Grauer September
»Wie üblich wird nichts sein wie zuvor« (Die Presse)
Nach nur drei Tagen war der aufgeklärte Europäer unschlagbar darin, die Konstruktion der Twin Towers zu erklären. Zwei Wochen später konnte er Hérat und Kandahar auf einer Landkarte finden. Kaum hatte er die Existenz eines Feindes der Menschheit entdeckt, da lernte er schon, daß dieser neue Feind der menschlichen Gattung ein Produkt des Westens war. Was heute zum Absoluten erhoben wird, wird morgen schon wieder relativiert, auf jede Lüge folgt ihre Widerlegung. Jeder »Fakt« existiert ausschließlich in der ewigen Gegenwart und verliert damit jede Bedeutung. Keine Gesellschaft hat jemals eine solche Aufeinanderfolge von partiellen Selbstkritiken erlebt.
Jede »radikale« Aktivität, die sich nicht außerhalb der Logik dieser permanenten Entrüstung stellt, setzt sich jedesmal der Gefahr einer nachträglichen Berichtigung im Radio aus.
Man muß schon verdammt naiv sein, um den offiziellen Versionen Glauben zu schenken (kennen wir 39 Jahre nach der Ermordung eines US-Präsidenten die Verantwortlichen?). Da die Vereinigten Staaten ihren Anteil am Aufstieg des Politischen Islam haben, sollte man das, was über das angebliche »Netzwerk« geschrieben wird, nicht allzu ernst nehmen, denn 99 Prozent der Informationen stammen aus Geheimdienstquellen. Es wäre aber noch naiver, grundsätzlich den Gegenstandpunkt zu den offiziellen Wahrheiten einzunehmen.
»Am teuersten ist die Haut des Weißen« (G. Chaliand)
Die Leichen zählen nicht gleich viel. Sich darüber zu empören, ist nutzlos. Da die öffentliche Meinung an den Staat glaubt, findet sie sich eher mit der Staatsgewalt ab als mit der von Individuen oder Gruppen. In den Augen des Staatsbürgers ist der Mörder in Uniform (den man hofft, zur Vernunft bringen zu können) mehr wert als ein gesetzloser Mörder.
Es ist viel verlangt von einer Zivilisation, daß sie sich ihrer Vergänglichkeit bewußt wird. Noch mehr, zu erkennen, daß sie todbringend ist.
Tausende New Yorker, vom Tellerwäscher bis zum Yuppie, sind als Fußtruppen eines Systems gefallen, welches sie doppelt platt gewalzt hat, indem es die verstorbenen Lohnabhängigen als Helden feiert und ihren Tod genauso ausbeutet wie ihr Leben. Als Dank für ihre Ergebenheit verkaufte ihnen diese Gesellschaft das, was sie für größtmögliche Sicherheit hält. Sie waren mit größeren oder lächerlich kleinen Krümeln beteiligt. Und solange sie das Chaos auf der Erde nur auf CNN vorbeiziehen sahen, bildeten sie sich ein, daß es ausschließlich auf dem Bildschirm stattfindet. Es waren Arme von überallher.
Ein New Yorker erklärte, daß er von nun an wüßte, wie gefährlich es sei, im Herzen der Weltwirtschaft zu leben. Leben bedeutete für ihn bisher, in Ruhe seine Arbeit zu verrichten, ohne sich über Hintergründe und Auswirkungen Gedanken zu machen, ohne sich zu fragen, was Weltwirtschaft und ihr Herz bedeutet, welchen Risiken Milliarden von Menschen an ihrer Peripherie ausgesetzt sind. Das ist die Welt, die unbewohnbar ist.
Man ist schockiert über solche Selbstmordattentate, über solch einen zerstörerischen Nihilismus. Es war aber nicht Marx, der die »schöpferische Zerstörung« als Charakteristikum des Kapitalismus bezeichnete, sondern Schumpeter, ein Liberaler und Pessimist. Die beiden vergangenen Jahrhunderte bestätigen eher den »Marx'schen Katastrophismus« als den reformerischen Optimismus.
Es wird auch vergessen, daß die meisten Religionen Vorstellungen von einer besseren Welt haben, die sie der unsrigen vorziehen. Es stimmt, daß unsere Epoche im Namen der Toleranz die Ablehnung der Religion wenig schätzt und den Antiklerikalismus für überholt hält. Die Erklärung, Jesus, Buddha oder Mohammed nicht gut zu finden, reicht aus, um einen Skandal auszulösen. Dies bedeutet, daß der Atheismus künftig nur als ein Glaube unter vielen durchgehen wird und der Laizismus als größtmögliche antireligiöse Haltung. Das 21. Jahrhundert fällt hinter das 18. Jahrhundert zurück.
Der Akt des Selbstmords ist in Anlehnung an Descartes der Wille, »Gebieter und Besitzer der Natur zu sein«, eine mörderische Utopie, deren mythischer Ort die Vereinigten Staaten sind: Die Illusion eines aus eigener Kraft geschaffenen self made man, eines Landes ohne Volk für ein Volk, das kein Land mehr braucht, weil es glaubt, ohne Erde auszukommen, und das die Natur in Erholungsgebiete in Form von Nationalparks umwandelt.
Die vertikale (Wolkenkratzer) und horizontale (Megastädte) Ausdehnung gilt als Beweis von Allmacht: sich alles auf der Erde einverleiben, um es uns in Form eines Konzentrats an beschleunigtem Leben zurückzugeben.
Zuweilen offenbaren jedoch ein riesiger Stromausfall, die Warnung vor einer Nuklear- oder Hungerkatastrophe, ein gestrandeter Öltanker, die Explosion einer Chemiefabrik, ein Tornado oder ein größeres Attentat die Verletzlichkeit einer Welt, die auf der Zirkulation gründet, aber gezwungen ist, Wert zu realisieren und zu akkumulieren, indem sie ihn immer mehr fixiert: sie erhöht das Gewicht, um das Leichte zu bekommen, das Materielle, um Immaterielles zu erhalten, sie verwandelt Stahl und Glas in Nullen und Einsen, stockt den Lagerbestand auf, um den Warenfluß zu erhöhen. Die angebliche Virtualisierung vermehrt in Wirklichkeit Maschinen, Fortbewegungsmittel und Warenlager. Kein riesiges Unternehmen ohne riesige Gebäude. [1] Die eingestürzten Türme entsprechen einer Stadt, zwei vertikalen Fabriken. Jeder Durchgang ist Quelle neuer Hindernisse: Je mehr die Mobilität triumphiert, desto verwundbarer ist sie für elekronische Viren, für die Vergiftung des Wassers und der Lebensmittel.
In dem Spiegel, den der Mörderschüler seinem Lehrmeister vor die Nase hält, entdeckt dieser, daß die Dinge, die sein Leben erhalten und bereichern sollten, zu einem gewaltsamen und massenhaften Tod führen können: das Flugzeug und der Wolkenkratzer. Brauchte es den 11. September, um zu begreifen, daß jedes technische Gerät Krieg und Tod bringt? Erst die Eisenbahn hat die Todeszüge ermöglicht. Ein Kettenfahrzeug kann ebensogut ein Panzer wie ein Traktor sein. Ein Flugzeug bringt einen auf die Hochzeitsreise oder überfliegt am 6. August 1945 Hiroshima. Die Schamlosigkeit oder schlimmer noch: Gedankenlosigkeit, die in einer Gesellschaft vorherrscht, die dies erst nach so langer Zeit begreift, genügt, um sich ein Urteil über sie zu bilden.
Der Terror als Realität und als Repräsentation
Lassen wir einmal den Illegalismus und die als anarchistisch bezeichneten Gewalttaten beiseite, die nichts mit dem Thema zu tun haben. [2] Was immer man über Action Directe und die Sackgasse denkt, in der sie sich engagiert hat, so trennt doch ein Abgrund die Ermordung des Generaldirektors von Renault von dem willkürlichen Tod von Tausenden von Menschen in zwei Bürohochhäusern, auch wenn diese im weltweiten Finanzzentrum stehen. Wir werden hier auch nicht den jakobinischen Terror der Jahre 1792-94 erörtern, der in den Schulbüchern lange Zeit gerechtfertigt wurde. [3]
Die beschwörende Wiederholung der Worte »Terror« und »Terrorismus« verwandelt jeden in einen Unschuldigen und erklärt uns alle für nicht verantwortlich: ständig wird wiederholt, daß die in den Türmen Beschäftigten nichts mit dem Lauf der Welt tun hatten, daß der Kapitalismus von sich aus voranschreitet, trotz der Arbeiter, die ihn am Laufen halten, trotz der Händler, trotz der Buchhalter, trotz jedem von uns. Der Erfinder der Bombe aus Plastikkugeln (die mit Röntgenstrahlen nicht zu orten ist), war vielleicht ein anständiger Mensch. In Amboise bewundert der Besucher heutzutage Leonardo da Vincis Entwürfe von Kriegsmaschinen: Leonardo, ganz das Gegenteil eines Grobians, ein Künstler, der als Gesprächspartner mindestens soviel zählt, wie ein Angehöriger der New Yorker Mittelklasse. Im World Trade Center sind unzählige Finanzanalysten ums Leben gekommen. Zu behaupten, sie seien unschuldig am Schicksal des Planeten und sich über den Hass zu wundern, den ein Ort wie Manhattan hervorrufen kann, ist genauso absurd wie zu glauben, daß man den Kapitalismus trifft, indem man sie tötet. Der Leser der New York Times lebt in einer Traumwelt und ist entsetzt, wenn sich diese in einen Albtraum verwandelt, aber die einzige Möglichkeit, diesem Albtraum zu entfliehen, besteht darin, endlich aufzuwachen. Wenn wir es sind, die diese Welt erschaffen, können wir sie uns genauso gut vom Halse schaffen und sie neu erschaffen.
