Marx und Universalität
Loren Goldner
(Zuerst erschienen 1989 in New Politics unter dem Titel »The Universality of Marx«.)
Das gegenwärtige gesellschaftliche, politische und kulturelle Klima ist von einer seltsamen Anomalie geprägt. Seit über fünfzehn Jahren versinkt der Weltkapitalismus in seiner schlimmsten Systemkrise seit den 1930er Jahren, und noch dazu in einer, deren Auswirkungen auf die Biosphäre wesentlich schlimmer sind als damals. Gleichzeitig ist die gesellschaftliche Schicht, die sich Linke nennt, in Europa und den USA voll auf dem Rückzug. In vielen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern entwickelt diese Schicht ein zunehmendes Mißtrauen gegenüber der Weltsicht von Karl Marx, derzufolge der Kapitalismus solche Krisen mit sich bringt wie Sturmwolken Regen. Sein Blick auf die Welt sei eine »weiße/männliche« Art zu denken. Noch seltsamer mutet die Tatsache an, daß die relative Ausblendung von Marx großteils im Namen einer Ideologie von »Rasse/Gender/Klasse« geschah, die für Nichteingeweihte durchaus radikal und irgendwie marxistisch klingen mag. Dieser »Diskurs« (um seine eigene Begrifflichkeit zu benutzen) hat der Vorstellung von Klasse ausgerechnet das genommen, was sie bei Marx radikal gemacht hatte - daß sie für universelle Unterdrückung stand. Die Emanzipation der Klasse setzte nämlich die Abschaffung aller Unterdrückung voraus (und stellte gleichzeitig den Schlüssel dazu dar).
Die Frage nach der Bedeutung der Universalität, die von ihren Gegnern als »weiß/männlich« oder als »eurozentrisch« oder als »herrschender Diskurs« angegriffen wird, steht heute im Mittelpunkt der ideologischen Debatte. Sie ist zugleich ein Ausdruck der in jeder Hinsicht weltweiten Krise am Ende des 20. Jahrhunderts.
In den Schriften von Marx und Engels steht unter anderem, daß der Stand der Beziehungen zwischen Männern und Frauen der sicherste Gradmesser der Menschlichkeit einer jeden Gesellschaft sei, daß die gemeinschaftlichen Formen der Assoziation solcher Völker wie der nordamerikanischen Irokesen eine Vorwegnahme des Kommunismus darstellten und daß die Unterdrückung der matriarchalen durch patriarchale Verwandschaftsformen im antiken Griechenland zur selben Zeit stattgefunden habe wie die Verallgemeinerung der Warenproduktion, also des Protokapitalismus. Entgegen der aus der Aufklärung herrührenden schlichten Vorstellung von einem linearen Fortschritt schrieb Marx auch, daß jeglicher geschichtlicher Fortschritt, solange der Kommunismus nicht durchgesetzt sei, gleichzeitig von Rückschritten begleitet sei. Aber das ist meist recht bekannt, und das ist es auch nicht, was die Zeitgenossen stört. Was sie stört, ist, daß der Begriff der Universalität bei Marx und Engels sich letztlich weder auf kulturelle Konstrukte noch gar auf »Macht«beziehungen gründete, die Währung, in der die heutige Mode rechnet.
Der Universalismus von Marx beruht darauf, daß er die Menschheit als Gattung versteht, die sich von allen anderen dadurch unterscheidet, daß sie ihre Mittel, aus der Natur Reichtum zu gewinnen, ständig revolutioniert und sich damit von den relativ strengen Bevölkerungsgesetzen frei macht, die die Natur den anderen Gattungen auferlegt. »Das Tier produziert nur sich selbst«, schrieb Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844, »während der Mensch die ganze Natur reproduziert.« (MEW 40, S. 517). Fast 150 Jahre später ist das ökologische Verständnis, das diese Zeilen enthalten, immer noch um einiges weiter entwickelt als das der meisten der heutigen »Öko«-Bewegungen. Im Gegensatz zu anderen Gattungen sind die Menschen in ihren Beziehungen zur Umwelt nicht durch die Biologie festgelegt, sondern besitzen eine unendliche Fähigkeit, die Umwelt und sich selbst neu zu erschaffen. So gesehen ist die menschliche Geschichte die Geschichte dieser wiederholten Revolutionen in der Natur und somit in der »menschlichen Natur«.
