, Treviso, Triest, Venedig, Rovigo...) verantwortlich für körperliche Angriffe, Drohungen und Denunziantentum gegen Autonome, Anarchisten, revolutionäre Kommunisten und andere Teile der Bewegung für Selbstorganisation, da diese die politische Hegemonie zurückweisen, die die Weißen Überzieher mit Hilfe der Medien gerne der gesamten Oppositionsbewegung aufzwingen würden.

Sandra K.

 

Erklärungen und Interviews

»Sorry Genossen, aber wir halten eure prinzipielle Unnachgiebigkeit und Verweigerung jeglicher Vermittlung gegenüber den Institutionen eher für anarchistisches Denken und populistischen Maximalismus, wie es die frühere linke Organisation Lotta Continua vertrat, als dass es unserer politischen Formation von Aktivisten entsprechen würde. Das muss nicht falsch sein, wir müssen das nur klären. Erlaubt uns nur die Bemerkung, dass die neo-anarchistischen Propagandisten der direkten Aktion und die fundamentalistischen und orthodoxen Neo-Kommunisten denselben Extremismus in pseudo-revolutionärer Sprache miteinander gemein haben.« (Aus der Erklärung »Camminiamo interrogandoci [Spruch der Zapatisten: im Gehen fragen wir uns]« von Radio Sherwood in Padua, einer Antwort auf das Movimento Antagonista Toscano vom Oktober 1996 [Radio Sherwood ist das Organ der Paduaner Post-Autonomen])

»Der Staat ist nicht mehr der Feind, den es zu stürzen gilt, sondern der Gesprächspartner, mit dem wir diskutieren müssen. Und die Wohlfahrt ist der einzige Schutz gegen den entfesselten Markt.« (Interview mit Luca Casarini, Beilage zur Tageszeitung Il Gazzettino 23.4.1998)

»Die Turiner Squatters stehen uns sehr fern, wir diskutieren mit den Institutionen und arbeiten an Projekten und Initiativen. Sie besetzen die Häuser einfach nur, um dort zu leben und sich vom Rest der Gesellschaft zu isolieren. Gestern rief mich Valentino Castellani [der Bürgermeister von Turin] an und bat mich um Hilfe. Wir haben ein Treffen verabredet.« (Interview mit Luca Casarini, April 1998)

»Im Nordosten des Landes haben wir in den Centri Sociali neue Kader produziert, ernsthafte Leute wie Luca Casarini. Sie sind unsere Leute, oder etwa nicht? Jetzt orientieren sich einige Centri Sociali darauf, als selbständige Unternehmen zu operieren. Sie haben mit Cacciari (dem damaligen Bürgermeister von Venedig) einen intelligenten Gesprächspartner, sie denken wie eine demokratische Lobby.« (Interview mit Fausto Bertinotti, Sekretär der Partei Rifondazione Comunista, in Il Manifesto vom 16. Juli 1998)

»Der Tag, an dem sie uns nicht mehr »Autonome« nennen, wird ein Festtag. (...) Wir haben die Ideologie hinter uns gelassen.« (Interview mit Max Gallob, Sprecher des Centro Sociale Pedro in Padua in der Tageszeitung Il Gazzettino vom 15.3.2000)

»In Davos haben wir, gemeinsam mit Josef Bové, dem Führer der französischen Bauern, das Megafon genommen und dazu aufgerufen, diejenigen zu isolieren, die Schaufenster einwarfen. Wir hatten Erfolg damit, denn wir hatten die Unterstützung der jungen Leute aus den Centri Sociali von Mestre. (...) Ich traf mich mit den Jungs aus den Centri Sociali von Mestre und Padua, die Manconi (ehemaliger Sekretät der Grünen Partei) mitgebracht hatte. Ich sprach mit ihnen und machte ihnen klar, dass sie bei der ersten gewaltsamen Aktion weggejagt würden. Danach hörte ich mir ihre Argumente an. Und tatsächlich standen sie in Davos auf unserer Seite, sie haben keine Mollies geworfen.« (Interview mit Grazia Francescato, Parlamentsabgeordnete und Führerin der Grünen Partei in der Tageszeitung Corriere della Sera vom 25.5.2000)

»Im Antiquitätenladen finden wir die Reste revolutionärer Traditionen, die im Verlauf des Zwanzigsten Jahrhunderts an uns vorbeizogen: die kommunistische, die anarchistische, die operaistische und andere. Sehen wir sie uns an, ohne Illusionen darüber, was sie sind: Fragmente einer vergangenen Zeit, die mit all ihrer Pracht und ihrem Elend, ihren Siegen und Niederlagen nie mehr wiederkehren kann, nie mehr wiederhergestellt werden kann.« (Aus einer Erklärung der Redaktion von Radio Sherwood, Frühling 2000)


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