Die Bestürzung über den Terror, auch wenn man klischeehaft den »Staatsterrorismus« anklagt, ist immer das beste Mittel, um die Frage nach der Ablehnung der sozialen Ordnung nicht zu stellen. Das bedeutet immer Akzeptierung durch Unterlassung. Wer sich als Opfer sieht, wirkt an seiner eigenen Enteignung mit.
Es scheint eine allgemeine Übereinkunft zwischen Regierenden und Regierten zu geben, die Situation in Begriffen von »Terrorismus« zu erklären, d.h. sich der Situation nicht zu stellen. Kapitalisten und Lohnabhängige scheinen gemeinsam das Problem (und seine Lösung) außerhalb des Widerspruchs zu verweisen, der sie verbindet und zu Gegnern macht.
Auf der Seite der Lohnabhängigen verkörpert der Terrorist die Unterdrückung derjenigen, die die Morgenfähre nach Manhattan oder die Metro in Rom nehmen - in einer Zeit, wo die Lohnarbeit zusehends zu einem unpersönlichen Verhältnis wird. Nur wenige kennen ihren Chef, und der Begriff »Eigentümer« des Unternehmens löst sich auf. Von den »200 Familien« [Anm. 1] zu den »Managern«, weiter zu den »Multinationalen« und schlußendlich zu den »Finanzmärkten«: die Herrscher der Welt erscheinen zusehends diffuser und weniger greifbar. Man spricht nicht mehr von den »Börsianern« und immer weniger von den »Spekulanten«, sondern der Markt selbst wird zur Person. Das Geld bleibt schlußendlich die greifbarste Realität, aber es ist unmittelbar und vergänglich und bietet aus sich heraus keinen Schlüssel zum Verständnis der Welt. Dieses Ganze, welches wir jeden Tag aufs Neue reproduzieren, läßt uns die Bedeutung seiner Totalität vergessen. Jeder weiß, daß uns ein »Ganzes« dominiert und daß es nicht vom Himmel fällt, sondern wir es produzieren, aber jeder hält es auch für nicht greifbar; denn dieses »wir« zerfällt genau in dem Maß, in dem es dieses Ganze produziert. Es bleibt nicht mehr davon übrig als ein Staub von ICHs, die nur noch in der Lage sind, sich im Konsum zu bestätigen, den eigenen Körper und die eigene Privatsphäre zu pflegen, aber nicht, sich in einem »Wir« neu zusammenzusetzen, welches imstande ist, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen.
Verlust der Totalität, sagte Lukács 1923. [Anm. 2] Verlust der Orientierung, sagt der Psychologe. Die Wirkung des Attentats verdoppelt unsere kollektive Nichtexistenz: indem es uns als Nichts behandelt, erinnert es uns daran, daß wir Nichts sind. Aber es schafft diesen Zustand nicht, sondern nutzt ihn nur aus und hebt ihn hervor. Unter der Herrschaft der Ware und der Lohnarbeit ist die Angst ein soziales Verhältnis. Diese These halten nur diejenigen für übertrieben, die Kafkas Prozeß nicht mit den Konzentrationslagern in Verbindung bringen können.
Der moderne Lohnabhängige hat keine Illusionen, außer der einen: er glaubt sich Kräften preisgegeben, die er nie wird kontrollieren können. Dieses Unbekannte, nicht Greifbare erhält durch das Bild des »Terroristen« ein Gesicht. Damit befördert diese Illusion das entgegengesetzte Bild des Staates als Schutzwall, der uns vor dem Terror schützen wird, egal, was wir ansonsten darüber denken: ob Bin Laden nun ein Produkt Bushs ist oder nicht, trotzdem ist Bush mehr wert als Bin Laden.
Das schwache Niveau der Klassenkämpfe hält diese Passivität aufrecht und führt dazu, daß man die ständig neuen emotionalen Schocks akzeptiert, die immer schneller veralten. Es ist kaum verwunderlich, daß sich ein Teil der sogenannten zivilisierten Menschheit beim Einsturz eines ihrer Symbole kurz geistig verbunden gefühlt hat.
1970 waren die in Indochina getöteten GIs in den Vereinigten Staaten wie im Rest der Welt Anlaß für Auseinandersetzung und Kritik an der amerikanischen Regierung und am amerikanischen Lebensstil. Heute lösen andere gewaltsam ums Leben gekommene Amerikaner eher Zustimmung aus, zumindest an der Oberfläche. In dreißig Jahren ist der rebellische Schwung zurückgegangen, von seinen eigenen Widersprüchen besiegt, mundtot gemacht, vereinnahmt worden. Im Jahre 2001 sind die Vereinigten Staaten überall, in Westeuropa, in Japan, aber auch in Sao Paulo oder Seoul. Über Autobahnkreuze und Computeranschlüsse verursacht die Amerikanisierung den Amerikanismus. Wer aber die amerikanische Hegemonie kritisiert, wirft zumeist den Vereinigten Staaten vor, daß sie ihren Idealen nicht treu geblieben sind, der Demokratie vor Ort nicht wirklich Raum lassen, nicht alle am Konsum teilhaben lassen, nicht wirklich verschiedene Identitäten zulassen, ihre humanitären Versprechungen nicht einlösen und die Technik nicht auf eine vernünftige Art und Weise einsetzen.
Die Kapitalisten wiederum, die nicht begreifen, an welchem Punkt des Ende der 70er Jahre begonnenen Restrukturierungsprozesses sie sich befinden, tun so, als seien die Kämpfer mit den vorsintflutlichen Mitteln die Hauptgrenze des historischen Modells, dessen Protagonisten sie sind; als versuchten sie letztendlich ihren Untergang zu verursachen. Man nennt das Terrorismus, was man nicht beherrscht.
Für den Staat ist unkontrollierter Terrorismus der ideale Feind, der alles rechtfertigt, von Festnahmen, Durchsuchungen, Kontrollen, Zensur bis zu Paramilitärs in der U-Bahn. Gegen Leute, die außerhalb der Menschheit stehen, ist jedes Mittel recht und billig. Da der Feind den Ruf hat, überall und nirgends zu sein, kann man überall angreifen.
Diese Welt liebt die Katastrophen: sie stärken den Staat, weil er sich damit unentbehrlich machen kann. Aber noch wichtiger ist, daß durch sie die Geschichte als Verkettung von quasi natürlichen großen Schocks dargestellt werden kann, ausgelöst durch Naturereignisse (z.B. einen Wirbelsturm) oder durch die »schlechte« menschliche Natur (insbesondere den Fanatismus).
Genau darin wurzelt der Gegensatz von Gut und Böse, der auf der anderen Seite des Atlantiks so verbreitet ist und über den sich die Europäer lustig machen. Da die Demokratie und der Markt (wobei die erste den zweiten korrigiert) die am wenigstens schlechten Möglichkeiten dieser Welt sind, gibt es keine Wahl außerhalb dieses Rahmens. Das gesamte politische Spektrum vertraut auf ein sozialtechnisches System, welches ständig kritisiert wird, aber trotzdem als unüberwindbar erlebt wird. Es erhält uns am Leben und beschützt uns, kann uns aber nicht glücklich machen (Glück ist ein veraltetes Ideal in Europa). Wenn es ein Problem gibt, dann liegt das am Schlechten oder gar Perversen im Menschen. Der Liberale setzt das Schlechte mit Faulheit und Verweigerung der Regeln gleich, die Kritik von Links mit Intoleranz und Habgier. Auch in Europa wird Politik zusehends im Namen des Guten gemacht. Mrs. Thatcher löste einen Skandal aus, als sie auf die Armen moralisch einwirken wollte. ATTAC macht aus der Forderung nach Selbstbeschränkung des Kapitalismus ein politisches Rezept. Moralismus und Psychologie stehen große Tage bevor. Wir sind alle Amerikaner [4].
»Wir langweilen uns in der Stadt« (Situationistische Internationale)
Dieselben, die an 100-stöckigen Türmen das industrielle Unmaß und den Konzentrationsurbanismus kritisiert haben, zählen seit dem 11. September ein Zentrum des Welthandels (hatte man nicht gegen die Organisation dieses Handels demonstriert?) zum Erbe der Menschheit.