Marx stellt für den aktuell herrschenden Kulturalismus - der dermaßen alles durchdringt, daß er sich nicht einmal selbst auf den Begriff bringen kann - eine gewaltige (und meiner Ansicht nach unüberwindbare) Herausforderung dar. Das ist es, was die zeitgenössische Linke so an ihm stört.
Der Gedanke, daß es eine entscheidende Universalität geben könnte und daß diese darin besteht, daß die Menschen eine Gattung sind, ist heute hinter dichten Wolken verborgen. Dabei verlieren seine Gegner darüber kaum Worte (oder sind sich überhaupt der Tatsache bewußt, daß es genau darum geht). Für sie sind solche Gedanken - wie auch der Gedanke, daß Westeuropa ab der Renaissance eine in der Geschichte einzigartige, revolutionäre gesellschaftliche Formation darstellte, daß die Idee des Fortschritts eine Bedeutung haben könnte oder daß es Kriterien geben könnte, anhand derer sich die Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit verschiedener »Kulturen« beurteilen läßt - »weiß/männliche«, »eurozentrische« Konstrukte, die Frauen, farbigen Völkern, Schwulen und Umweltschützern die »Differenz« ihrer »Identität« bestreiten.
So hat Edward Said hat ein populäres Buch mit dem Titel Orientalism geschrieben, das die Beziehungen zwischen dem Westen und dem Osten (und implizit zwischen zwei beliebigen Kulturen) als Begegnung zweier hermetisch versiegelter »Texte« darstellt, die dadurch unvermeidlich Störungen unterliegen und an Qualität verlieren. Said zufolge setzte der Westen seit dem Anbeginn der Moderne einem »dekadenten, stagnierenden« Orient den »Diskurs« eines »dynamischen Westens« entgegen. Da Said nicht einmal die Möglichkeit in Betracht zieht, daß es einen welthistorischen Fortschritt geben könnte, ist für ihn die Idee, daß das Europa der Renaissance einen historischen Durchbruch für die Menschheit darstellte, der ab dem 15. Jahrhundert den gesellschaftlichen Formationen der islamischen Welt überlegen war, keinerlei Diskussion wert. Das trivialisiert aber nicht nur den Durchbruch, den das Europa der Renaissance darstellt, es trivialisiert ebenso die Errungenschaften der islamischen Welt, die vom 8. bis zum 13. Jahrhundert den barbarischen Westen weit überragte, genauso wie die Errungenschaften des China der T'ang und Sung-Epochen, die zur selben Zeit beide vermutlich weit überragten. Wer nur Said liest, würde auch nie erfahren, daß die Blüte der islamischen Zivilisation im 13. Jahrhundert durch einen »Text« mongolischer Horden (wahrscheinlich ebenfalls Orientalen) unwiederbringlich ausgelöscht wurde, indem diese Baghdad dreimal dem Erdboden gleichmachten. Wenn man das Said-Buch per Zeitmaschine in die islamische Zivilisation unter dem Abbasiden-Kalifat transportieren könnte, hätten die Araber und Perser, die den Grundstein zur europäischen Renaissance legen halfen, seinen Kulturalismus wirklich seltsam gefunden. Man denke nur an die Bedeutung von Platon und Aristoteles für ihre Philosophie oder an die Linie der Propheten von Moses bis Jesus in ihrer Theologie. Saids an den Text geknüpfte Vorstellung von hermetisch versiegelten Beziehungen zwischen Gesellschaften und in der Weltgeschichte (die bei ihm keine eigentliche Bedeutung hat), ist die Quintessenz eines Kulturalismus, der sich unter dem Deckmantel der Radikalität in den letzten 20 Jahren überall breit gemacht hat.