Wir sind keine Waisen der Twin Towers. Man sollte die Kathedralen aus Glas und Stahl so betrachten wie Angkor oder Chartres, als Ausdruck von unlösbar miteinander verbundener menschlicher Entfremdung und menschlicher Aktivität. Das gotische Kirchenschiff mißfällt dem Revolutionär des 21. Jahrhunderts weniger als dem De-Christianisierer des 18. Jahrhunderts, weil seine soziale Funktion weitgehend erloschen ist (zumindest in Westeuropa, denn in Rußland oder Griechenland z.B. greift die Kirche aktuell direkt in die Politik ein); die buildings der Wall Street lasten hingegen schwer auf unseren Leben. Die seichte Vorortsiedlung zieht den protzigen Vertikalismus nach sich.
Aber auch die meisten Kritiker der Megalopole können nur schwer ihre Gefühle zurückhalten, wenn sie die New Yorker skyline sehen. Wir sehen einen Sonnenuntergang über den Wolkenkratzern mit anderen Augen als eine Disneyland-Parade. Wenn wir in Paris vor der Schlafstadt Sarcelles oder der Bürostadt La Défense stehen, haben wir nicht dieselben Empfindungen. Es geht nicht nur um die Faszination des Schreckens, wie sie Verhaeren 1895 in Gedichten über die Krakenstädte (Villes tentaculaires) beschrieb - sondern auch um die halluzinierten Landschaften (Campagnes hallucinées), beides gehört zusammen. Die Entgegensetzung natürlich/künstlich hat nur für den Menschen Sinn, sie ist also wenig »naturgegeben«. Wenn man so tut, als sei diese Welt in jeder Minute und an jedem Ort negativ, dann verschließt man sich dem Verständnis, aus welchem positiven Grund sie weiterbesteht. Kein System hält sich default am Leben. Die am 11. September ausgeführte blutige Kritik an Manhattan ist nicht unsere, aber sie ruft damit nach einer anderen, »menschlicheren«. Was soll man mit den Wolkenkratzern machen? Einige abreißen, andere umwidmen ... ? Egal was wir überlegen, wir tun es nie aus reiner Vorliebe für die Vergangenheit; für die haben wir nicht mehr Respekt als für die Gesamtheit der Meinungen.
»Wir werden nicht die mechanischen Zivilisationen und die kalte Architektur verlängern, die am Ende des Einkaufs zu langweiligen Vergnügungen führen ... Die Architektur von morgen wird ein Mittel der Erkenntnis und ein Mittel zum Handeln sein.« (Situationistische Internationale Nr. 1 1958 - geschrieben 1953) [5]
Wenn man in der Ferne den toskanischen Hügel erblickt, auf dem sich die mittelalterlichen Türme von San Gimignano erheben, kann man flüchtig meinen, sich New York zu nähern. Diese alten Handelsfestungen verkörpern auch eine versteinerte Vergangenheit von Ausbeutung und Unglück. Soll man sie abreißen? Die Stadt ist auch nicht mehr unser Feind als andere Realisierungen, bei denen niemand im voraus wüßte, wie er/sie die Auswahl treffen soll. (Das Fahrrad ist einem sympathischer als das Auto, aber beides sind typische Artefakte der Industrieära.) Es wäre zudem unlogisch, den Bildersturm auf die Architektur zu beschränken. Ein Gutteil des Geschriebenen ist Ausdruck der Klassengesellschaften, man müßte also das British Museum zur gleichen Zeit abfackeln wie man die Sphinx abreißt.
Die Lohn- und Marktgesellschaft [Anm. 3] bringt sowohl revolutionäre wie reaktionäre Kritik hervor, und beide haben gemeinsame Punkte. Nur weil die revolutionäre Kritik extrem schwach ist, kann die reaktionäre Kritik die Bühne und die Kulissen der Geschichte beherrschen.
In welcher Unordnung ist die Welt?
Der 11. September eröffnet kein neues Zeitalter: nicht dieses Attentat wird die Welt in Unordnung stürzen, sondern die Unordnung der Welt hat dieses Attentat möglich gemacht.
Das allgemeine Gefühl der Ohnmacht gegenüber diesem Ereignis verrät, daß man Schwierigkeiten hat, »den Feind« einzukreisen und die Mittel, mit dem man ihm entgegentreten will. Warum erzeugt der Zusammenbruch von zwei Bürohochhäusern so leicht einen Krisenkonsens? Der Einsturz des World Trade Center macht unmittelbar sichtbar, in welcher Situation wir seit Ende der 80er Jahre leben: es kommt kein neues Produktionssystem, das den Fordismus/Taylorismus ersetzen könnte, noch kann die »Informationsrevolution« das ersetzen, was das Fließband gebracht hatte. [6]
Das Kapital hat Mühe, den Planeten zu beherrschen und - im Gegensatz zu dem, was gesagt wird (oder gesagt wurde) - es erscheint zerbrechlich. Die großen Konzerne ziehen ihre Investitionen aus den Schwellenländern zurück und schwächen sie damit noch mehr. Früher bemühte sich der Imperialismus, auf Erhebungen an der Peripherie mit einem Anschein von Entwicklung zu antworten (Plan von Constantine in Algerien, Schaffung kleinbäuerlichen Eigentums in Südvietnam, Förderung der »grünen Revolution« gegen die »rote« usw.). Heute gibt es nichts von alldem. Die Aktion der NATO in Ex-Jugoslawien führt zu keinerlei Wachstum. Die 100 Milliarden Dollar, die von den amerikanischen Bundesbehörden aufgebracht wurden, werden allein der US-Ökonomie zugute kommen.
In den Bergen Afghanistans liegt weder die Geburtsstätte der gegenwärtigen Widersprüche, noch die von möglichen Lösungen. Ihr Ursprung liegt im Innern und ist zunächst sozial und erst dann »geopolitisch«: sie liegt in der Unfähigkeit dieser Produktionsweise, sich zu verallgemeinern und dabei überall positiv zu wirken.
Unsere Welt ist eine. Der Beduine im Sinai, der davon lebt, daß er billigen Schmuck und vor allem das Bild seiner Lebensweise an den europäischen Techniker verkauft, der seine Wüste durchquert, gehört zum selben Universum wie der »trekker«. Die Nikes werden in Asien hergestellt - aufgrund der dort herrschenden Arbeitsbedingungen. Im vormaligen Rhodesien hat der Weiße den Schwarzen ausgebeutet, weil das im Kolonialhandel größeren Profit einbrachte - seit Zimbabwe daraus geworden ist, verliert das Land diese traurige Bestimmung, rutscht aber in den Bankrott. Wenn durch ein Wunder die Rollen von Italien und Thailand im Welthandel ausgetauscht würden, flögen eben die Ingenieure und Händler aus Bangkok als Sextouristen nach Rom. Solidarische Wirtschaft und fairer Handel haben höchstens als Ideologie (schlechtes Gewissen und Halbheiten) Platz in einem System, wo der Reichtum des einen auf der Verarmung des anderen beruht.
Das Kapital bewegt sich von Paradox zu Paradox und steuert dabei auf einen Endpunkt zu. Seit dem Fall der UdSSR stellt es sich als Horizont dar, der nicht zu überschreiten ist; aber gleichzeitig hat es große Schwierigkeiten, sich optimal zu verwerten und erweist sich als unfähig, die ehemals bürokratischen Gesellschaften zu organisieren.
Diese Welt geht auch am Fehlen einer kommunistischen Perspektive zugrunde. Die gesellschaftliche Kritik beschränkt sich auf einen Neo-Reformismus, der höchstens in seinen Vorschlägen und Verhaltensweisen radikal ist, oder auf eine archaische Waffensammlung: Ethnizität, religiöser oder anderweitiger Fundamentalismus, Nationalismus, Identitätsreflexe usw..
Bewaffnete Kämpfe von Minderheiten und Attentate sind nichts Neues, doch die Bedeutung des 11. September ist eine ganz andere. Von Sarajewo 1914 über die Bomben der IRA bis zu den Anschlägen der Palästinenser in den 70er Jahren zielten diese Aktionen auf die Konstitution einer staatlichen Einheit, einer Nationalökonomie, also darauf, die Welt noch weiter zu kapitalisieren. Die Zerstörer des World Trade Center wollten offensichtlich die Macht der USA schwächen, setzten ihr aber keine alternative Entwicklung, nicht einmal eine islamische, entgegen.
Während früher das Infragestellen der Ordnung bedenkenlos als progressiv bezeichnet werden konnte, will die Protestbewegung heute nur noch sie selbst sein und ohne modernisierenden Anspruch das herrschende Modell kopieren. Der Nationalismus zerfällt in Stücke: ein unabhängiges Indonesien oder ein unabhängiges Vietnam waren ökonomisch gangbar. Das gilt nicht mehr für Timor. Heute betonen Regionen ihre Einzigartigkeit und haben dabei kein anderes Programm als ihre Wurzeln wiederzufinden und damit nach internationaler Hilfe zu rufen.
Ein Weltsystem zieht sich auf seine historischen Bastionen zurück (Vereinigte Staaten, Europa, Japan) und behandelt den Rest als Brachland, wo es Ressourcen und Wert abschöpft, wenn es geht, und die Ordnung wiederherstellt, wenn es sein muß (allerdings sehr viel weniger als zuvor).
Obwohl der Kapitalismus die Erde seit mehreren Jahrhunderten beherrscht, ist seine wesentliche Lebensweise (Austausch von Arbeit gegen Geld, Einheit von Produktion und Konsum, Schaffung eines Binnenmarktes) nicht auf alle ausdehnbar. Wer sich darüber freute, daß die Industrialisierung Südafrikas schließlich der Apartheid ein Ende setzte, muß heute feststellen, daß Saudi Arabien, feudal und voller Erdöl, und Burkina Faso integrale Bestandteile dieses Weltsystems sind.
Aber in bestimmten Perioden (in der Mitte und am Ende des 19. Jahrhundert, sowie nach 1945) vergrößert sich das kapitalistische Herz, seine Basis erweitert sich und dehnt die Zirkulation der Waren (beginnend mit der Arbeit) weit über die Metropolen hinaus aus. In anderen Phasen (während der großen Depression 1873-95 und zwischen den beiden Weltkriegen) zieht es sich zusammen: in einer solchen Phase leben wir seit ungefähr zwanzig Jahren. In der gesamten Dritten Welt zeigt das wahnsinnige Wachstum der Städte das Zerbrechen der alten Gemeinschaften an, ohne daß es die Möglichkeit gäbe, diese entwurzelten Massen einzureihen (der sogenannte Staatskapitalismus) oder zu integrieren (der sogenannte Marktkapitalismus). Wir erleben eine Proletarisierung, eigentlich eine Lumpenproletarisierung, die aber vor allem negativ bleibt und nur zu geringem Teil in Arbeit gesetzt wird, weil es keine rentablen Beschäftigungen gibt (und die Betroffenen wissen, daß keine Tobinsteuer daran etwas ändern würde). Der Kapitalismus verdinglicht die Welt über das Maß hinaus, das für ihn selber vernünftig ist, das heißt, er setzt sich selber ins Ungleichgewicht, indem er die Menschheit in zwei Kategorien zerteilt.
Auf der einen Seite diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen können, wobei sich ihre soziale und menschliche Situation verschlechtert und ihre Arbeit inhaltsleer wird.
Auf der anderen Seite die ungeheure Mehrheit der Menschen, die das Kapital nicht in Lohnarbeit zu setzen vermag. Im Gegensatz zur Epoche der Dekolonisation versteht diese Mehrheit heute, daß ihr das kapitalistische Universum verschlossen bleiben wird, was in ihr Frustrationen und Haß erzeugt. Hinzu kommen die verarmten Mittelschichten, die früher in Asien oder Afrika als mittlere Kader der bäuerlichen Massen eine neue Position in der Gesellschaft fanden, was heute ausgeschlossen ist. Aus eben diesen Mittelschichten kommen die mutmaßlichen Attentäter. Das Wichtige ist aber nicht, daß es einige zehntausend »Fanatiker« gibt, sondern einige hundert Millionen, die sich selbst überlassen sind und ohne die die Aktion der ersteren nicht möglich wäre.
Das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital regiert die Welt, nicht in dem Sinn, daß die Tendenz zur Akkumulation des Werts alles bestimmen würde, sondern weil seine Dynamik die Gesamtheit der früheren Verhältnisse erschüttert, zerstört oder neu zusammensetzt. Dort, wo diese Tendenz sich nicht aufzwingt, entwickeln sich die früheren Lebensformen gegen sie und unter ihrem Druck. Der Druck der destrukturierten Massen, die nicht in Lohnarbeit kommen werden (und die in die auseinandergerissene alte Handelsökonomie schlecht reintegriert werden können) speist die Revolten. Diese wurden lange Zeit in nationale Bahnen kanalisiert (was auch immer das Wort "national" im Irak oder im Sudan bedeutet), solange ein unabhängiger Staat und ein »Durchstarten« möglich schienen. Die Revolten zerbröckeln heute in vielfältige regionale, ethnische, religiöse Forderungen - auch dies sind Auswirkungen, die der Experte mit Ursachen verwechselt.
Ohne den Antisemitismus und die Vernichtungslager gäbe es Israel nicht, Aber der Zionismus konnte sich nur durchsetzen, weil er Millionen von Immigranten in Lohnarbeiter verwandeln konnte, die für Unternehmen arbeiten, welche ihre landwirtschaftlichen Produkte, Diamanten, Waffen, Hochtechnologie und Dienstleistungen auf dem Weltmarkt verkaufen können. Es mögen Zweifel erlaubt sein, ob der Arbeitsmarkt offen ist für den Durchschnittsbürger eines eventuellen palästinensischen Staates.
Was außerhalb der kapitalistischen Metropolen gilt, findet sich auch in ihrem Inneren, wo sich eine Masse von Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt sieht, eingerahmt durch den Konsum, überwacht vom Staat, aber letztlich sich selbst überlassen. Trotz des unterschiedlichen Ausmaßes existiert ein gemeinsamer Punkt zwischen dem Gemetzel in New York und der Nacht in Béziers einige Tage zuvor, wo ein junger Magrebiner die Polizei entschlossen mit einem Raketenwerfer angegriffen hat. Egal, was Journalisten und Politiker dazu sagen, ein großer Teil von Bewohnern dieses Planeten freute sich über das Attentat vom 11. September und hielt die darüber vergossenen Tränen für unanständig, weil sie die Tausende Toten hier mit den Millionen Toten dort verglichen haben. Hätte man über die Zwillingstürme in Belgrad oder in den Vorstädten von Djakarta genauso geweint? Frustration und Haß führen früher oder später zur Revolte, dies ist im allgemeinen die schlimmste Form von Revolte, auf die eine noch schlimmere Reaktion folgt. Die vorherrschende Kritik an dieser Welt ist heute negativ und häufig vermittelt mit der Suche nach einem mythischen, vorkapitalistischen goldenen Zeitalter.
Mit diesem Grauen September bezahlt die entwickelte Welt das Wahngebilde ihrer technologischen Überlegenheit. Seit nunmehr 15 Jahren tut man so, als könne die »Schaffung von Wert« mit einem Lächeln und ein paar Glasfasern bewerkstelligt werden. Kraft ihrer Anbetung der Modernität konnten sich die Staaten trotz ihrer Legionen von Politologen nicht vorstellen, daß »Unterentwickelte« zu einer solchen Herausforderung fähig sein könnten, und schon gar nicht, daß ihre Durchführung gelingen könnte.
Diese Welt zahlt auch den Preis für eine finanzielle und ökonomische Illusion, die postulierte, daß aufgrund nunmehr konstanter Produktivitätszuwächse die Krisenzyklen verschwinden würden. Die Information wurde zum ersten Produktionsfaktor getauft, es sei Schluß mit abnehmenden Erträgen, Schluß auch mit der menschlichen Arbeit im klassischen Sinn, alles würde ersetzt durch Symbolmanipulateure ...
Politisch bezahlt sie für ihren Glauben an ein wirtschaftliches Absterben des Staates, der seine politische Entscheidungsstruktur und seine Management-Funktionen aufgeben sollte. Die Zivilgesellschaft in ihren vielfältigen Bestandteilen könne sich theoretisch selbst verwalten und die Gegenkräfte hervorbringen, die eine wahrhafte Demokratie ausmachen. In Wirklichkeit ist die Selbstregierung der Zivilgesellschaft ein Trugbild, und die Staaten lenken weiterhin die Welt, koppeln sich aber von der Gesellschaft ab. Es ist mehr als ein Symbol, wenn die Herren des Planeten, im übrigen demokratisch gewählt, dazu gezwungen sind, sich im Schutz einer verbunkerten Zone zu treffen, und von nicht gewählten, aber zahlreichen Mitgliedern ihrer Staatsvölker belagert werden. Die Imperative des Staates und der repräsentativen Demokratie sind seit zwanzig Jahren doppelt verleugnet worden: von der liberalen Rechten, die den Staat aus seiner notwendigen Rolle in der Ökonomie herausnehmen wollte; und von der Linken, die auf das bißchen, was sie noch von der Rechten unterschied, verzichtete und damit die Politik auch noch um die letzten Streitpunkte beraubte. Alle Parteien haben daran geglaubt, daß die Marktmechanismen zu einer Selbstkonstitution der Demokratie führen. Diese Krise der Repräsentation und der Legitimation explodiert in den Straßen von Göteborg und Genua.