Martin Bernal hat ein Buch mit dem Titel Schwarze Athene geschrieben, das von der aktuellen Mode gern mit Saids Buch in einen Topf geworden wird, obwohl es von einer genau gegenteiligen Sicht der Beziehungen zwischen Kulturen ausgeht und das Vorhandensein eines Fortschritts in der Geschichte keineswegs leugnet. Bernals Buch trägt den Untertitel »die afro-asiatischen Wurzeln der griechischen Antike - wie das klassische Griechenland 'erfunden' wurde«. Es versucht genau zu zeigen, wie die ägyptischen (also afrikanischen) und phönizischen (also semitischen) Kulturen die griechischen Errungenschaften in der Antike beeinflußten. Bernal will den griechischen Durchbruch damit nicht trivialisieren, sondern vielmehr, wie er gleich zu Beginn erklärt, durch Gegenüberstellung mit seinem tatsächlichen Hintergrund - dem Dialog mit anderen Kulturen - sein wahres Ausmaß sichtbar machen, das der moderne rassistische und antisemitische Klassizismus verdunkelt hat. Hätte Said sein Buch »Die hellenistischen Wurzeln der islamischen Zivilisation« oder »Die islamischen Wurzeln der europäischen Renaissance« genannt, wäre er sehr viel näher an Bernal gewesen, aber das wäre ein anderes Buch gewesen und ein weit besseres dazu, eines, das »in der Epoche von Foucault« wahrscheinlich nicht so populär geworden wäre.
In so einem Klima ist es richtig erfrischend, Samir Amins Eurocentrism zu lesen, das Buch eines ägyptischen marxistischen Intellektuellen, dessen Kritik am westlichen Ethnozentrismus, einschließlich wirklich eurozentrischer Varianten des Marxismus, nicht von einem relativierenden Diskurs kultureller »Differenz« her geschrieben ist, der kein kritisches Urteil abgeben kann. Amins Kritik des eurozentrischen Marxismus zielt nicht gegen dessen (unerfülltes) Streben nach Universalität, sondern geht eher davon aus, daß dieser Marxismus nicht universal genug ist. Amin sucht einen »Weg, die universalistische Dimension des historischen Materialismus zu stärken«. Nicht, daß er nicht selbst Probleme mit sich brächte, doch die sind anderer Art. Sein Buch hat jedenfalls Verdienste, die wir beleuchten sollten, bevor Leute nicht weiter lesen als bis zum Titel und es zu schnell dem Genre zuordnen, das Said etabliert hat (und dessen Weltsicht Amin in Bezug auf die ältere Kritik seitens Sadek Jalal el-Azm als »provinziell« charakterisiert).
Amin, der die »Gattungs«-Dimension des Marx'schen Denkens versteht, glaubt an viele altmodische Dinge. Er glaubt, daß es in der Weltgeschichte einen Fortschritt gegeben hat und zwar offensichtlich schon vor dem Aufstieg des Westens, daß die gesellschaftliche Formation, die das Europa der Renaissance hervorbrachte, revolutionär war, einzigartig in der Weltgeschichte und allen ihren Vorgängerinnen überlegen, und daß ihre Errungenschaften, einschließlich der Wissenschaften und der Rationalität, die Grundlagen für weiteren Fortschritt gelegt haben, der deutlich über den Westen hinaus gehen muß.
Im ersten Teil gibt Amin einen Überblick über die überwiegend mediterranen (vorkapitalistischen) »Tribut«-Gesellschaften, die der Renaissance vorausgingen, und stellt eine Theorie aufeinanderfolgender Erneuerungen vor, die ausgehend vom alten Ägypten Durchbrüche für die Menschheit als ganze darstellten und weitere Durchbrüche ermöglichten. »Der universalistische moralische Durchbruch der Ägypter«, schreibt Amin, »ist der Eckpfeiler des darauf folgenden menschlichen Denkens.« Später im antiken Griechenland fand »eine Explosion auf dem Feld der wissenschaftlichen Abstraktion« statt, bei der »empirische Praxis - so alt wie die Menschheit selbst - schließlich Fragen über das menschliche Bewußtsein aufwarf, die die Anstrengung systematischerer Abstraktion nötig machten.« Die Leistungen des alten Ägypten entwickelten sich später zu einer allumfassenden Metaphysik, die dem Hellenismus, und später Islam und Christentum, seinen Ausgangspunkt lieferte, wie die Denker der Epoche selbst erkannten.