Diese Welt hat versucht, den Menschen zu einem Produzenten und Konsumenten zu machen und bezahlt nun das Fehlen einer Perspektive, eines Projekts, eines Traums. Brot und Spiele ... aber keine Rosen. Das Glücksversprechen des Supermarkts begünstigt überdies den Fundamentalismus. Die jungen Leute hätten weniger Grund »Nieder mit der Musik!« zu sagen, wenn sie mehr Oum Kalsoum [arab. Hochmusik] oder Monteverdi hören würden statt Fahrstuhlmusik. Man kann auch verstehen, daß der Koran eine größere Anziehungskraft ausübt als die seichte »Surf-Kultur« [culture de la glisse].
All diese Aspekte haben eines gemeinsam: sie enthüllen die Tendenz, die menschliche Tätigkeit aus der Realität des Kapitals zu entfernen. Aber man kann die Geschichte nicht ewig hintergehen. Wir berühren hier das, was Invariance »die Anthropomorphose des Kapitals« [Anm. 4] genannt hat: wie weit es auch gehen mag, es wird nie zum Körper werden. Es ist kein sich selbst unterhaltendes Spektakel mehr, wie Debord in seinen letzten Texten schrieb. Die kapitalistische Zivilisation bleibt ein Verhältnis zwischen Arbeit und Wert, und wer Arbeit sagt, sagt lebendiges und gesellschaftliches Wesen.
Das Kapital ist nur insoweit unabhängig gewordener Wert, wie es lebendige Wesen in produktive Arbeit setzt - dieselben Wesen, von denen es sich (durch maximale Roboterisierung) zu befreien träumte, bevor es sie auf eine vernachlässigbare Größe reduziert hat, inklusive die reine Repression. Man spottet jetzt über die CIA und das FBI, weil sie sich auf die elektronische Überwachung und die künstliche Intelligenz verlassen haben: haben Spione und Polizisten nicht das Recht, die Illusionen ihrer Zeitgenossen zu teilen? Das übermäßige Vertrauen in die automatisierte Kontrolle von Passagieren und Gepäck spiegelt auch die allgemeine Tendenz wider, Personal abzubauen und die Übriggebliebenen schlecht zu bezahlen. [Anm. 5] Ohne diejenigen, die sie in Gang setzen, ist die Technik bewegungslos. Es gibt keinen Wert ohne Arbeit, es gibt keinen Krieg ohne Soldaten (und ohne Tote), es gibt keine soziale Kontrolle ohne Polizisten.
Der Kapitalismus ist weit davon entfernt, wie ein abstraktes, aseptisches System zu gedeihen, das man im Laboratorium isolieren oder wie ein klimatisiertes Hochhaus vor den Unbilden der Witterung schützen kann; er ist ein gesellschaftliches Verhältnis und somit ein Verhältnis zwischen Menschen. Auf die Gefahr hin geschwollen zu reden, möchten wir daran erinnern, daß die Geschichte weiterhin von Wesen aus Fleisch und Blut gemacht und oft mit Buchstaben aus Blut geschrieben wird. Gewalttätigkeiten, Krisen, Revolutionen und Kriege bleiben der Motor der kapitalistischen Entwicklung.
Das Kapital schafft es insbesondere nicht, sich von seiner Bindung an die Proletarier zu lösen oder sie einfach durch immer mehr Konsum an sich zu binden. Im Auto steckt mehr als ein Auto. [7] Es kann sich auch nicht damit zufrieden geben, all jene, die es nicht braucht, endgültig zu marginalisieren. Um ein Maximum an Zirkulation sicherzustellen, braucht der Kapitalismus in seinen entwickeltsten Zonen ein Mindestmaß an Integration.
Der 11. September 2001 und was zu ihm geführt hat, bezeugt, daß die Umstrukturierung - ein Mittel zur besseren Beherrschung der Welt durch das Kapital - mehr ist als die Reorganisation der Verhältnisse zwischen Arbeitskraft und potentiellem Käufer - vor allem, wenn diese Reorganisierung bei den Proletariern auf Forderungen stößt - und seien sie auch begrenzt.
Der Westen hat das Verschwinden der UdSSR laut beklatscht. Ihr Scheitern stellt für die englischen, französischen, amerikanischen usw. herrschenden Klassen tatsächlich einen Sieg dar. Aber dieses Gefühl der Überlegenheit führte zu den oben erwähnten Versäumnissen. Die Kapitalisten schlossen daraus, daß sie keinen inneren oder äußeren Feind mehr hätten und nun ihre bloße Existenz ausreichen würde, um sich durchzusetzen. Tatsächlich waren aber die USA, Europa und Japan nicht fähig, die durch den Untergang des sowjetischen Blocks befreiten Zonen zu stabilisieren.
Die Wiedereroberung kann nicht einfach materiell und strategisch erfolgen, denn kein System funktioniert dauerhaft durch puren Zwang. Sie wird politisch und sozial sein müssen, aber auf dieser Ebene entsteht nichts von Bedeutung, und die geplanten oder bereits laufenden militärischen Operationen sind dafür nicht der ideale Rahmen.
Es liegt weder in der Logik des Kapitals, auf dem ganzen Planeten die Lohnarbeit durchzusetzen (dieses Ziel ist nicht realisierbar und wäre kontraproduktiv), noch beschränkt sich seine Entwicklung darauf, die Kapitale zusammenzubringen: sondern sie müssen noch immer als Kapitale angewandt werden und die Vermittlung durch Arbeit durchlaufen, und die kann man nicht wie einen Sack Zement kaufen. Die Zeit der Sklaverei ist abgelaufen, das »Menschenmaterial« ist keine Sache. Man muß einen möglichst geschmeidigen Übergang zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit bewerkstelligen. Es geht nicht darum, jedem einen Arbeitsplatz zu geben, aber der Großteil der Leute muß darauf hoffen können.
Die Anschläge bringen auf grausame Weise ein Charakteristikum der letzten 20 oder 30 Jahre ans Licht.
In dem Teil der Welt, den man einmal Dritte Welt nannte, ist kein Führer und keine Partei in der Lage, eine ursprüngliche Akkumulation [Anm. 6] in Gang zu setzen. Früher war diese Mobilisierung nicht ausschließlich erzwungen und mit Gewalt durchgesetzt: sie enthielt die Hoffnung auf bessere Tage, für die man Opfer zu bringen bereit war. Heutzutage gibt es kein solches Mobilisierungsprojekt. Die Regierungen akzeptieren entweder die Diktate der multinationalen Konzerne, oder sie begnügen sich damit, das Land in den Tag hinein zu regieren, oder sie verhalten sich wie vor-kapitalistische Beutemacher. Angesichts der ganzen Korruption wäre »der saudische Milliardär« [8] beinahe als Robin Hood, Verteidiger der Armen, glaubwürdig.
Nach 1949 zwang die maoistische Bürokratie Hunderte von Millionen Chinesen dazu, die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus im Wettlauf zum Glück zu beweisen, und der Große Sprung nach vorn machte aus Dörflern zwangsweise Stahlarbeiter. Das Experiment endete in einer wirtschaftlichen und menschlichen Katastrophe, aber zumindest hatte man erfolgreich die Massen »zum Erstürmen des Himmels« angestoßen. Heutzutage gibt es nirgendwo eine ähnliche Dynamik, und Erfahrungen wie die Taliban wenden sich schlicht ab von einer Entwicklung auf der Basis von Kommerz und Lohnarbeit, auch wenn diese künstlich und mystifiziert ist. Es gibt keinen Raum mehr für ein Wachstum aus eigener Kraft. Psychologisch gesprochen: »Man glaubt nicht mehr daran«. Die aktuelle kapitalistische Expansion in China ermutigt 10 bis 20 Prozent der Chinesen und marginalisiert den Rest. Die Bevölkerung erduldet das und flüchtet sich in die Überreste der Vergangenheit, um weniger oder leichter zu leiden. Und was die reichen Länder betrifft: hier »umgeht« die benachteiligte Fraktion das Kapital und kommt in der Parallelökonomie unter.
Als historisches Projekt erfährt der Islamismus selbst einen starken Rückgang. Es ging darum, aus dem Islam den Rahmen einer gangbaren Entwicklung zu machen, was eine wirksame Integration in den Weltmarkt impliziert, wenn das betreffende Land keine Zukunft wie Antigua oder Vanuatu hat. Es ist eine Sache, die Scharia durchzusetzen, aber eine andere Sache, auf solchen Grundlagen Gesellschaft und Ökonomie so zu reorganisieren, daß sie auf dem planetaren kapitalistischen Ozean navigieren können. Der Iran verzichtet darauf, und weder Pakistan noch die Erdölmonarchien haben das je versucht. Saudi Arabien hütet sich davor, die Scharia auf das anzuwenden, wovon es lebt: das schwarze Gold, das es wie ein unheiliges Kapital behandelt. Die Religion und mehr als jede andere der radikale Islamismus sind als Wirtschaftsmodell seit langem überholt. [9]
Was das Herz des Kapitalismus betrifft, so fallen die Attentate nicht nur in eine Zeit, in der ein neues Produktionssystem auf sich warten läßt - und zwar auf allen Ebenen: sozial, technisch, politisch -, sondern sie schlagen in einem Moment zu, wo dem Wirtschaftszyklus die Puste ausgeht. Die Rezession ist da: die Wirtschaftswissenschaftler diskutieren lediglich darüber, wie tief sie ist und wie lange sie dauern wird. Die Regierenden weisen dem Konsum eine entscheidende Bedeutung zu; der wird aber gleichzeitig gebremst durch den Angriff auf die Löhne, und der zahlungsfähige Markt stößt an Sättigungsgrenzen, auch in Sektoren, die als Sturmspitzen eines neuen Entwicklungstypus galten, wie die Mobiltelefonie.
Daß man die Prosperität, das heißt die Lebenskraft der kapitalistischen Metropolen, auf einem so flüchtigen Phänomen wie dem »Vertrauen der Haushalte« ruhen lassen will, spricht Bände über ihre Zerbrechlichkeit. In der sozialen Demokratie, wo jeder nach seinem Recht auf einen (ungleichen, aber garantierten) Anteil am Konsum definiert wird, erwartet man vom Bürger nicht mehr, daß er sein Leben auf dem Feld der Ehre gibt, sondern sein Geld im Supermarkt. Soweit er das will und kann. Man kann auf Kredit konsumieren, man kann sogar auf Kredit an der Börse spekulieren - neben anderen Hindernissen eine richtiggehende Zeitbombe.
Ohne in die Details der Rezession gehen zu wollen, lassen sich aufzählen: die wiederholten Krisen (es vergehen kaum zwei Jahre, bis das System im nächsten Land oder der nächsten Branche betroffen ist); Rückgang der industriellen Produktion in Amerika in 11 Monaten hintereinander, was es seit 1960 nicht mehr gegeben hat; das Hinübergleiten vom Aktiensturz der Hitech-Werte zu Massenentlassungen in der Industrie und der Finanz; Rückgang der Investitionen, Anstieg der Arbeitslosigkeit; enorme Subventionen durch den Bundesstaat; die Ansteckung in Europa; die Gefahren der Schuldenökonomie werden wieder entdeckt; schließlich sei an Länder wie Argentinien erinnert, in denen die Zahlungen fast zum Erliegen gekommen sind, und an die »neuen Wachstumsländer«, wo fast nichts mehr wächst.
All das beweist lediglich (aber das ist schon viel) die Fortdauer der selbstzerstörerischen Logik des Systems, die den Planeten seit zwei Jahrhunderten gestaltet und die sich in den letzten 20 Jahren verschärft und nicht abgemildert hat. Die vielbeschworene »Globalisierung« beschleunigt die Ausbreitung der Krisen. Die Einpoligkeit der Welt führt zu denselben Nachteilen wie die Megafusionen der Unternehmen: der übertriebene Monopolismus erstickt die Konkurrenz.
Ein lokaler Sieg ist wahrscheinlich - das globale Ungleichgewicht bleibt bestehen
Stockhausen hat damit schockiert, daß er im Zusammenbruch des WTC »das größte Kunstwerk, das man sich vorstellen kann«, gesehen hat. So sehr der Musiker danach seine Bemerkung bedauerte, sie erhielt in der Debatte denselben Stellenwert wie das Attentat selber. Die Realität Manhattans geht über das Materielle hinaus, so wie die Rolle derjenigen, die sich dort tummeln, über das Ökonomische hinausgeht.
Die Wall Street wird als unser Herz erlebt, verfluchtes aber lebensnotwendiges Organ, als »Wertpumpe«, die eine vitale Flut anzieht und wieder abstößt. Man denunziert das Geld, kann sich aber kein anderes Leben vorstellen (»Ziehen Sie das Albanien von Enver Hodscha vor?«). Für das Attentat war nicht die hohe Anzahl von Opfern wichtig, sondern, daß sie genau dort getroffen wurden: ein Massaker an 5500 EinwohnerInnen von Seaside (Oregon) hätte nicht dieselbe Bedeutung transportiert.
»(...) als sie den Rauch der brennenden Stadt sahen, riefen sie: wer konnte sich mit der großen Stadt messen?« (Apocalypse, Johannes 18:18)
Als neue Unglückspropheten haben die Terroristen an alte religiöse, antidekadente und antiurbane Tiefen angeknüpft, die Amerika sonst nur in den Sonntagsreden seiner extremsten Christen zu hören bekommt. Aber auch Radikale, insbesondere schwarze, haben die USA als neues Babylon denunziert und ihnen das Schicksal des alten vorhergesagt.
Kann der US-Gegenschlag ein ebenso hohes symbolisches Niveau erreichen?
Da der Einsturz eines Teils von Manhattan einen Eingriff in die amerikanische Hegemonie im Namen der islamischen Werte darstellt, müßte eine angemessene Antwort eben diese Werte mit derselben Wucht treffen. Früher gab sich ein Reich, das von »Barbaren« bedroht wurde, nicht damit zufrieden, sie zurückzuschlagen, sondern es machte ihre Tempel und Götter nieder. Man kann sich schlecht vorstellen, daß eine Cruise Missile den Schwarzen Stein von Mekka, gar einen heiligen Ort zweiten Ranges, etwa am Tag einer Wallfahrt, in Schutt und Asche legt. [10]
So viele Konkurrenten von Berlin bis Peking tun nur deshalb so, als würden sie sich gegen ein so unbedeutendes Ziel zusammenschließen, weil sie um ihre eigene innere Stabilität fürchten, die sie nur schwer mit dem Zuckerbrot Ware und der Polizei-Peitsche absichern. Egal, welcher Geheimdienst oder welche verdächtige Gruppierung Bin Laden in seinem Privatkrieg zur Störung der Weltordnung unterstützt hat - er enthüllt die Schwäche der etablierten Strukturen.
Anstatt sich sofort ins Getümmel zu werfen, ergreifen die USA die größtmöglichen Vorsichtsmaßnahmen, um diejenigen Regimes (rund um Afghanistan und im Mittleren Osten) zu schützen, für die kein Marshallplan vorgesehen ist. Das betraf zunächst Länder mit Wachstumsmöglichkeiten, nicht Usbekistan oder Jordanien. Das Besondere am Kapitalismus ist nicht, daß man sein Auto übers Internet bestellen kann (als hätte ein elektronischer Katalog der Trois Suisses [Anm. 7] die Welt revolutioniert), oder daß überhaupt Autos produziert werden, sondern daß sie produziert und zu rentablen Bedingungen verkauft werden. Das sogenannte Profitgesetz ist nur die Maske der Logik der Wertproduktion. Die Klientel der Großmächte kann durch Geldspritzen konsolidiert werden, aber damit werden die Rentabilitätsprobleme dieser Mächte selbst nicht gelöst. Reiche Länder, die über die Zahlungen an ihre eigenen Arbeitslosen ungehalten sind, werden nicht Milliarden von Afrikanern und Asiaten unterstützen.
Angesichts der negativen Wut, die sich bei denen aufgestaut hat, die Frantz Fanon 1961 in bereits religiösen Begriffen die »Verdammten dieser Erde« nannte, riskiert jede Antwort, die Revolte zu radikalisieren und die Konflikte entlang der Achse Arm/Reich zu polarisieren. Verschärfend kommt hinzu, daß der Gegner sich nicht auf ein Land beschränkt und viele Formen annimmt. Die Antworten, die der Kapitalismus heute auf diese wirkliche Existenzfrage vorbereitet, können allenfalls die für ihn bestmögliche Lösung hinausschieben. Obwohl Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Pakistan zu den Brutstätten des Islamismus zählen, wird sich das Pentagon besonders davor hüten, ihre Stabilität zu bedrohen; es wird seine Falken zurückhalten und sich daran klammern, den Ruinen in Afghanistan weitere Ruinen, vielleicht im Irak, hinzuzufügen.
So hat eine politische Herausforderung solchen Umfangs, auch wenn sie nur auf ein Symbol zielte, nur eine Polizeiaktion zur Folge. Die Antwort der führenden Weltmächte auf das, was sie als große Bedrohung präsentieren, was sie aufgrund ihrer Ursachen auch ist, spart, wie jeder sagt, die Ursachen geradezu aus. Dieser Fall ist neu. Nach 1918 wurde so getan, als eröffne sich eine lange Ära des Friedens. Die Sieger von 1945 sagten immer wieder, daß es zukünftig weder blutige Diktaturen noch Völkermord geben dürfte. Dann schuf die Dekolonialisierung einen Konsens über das Aufkommen gleichrangigerer Beziehungen unter den Völkern und über Wohlstand in den neuen unabhängigen Ländern. Man glaubte noch an etwas. Heute geht man an den Terrorismus wie an ein Verbrechen heran: dabei hat noch nie jemand behauptet, daß die Eliminierung eines Verbrechers, egal wie groß er ist, das Verbrechen beenden könnte. Zum ersten Mal gestehen die Staaten und die (öffentliche) Meinung von vornherein ein, daß sie nicht an die Wurzeln gehen ...