Man kann sich wirklich über die besondere Betonung streiten, die Amin darauf legt, daß über tausende von Jahren etwas entstand, was er als allgemeine Synthese der »mittelalterlichen Metaphysik« bezeichnet, in der (der Moslem) Averroes, (der Jude) Maimonides und (der Christ) Thomas von Aquin ohne Bedenken Texte voneinander lasen, kritisierten und verwerteten. Aber sicherlich hat Amin recht darin, daß die Ursprünge des Eurozentrismus daher stammen, daß die gemeinsamen mittelalterlichen Ursprünge im östlichen Mittelmeer, wo der Islam dem barbarischen westlichen Christentum lange überlegen war und woraus der kapitalistische Westen entstand, aus der Geschichte hinausgesäubert wurden. Diese künstliche Herausnahme des griechischen Durchbruchs aus dem größeren Zusammenhang machte es erst möglich, die frühere Phase im alten Ägypten und speziell den späteren Beitrag des hellenistischen Alexandria zu vergessen, auf den sich Christentum wie Islam so sehr stützten und den sie später nach Europa übertrugen. In Amins Betrachtungsweise war es gerade die Rückständigkeit Europas im Vergleich zum islamischen Mittelmeerraum, die den nächsten Durchbruch dort ermöglichte, wo er sich nicht gegen die abgeklärte mittelalterliche Metaphysik des Islam durchsetzen mußte. Und wahrscheinlich wird niemand Amin als »Orientalisten« beschimpfen, wenn er »die Reduktion der menschlichen Vernunft auf ihre rein deduktive Dimension« durch die christliche und islamische Metaphysik benennt und bedauert, daß »das gegenwärtige arabische Denken sich davon noch immer nicht befreit hat.«
Amin kritisiert am Eurozentrismus wie gesagt nicht, daß dieser die Einzigartigkeit des modernen Kapitalismus und seinen Beitrag zum menschlichen Fortschritt während einer gewissen (längst beendeten) historischen Periode anerkennt. Er richtet seine Kritik dagegen, daß der Kapitalismus die Geschichte umschreibt und einen imaginären »Westen« konstruiert, der seine Durchbrüche angeblich ganz alleine schaffte, daß der Westen sich weigert, universelle Gesetze der Geschichte zu entdecken, die seine Errungenschaften genau einordnen und auch all die Gesellschaften sehen würden, die seine Grundlagen schaffen geholfen haben (so wie das Bernal für das antike Griechenland tut). Stattdessen hat der Westen eine mächtige Ideologie der Leugnung der weltweit wirksamen Gesetze der geschichtlichen Entwicklung produziert, die ihn selbst hervorgebracht haben. Er bestreitet den höchst universellen Charakter seiner eigenen Errungenschaften und »verewigt« den Fortschritt als etwas rein Westliches - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es lohnt sich, Amin hier ausführlich zu zitieren:
»Die vorherrschende Ideologie und Kultur des kapitalistischen Systems läßt sich nicht einzig und allein auf den Eurozentrismus zurückführen... Aber wenn der Eurozentrismus auch, streng gesprochen, nicht als Theorie gelten kann, so ist er doch auch nicht nur die Summe der Vorurteile, Irrtümer und Fehler von Westlern in Bezug auf andere Völker. Wäre das der Fall, handelte es sich hier lediglich um eine der banalen Formen des Ethnozentrismus, der allen Völkern zu allen Zeiten gemein ist. Die eurozentrische Verzerrung, die die vorherrschende kapitalistische Kultur kennzeichnet, leugnet aber das universalistische Streben, auf das diese Kultur angeblich gegründet ist... Die Kultur der Aufklärung stand vor einem wirklichen Widerspruch, den sie mit eigenen Mitteln nicht überwinden konnte. Denn es war offensichtlich, daß der werdende Kapitalismus, der den Kapitalismus hervorbrachte, sich in Europa entfaltet hatte. Darüberhinaus war diese Keimform einer neuen Welt früheren Gesellschaften tatsächlich überlegen - materiell wie auch in vielen anderen Aspekten -, und sowohl auf ihrem eigenen Territorium (dem feudalen Europa) als auch in anderen Regionen der Welt (dem benachbarten islamischen Orient und den entfernteren Orienten)... Die Kultur der Aufklärung war nicht in der Lage, die Tatsache dieser Überlegenheit mit ihren universalistischen Bestrebungen in Einklang zu bringen. Im Gegenteil driftete sie langsam in Richtung Rassismus als einer Erklärung für den Gegensatz zwischen ihr selbst und anderen Kulturen... Und so driftete die Kultur der Aufklärung zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Richtung Nationalismus ab, und dadurch verarmte sie im Vergleich mit ihrem eigenen früheren Kosmopolitismus.«
Damit ist auch klar, daß Amin mit islamischem Fundamentalismus und anderen Dritte Welt-Kulturalismen nichts anfangen kann. Denen bescheinigt er einen anti-universalistischen Provinzialismus, der einen Kontrapunkt zum Provinzialismus von Said und den postmodernen Kritikern des »weiß/männlichen Denkens« bildet (Amin benutzt letzteren Begriff nicht, aber ich tue das). Diese Verschmelzung der beiden Lesarten des »weiß/männlichen« sowie des durch die Weltgeschichte produzierten humanistischen Universalismus reproduziert in Wirklichkeit die vorherrschende Ideologie, indem sie abstreitet, daß die Renaissance in einer weiter gefaßten Menschheitsgeschichte einen Durchbruch dargestellt hat, und indem sie es nicht schafft, die Beiträge von »Nichtweißen« zu wesentlichen Aspekten der »westlichen« Kultur anzuerkennen, wie sie Bernal in Schwarze Athene zeigte (Bernal überläßt den schwarzen Nationalisten das Problem, wie man seinen Beleg für die afrikanische Dimension des alten Ägypten, auf der sie immer bestehen, mit seiner Behauptung zusammenbringt, daß dieses einen wichtigen Einfluß auf die griechische Kultur ausgeübt habe, die sie immer als »weiß« denunzieren). Von einem wirklich universalistischen Herangehen an die Geschichte kann sich weder der europäische noch der antiwestliche Provinzialismus viel versprechen.