Die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation ist gering, aber nicht ausgeschlossen: niemand weiß, wie weit der Dampfhammer einschlagen wird, um die Fliege zu zerquetschen, noch welche tödlichen Schläge es geben wird. Bush wird aus diesem Jahrtausendwettbewerb jedenfalls nicht als Sieger gegen seinen schwarzen Zwilling Bin Laden hervorgehen. [11] Die Heldentaten der Special Forces und anderer S.A.S. werden niemals das Bild der beiden zusammenbrechenden Monolithen aufwiegen können. Egal wie die Schlacht ausgehen wird, die Erinnerung an Bin Laden wird die an seinen Bezwinger überleben.
Entweder geht der Kapitalismus (verkörpert und angeführt von seiner Nummer 1) dabei zu weit oder nicht weit genug. Er kann die Welt nur »zurückerobern«, wenn er genau das noch verstärkt, was zu den Attentaten geführt hat. Wenn er im Gegenzug Politik auf Polizei reduziert, setzt er sich neuen Angriffen aus, die ihn am Ende wirklich in Gefahr bringen.
Der Dritte Weltkrieg findet nicht heute statt, sondern übermorgen
Möglicherweise übersteht das Kapital den Schock, der mit diesem Attentat verbunden ist. Aber es ist zweifelhaft, ob es die hier nur kurz zusammengefaßten Probleme von »langer Dauer« schnell regeln kann. Es wird also die Flucht nach vorn antreten, was seine Situation verschlechtern wird.
Aus der Sichtweise, die uns interessiert, wird die kommunistische Perspektive auf sich warten lassen, je länger der Kapitalismus mit seiner Antwort zögert: es gibt kein dynamisches Proletariat ohne einen Kapitalismus, der selbst dynamisch ist; nur das Proletariat kann den von dieser Gesellschaft vorgeschlagenen Reichtum kritisieren - und nicht nur die Armut, die sie durchsetzt. Wenn einmal eine radikale Kritik am Horizont erscheint [12], dann kann sie sich nirgends verfestigen und organisieren. Ein Porträt der Klassenkämpfe wäre unvollständig ohne Vorkommnisse wie bei AOM-Liberté (frz. Luftfahrtgesellschaft, A.d.Ü.), wo es die Lohnabhängigen feierten, daß ein Ex-Gewerkschafter die Geschäftsführung übernimmt und die vorgesehenen Entlassungen reduziert. Der aktuelle Zyklus der kapitalistischen Entwicklung trägt seine Überwindung nicht in sich.
Die Zeiten sehen weder nach kommunistischer Erneuerung noch nach großen innerimperialistischen Konflikten aus. Nicht die Ermordung eines österreichischen Prinzen hat Europa 1914 in einen Krieg geworfen, sondern die Unfähigkeit der industriellen Zivilisation, sich friedlich zu verständigen. Die USA sind aktuell und in Zukunft weniger von den Islamisten als von der europäischen oder gar japanischen und chinesischen Konkurrenz bedroht ... Eine Proletarisierung ohne damit einhergehende Schaffung von Lohnarbeitern: hier liegt die Ursache für die aktuellen Zuckungen, die fälschlicherweise als archaisch eingestuft werden. Aber sie werden nicht ausreichen, um die Großmächte in einen verallgemeinerten Konflikt hineinzuziehen.
Die historische Tragweite der US-Gegenoffensive liegt nicht in ihrer leider sehr realen Fähigkeit, Afghanistan und die gesamte enterbte Region mit Feuer und Schwert zu verheeren. Sie liegt darin, ob die kapitalistischen Metropolen von heute und morgen in diesen Erschütterungen voranschreiten oder zurückfallen.
»Unsere Strategie muß sich jetzt darauf konzentrieren, das Auftauchen jedes potentiellen globalen Konkurrenten zu verhindern.« (Pentagon-Bericht, 1992) [13]
Weder Europa noch Rußland haben lange damit gewartet, ihr eigenes Spiel zu machen in einer antiterroristischen Zufallsunion, die den Weg geöffnet hat für alle Anpassungen und Allianzwechsel. [14] Die imperialistischen Rivalitäten bedrohen die Welt; wenn es keine Revolutionen gibt, werden sie früher oder später zu immensen Weltenbränden führen, bei denen die Randkonflikte nur als Zünder dienen. Bis dahin ist der »Krieg gegen den Terrorismus« lediglich eine PR-Operation, die mehrere Milliarden Dollar, verstärkte Polizeikräfte und einen Haufen Leichen kostet.
Ubu contre Ubu. [Anm. 8] Als Geschöpf des amerikanischen Imperialismus im Kampf gegen den russischen Imperialismus ist Bin Laden ein Widerspruch innerhalb des Kapitalismus und eben kein Gegenspieler des Kapitals.
Kann man überhaupt von Altertümlichkeit sprechen, wenn das Wiederaufleben der Vergangenheit unter der Last und den Schocks der Moderne stattfindet? Bemerkenswert ist doch viel eher, wie zerbrechlich die Tradition gegenüber dem Kapital überall dort ist, wo dieses Lohnarbeit und Warengesellschaft durchsetzt.
Der Islamismus ist kein plausibler Schritt mehr hinter den Kapitalismus zurück, so wie die UdSSR auch keine Alternative zu eben diesem Kapitalismus war. Die Zugehörigkeit des bürokratischen Blocks zu einem Weltsystem war überdeutlich, dank der Lohnarbeiterschaft und des Produktionskults in allen Ländern des Ostens. Beim Islamismus ist diese Integration weniger deutlich, da er sich auf eine andere Ideologie beruft. Das Kapital ist jedoch nicht Agent eines gleichförmigen Fortschritts, der schließlich zu mehr Gleichheit unter demokratischerer oder moralischerer Leitung führen soll. Der Arbeitslose in Bengalen und der Angestellte eines Callcenters in Yorkshire sind im Grunde genommen auf gleiche Weise mit Besitzlosigkeit und Herrschaft konfrontiert. Aber diese werden fast nie als gemeinsame erlebt und angegriffen. Die Attentate vom 11. Septembers 2001 und die darauffolgende Gegenoffensive entfernen diese beiden Proletarier weiter voneinander, zumindest auf der Erscheinungsebene, und machen es noch schwerer, daß aus der Gemeinsamtkeit der Bedingungen ein bewußtes Gemeinwesen wird. Kapitalismus und Barbarei: so sieht die nahe Zukunft aus.
J.-P. Carasso, G. Dauvé, K. Nesic - 22. Oktober 2001
Weitere Veröffentlichungen von »troploin«
Le fichisme ne passera pas, 1999
(Deutsche Übersetzung in Wildcat-Zirkular 56/57, Mai 2000, Seite 32 ff.)10+1 questions sur la guerre de l'OTAN contre la Serbie, 1999
Autre temps, 2001
(Deutsche Übersetzung im nächsten Wildcat-Zirkular, Frühjahr 2002)troploin0.free.fr (es gibt eine CD-Rom)
Kontakte über:
AREDHIS, B.P. 20306, F - 60203 Compiègne Cedex
Anmerkungen der Übersetzer:
[Anm. 1] Zur Zeit der Volksfront in Frankreich lenkten die Linken den Zorn der Proletarier auf die »200 Familien«, die Reichsten, die angeblich das Land beherrschten. Anm.d.Ü.
[Anm. 2] In »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923) betonte Georg Lukács »Totalität« als die zentrale methodische Kategorie des Marxismus, die in Vergessenheit geraten sei. Anm.d.Ü.
[Anm. 3] Die Vorstellung, der Kapitalismus sei eine Marktwirtschaft, wird kritisiert in: Ist der Kapitalismus eine Marktgesellschaft?, Wildcat-Zirkular 24. Anm.d.Ü.
[Anm. 4] In der Zeitschrift Invariance argumentierte der ehemalige französische Bordigist Jacques Camatte, das Kapital sei in seiner Entwicklung »autonom« geworden, existiere unabhängig von der Ausbeutung lebendiger Arbeit und könne daher auch nicht mehr von seinem Produktionsprozeß her angegriffen werden. Die Autoren wenden sich hier gegen diese Auffassung vom Kapital als einem autonomen, menschähnlichen (anthropomorphen) Subjekt. Anm.d.Ü.
[Anm. 5] siehe hierzu den Spiegelartikel im Anhang
[Anm. 6] Marx benutzt diesen Begriff kritisch und ironisch und setzt ihn in Anführungszeichen. Denn das, was die bürgerliche Ökonomie als eine Form von Akkumulation darstellt, war in Wirklichkeit die Losreißung der Produzenten vom Boden und ihren Produktionsmitteln. Im marxistischen Jargon hat es sich dann leider eingebürgert, diesen Prozeß unter »ursprüngliche Akkumulation« zusammenzufassen - ohne Anführungszeichen; siehe Kapital, Bd. I, Kapitel 24.
[Anm. 7] Katalog mit den angesagten Klamotten für die zahlungskräftige Mittelklasse, zwischen Benetton und Lacoste...