Amins Eurocentrism trägt allerdings trotz der unleugbaren Stärken schwer an eigenem Gepäck ganz anderer Art. Was Amin bei der Diagnose brilliant vorlegt, zieht er bei der Therapie plump wieder zurück. Meine Kritik an ihm läuft auf dasselbe hinaus wie seine eigene Kritik an den Eurozentrikern: Er ist nicht universell genug. Sein Universalismus ist nicht der jener globalen Klasse von Arbeitern, die vom Kapitalismus ausgebeutet werden, sondern der eines Ideologen der Autarkie für die Dritte Welt. Er entwickelt den Anspruch, »die universelle Dimension des historischen Materialismus zu stärken«, endet aber dabei, daß er in nur leicht abgewandelter Sprache genau die Art Marxismus darbietet, dessen Debakel in den 1970er Jahren den Postmodernismus überhaupt erst groß gemacht hat. Amins Universalismus ist nicht der der internationalen Arbeiterklasse, sondern der des Staats. Die Postmodernisten gehen von der Annahme aus, daß jeglicher Universalismus zwangsläufig zu einer versteckten Rechtfertigung der Macht führt, auch der Staatsmacht. Leider kann Amin sie nicht eines Besseren belehren.
Wer ist Samir Amin? Am besten in Erinnerung ist er vielleicht als Autor des zweibändigen Werks Accumulation on a World Scale. Und nicht zufällig war es wie bei Eurocentrism und den meisten anderen seiner Bücher die Monthly Review Press, die es [ins Englische] übersetzte und veröffentlichte. Weniger wohlwollend erinnert man sich an ihn vielleicht als einen der entschiedeneren Apologeten des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha in den Jahren 1975 bis 1978, der auch dann noch auf seinem Standpunkt beharrte, als bekannt wurde, daß die an Völkermord grenzende Politik der Khmer Rouge eine Million von acht Millionen Menschen in Kambodscha umgebracht hatte. Kambodscha ist ja tatsächlich ein Beispiel für Amins Strategie der »Abkopplung«. Aufgrund von unschönen Erfahrungen bezeichnete er sie als »nationale volksdemokratische« Strategie, da sich weder die Sowjetunion noch China noch Pol Pots Kambodscha glaubwürdig als »sozialistisch« bezeichnet lassen (und bezeichnenderweise erwähnt er Kambodscha in Eurocentrism nicht ein einziges Mal).