[Anm. 8] Das Theaterstück »König Ubu« (1896) des Franzosen Alfred Jarry führt in satirischer und absurder Weise einen ebenso gewalttätigen wie feigen und unfähigen König vor, der sich selbst an die Macht gebracht hat. »Ubu« wurde in der Linken zu einem Synonym für die vielen kleinen Diktatoren auf der Welt. Anm.d.Ü.
Fußnoten:
[1] Vgl. die Beschreibung der »logistischen Plattform« (10 Mrd. frz. Francs) des Textilunternehmens Mango im »Wettrennen gegen die Zeit«, Les Echos, Juli-August 2001.
[2] Unter anderem O.Bayer, Les Anarchistes expropriateurs, Atelier de Création Libertaire, Lyon; A. Salmon, La Terreur noire, 1959, Neuauflage bei 10/18, 1973; Max Hölz, Un rebelle dans la révolution. Allemagne 1918-1921, Spartacus.
[3] Es ist nicht egal, daß die Rolle der großen Figur der Französischen Revolution von Robespierre auf Männer wie Danton, sogar Condorcet oder den Abbé Grégoire verlagert wurde. Die Entwicklung geht in Richtung einer Ablehnung der Rauheiten. Auch die Vergangenheit wird befriedet.
[4] 1968 hatte der Satz »Wir sind alle deutsche Juden« seine subversive Kraft aus einem Aufeinanderprall und einer Vereinigung von Gegensätzen, sowohl in seinem Inhalt (Juden/Deutsche) als auch bei denen, die ihn aussprachen (Franzosen/Deutsche). Die Formel fegte auch den Patriotismus von PCF und CGT weg. Die Demonstranten, die ihn riefen, leugneten jede Trennung zwischen menschlichen Wesen (sie/wir), indem sie sich mit einer Gruppe identifizierten, die von der Menschheit besonders zurückgewiesen wird und versicherten: wir = ihr = alle. Die Anwendung auf eine Unzahl von Gruppen in der Folgezeit (»Wir sind alle Immigranten, Afghanen, Palästinenser« usw.) hieß, jeder Kategorie andere hinzuzufügen und die Menschheit als Juxtaposition von Identitäten zu betrachten. »Wir sind alle deutsche Juden« kritisiert den Begriff des deutschen Juden und transportiert implizit die Hoffnung, daß es keine »Juden« oder »Deutsche« mehr geben möge. Die Totalität der heutigen Wiederaufnahmen der Parole will im Gegenteil jeder Kategorie zu ihrem Recht verhelfen. Man ging vom »Reißt die Mauern ein, die uns trennen« zum »Es leben die Trennmauern!« über. Die Formel ist jeglichen Sinns beraubt worden, dient nur noch der Werbung, und so wurde sie auch innerhalb von fünf Tagen auf die Amerikaner ausgedehnt. Mit der Feststellung dieser Entwicklung soll nicht der Mai '68 idealisiert werden, der in der Tendenz viele Widersprüche enthielt, die durch die konkrete Aktion und ihre weitere Akzeptanz gelöst wurden.
[5] Im selben Zeitraum und ohne voneinander zu wissen haben Bordiga und die Situationistische Internationale jeweils auf ihre Weise den Lebensstil und insbesondere die Architektur kritisiert. Aus den zahlreichen situationistischen Texten zitieren wir Potlatch, Nr. 25 vom 13. Oktober 1955. Artikel von Bordiga sind in Espèce humaine et croute terrestre (Menschliche Gattung und Erdkruste), Payot, versammelt. Viele sind auch wieder abgedruckt in (Dis)Continuité (5 rue J.Brel, 8700 Nexon). Fügen wir hinzu, daß es zwar das alte Paris nicht mehr gibt, aber auch New York sich verändert hat und sozial gereinigt wurde: vgl. B. Benderson, Sexe et solitude, Payot, 1999.
[6] Dieser Punkt wird in Dynamique de la rétraction entwickelt werden. Der antiamerikanische Angriff vom September 2001 bezeugt ein »entre-deux« des Kapitalismus, das schon 1999 zu Tage trat. Vgl. unseren Text 10 + 1 Fragen zum Krieg der NATO gegen Serbien.
[7] Diese gelebte Wirklichkeit ist schon in die Werbung integriert worden: »Wir vermieten Ihnen mehr als ein Auto«.
[8] Wollen die Medien nicht einfach sein Image schädigen, wenn sie ihn so oft so bezeichnen? Man nennt Bush selten »den texanischen Milliardär«. [Mitte Dezember geben »US-amerikanische Experten« das Vermögen von Osama bin Laden auch nur noch mit »25 Mio. Dollar« an; d. Übers.]
[9] G.Kepel, Jihad - Expansion et Déclin de l'Islamisme, Gallimard 2000. O. Roy vertritt eine ähnliche These. Der politische Gebrauch des Islam durch die Großmächte begann vor dem 19. Jahrhundert und geschah im 20. Jahrhundert, als die Bolschewiki versuchten, den muslimischen Glauben in den Dienst der Arbeiter- und/oder nationalen Bewegung zu stellen (Kongreß von Baku, 1920).
[10] Ein noch größerer Sieg wäre es, den Islam nicht zu erniedrigen, sondern ihn im Gegenteil aufzuwerten: Mekka in ein kalifornisches Lourdes und die Imame in Fernsehprediger zu verwandeln; aus der Vergötterung ein Geschäft zu machen und - unter Beibehaltung der charakteristischen Abstraktion des Koran - keine Fetische, sondern virtuelle Spiritualität, das heißt, eine Spiritualität des Nichts zu verkaufen. Leider erfordert eine Religion nach amerikanischem Muster eine Gesellschaft desselben Typs.
[11] Vgl. den im Guardian erschienenen Text von Arundhati Roy; in der FAZ nachgedruckt unter dem Titel »Terror ist nur ein Symptom« (FAZ 28.9.2001).
[12] Siehe »Die Zeugen von Genua« von S. Quadruppani über Genua, erhältlich über die website von Infozone: http://www.listes.samizdat.net/wws/info/infozone_l
[13] Zitiert in Foreign Affairs, Sommer 2000.
[14] Diejenigen, bei denen der Antiamerikanismus ihre Ablehnung der Welt ausmacht, entledigen sich so der Kritik dieser Welt. Darüberhinaus bedeutet die Identifizierung von Kapitalismus mit den USA eine Rückkehr in die Blocklogik. Das ist der Fall bei Le Monde Diplomatique, der letzten Metamorphose des »Dritt-Weltlertums«.
Lücken am Checkpoint (Der Spiegel 41/2001 Die Sicherheitskontrollen an deutschen Flughäfen sind unterbezahlt und überfordert
Sven K., 23, war gerade mal sieben Tage in dem neuen Job, als er an der Sicherheitsschleuse in Berlin-Tegel den Passagier Salko Loncaric filzte. Weil die Handsonde laut piepste, knöpfte der Wachmann dem Fluggast mehrere Schlüssel und Steinchen ab. Danach durfte der 40-jährige Bosnier an Bord - und brachte wenig später mit zwei Holzknüppeln und einem Messer die Maschine ... in seine Gewalt. Mit Waffen, die Kontrolleur K. schlicht übersehen hatte.
Der Vorfall vom Januar 1997 verlief glimpflich ... Doch die peinliche Panne von Berlin-Tegel belegt eine fatale Entwicklung bei der deutschen Flugsicherheit, vor der Polizei und Gewerkschaften seit langem vergeblich warnen: Denn kurz vor dem Fall Loncaric hatte das Personal am Checkpoint gewechselt. Ein privater Sicherheitsdienst hatte mit einer Billigofferte den angestammten Schutz- und Wachdienst unterboten. Die neuen Kontrolleure wurden nicht nur schlechter bezahlt, sondern offensichtlich auch schlechter geschult.
Die Politik will es bis heute so, selbst in den Tagen groß angekündigter Anti-Terror-Pakete: Das Kabinett Helmut Kohl hatte 1992 eingewilligt, die immens hohen Kosten für die Flugsicherheit durch Einsatz privater Dienstleister zu drücken... Der Billigste erhält den Zuschlag. ... Die Bezahlung der Männer und Frauen, die mit Handsonden und Röntgengeräten nach Waffen suchen, erinnert in der Tat an die Dumpinglöhne auf vielen Großbaustellen: 13 Mark brutto pro Stunde bekommt ein Kontrolleur in Berlin-Schönefeld, nur 11,80 Mark sein Kollege am Airport Leipzig-Halle. Den Negativ-Rekord hält Erfurt mit 11,36 Mark Stundensatz, der Monatslohn bleibt damit auf Sozialhilfe-Niveau. ... Wer kann, sucht sich schnell was Besseres, ständig müssen deshalb neue Kräfte angelernt werden. ...
[Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei:] »Bei den Niedriglöhnen müsse der Hinweis erlaubt sein, daß 'Menschen mit negativen sozialen Rahmenbedingungen' leichter Fehler machten - und empfänglicher für Schmiergeld seien...«