Amin gehört zu einer Schule von Denkern - in diesen Zusammenhang gehören auch Bettelheim, Pailloix, Immanuel Wallerstein und Andre Gunder Frank -, die auf den Arbeiten von Baran und Sweezy aufbauten und in der Nachkriegszeit als Anhänger der »Monopolkapital«-Schule des Marxismus bekannt wurden (die natürlich keineswegs in allen Fragen denselben Standpunkt teilten). Das Forum der Monthly Review-Schule waren der Verlag und die Zeitschrift gleichen Namens. Sie entwickelte sich von den 1940er bis in die 1980er Jahre, befürwortete »antiimperialistische« Bewegungen und Regimes und hielt »Abkopplung« (um Amins Begriff zu verwenden) für den einzigen Weg, wie solche Bewegungen und Regimes (die sie damals gerne als sozialistisch bezeichnete) rückständige Länder entwickeln könnten. Diese Neigung führte sie von Stalins Rußland über Maos China, Sukarnos Indonesien, Nkrumahs Ghana und Ben Bellas Algerien bis zu Castros Kuba. Meist wurden sie enttäuscht. Beim Zerwürfnis zwischen China und der UdSSR hielten sie es mit China. Die Entwicklung nach Mao ließ ihre Leidenschaft für China abkühlen, und auf diese Enttäuschung folgten bald darauf Pol Pots Kambodscha, die Ausweisung der (von der Abstammung her chinesischen) boat people aus Vietnam, die vietnamesische Invasion in Kambodscha, der chinesisch-vietnamesische Grenzkrieg 1979 und Chinas Bündnis mit den USA. Man hatte es damals nicht leicht als »Antiimperialist«. Die »antiimperialistischen Kräfte« führten alle Krieg gegeneinander, und China bekam Waffen vom größten Imperialisten überhaupt. Um 1980, als die iranische Revolution eine fundamentalistische Wende nahm, kamen viele Menschen, auch in der Dritten Welt zu dem Schluß, daß »Antiimperialismus« allein nicht reichte. Einige meinten sogar, es gäbe so etwas wie einen reaktionären Antiimperialismus. Und schließlich betraten etwa zur selben Zeit Länder wie Südkorea und Taiwan als Industriemächte die Bühne, und zwar keineswegs mittels Autarkie, sondern indem sie den Weltmarkt und die internationale Arbeitsteilung benutzten. Amin und seine Freunde hatten immer gesagt, daß das unmöglich sei.
Abkopplung ist ein seltsamer Name für eine Idee, die zuerst Josef Stalin entwickelte und die er »Sozialismus in einem Land« nannte (Amin findet, daß Stalin mit den Bauern zu hart umgesprungen ist, aber er hat nie gesagt, was er über die Millionen denkt, die während Maos »Großem Sprung nach vorn« ums Leben kamen.) Die weltweite Strategie Amins und der Schule, aus der er kommt, beruht auf einer Theorie der »ungleichen Entwicklung«, die sie als ein permanentes Nebenprodukt des Kapitalismus begreifen. Das ist an und für sich in Ordnung, und schon Trotzki hat das achtzig Jahre vorher ausgearbeitet. Die »Abkopplung« ist für Amin und seine Mitdenker eine Strategie, um die »schwachen Glieder« in der Kette des internationalen Kapitalismus zu zerbrechen. Auch Karl Marx hatte eine Theorie über »schwache Glieder«, die er als »permanente Revolution« bezeichnete. Amin hat diesen Begriff nie benutzt, wahrscheinlich weil er meist mit Trotzki in Verbindung gebracht wird. Marx wandte ihn 1848 auf Deutschland an, um zu erklären, warum die deutschen Arbeiter, aufgrund der Schwäche der deutschen Bourgeoisie, im Kampf um Demokratie in der Lage waren, über den bürgerlichen Liberalismus hinaus zum Sozialismus überzugehen und damit der Revolution einen »dauerhaften« Charakter zu geben. Dieselbe Theorie wandte Leo Trotzki nach 1905 auf Rußland an und war damit vor 1917 der einzige, der die Möglichkeit einer von der Arbeiterklasse geführten Revolution im rückständigen Rußland vorhersah.
Anders als Amin machten Marx und Trotzki jedoch nicht den Vorschlag, die Arbeiter in den Ländern der »schwachen Glieder« sollten sich vom Rest der Welt abkoppeln. Für sie war die Arbeiterklasse eine internationale Klasse, und sie sahen in den deutschen und dann den russischen Arbeitern potentielle Anführer in einem weltweiten revolutionären Prozeß. Gemäß dieser Logik waren Strategie und Überleben der Bolschewiki 1917 vollständig von einem Erfolg der Revolution in Deutschland abhängig. Nach dem Scheitern der deutschen Revolution war die russische Revolution isoliert und in einem Belagerungszustand. Die »Abkopplung« wurde erst dann zu einem Bestandteil des sozialistischen Arsenals, als Stalin den grotesken und niemals zuvor gehörten Vorschlag des »Sozialismus in einem Land« und der damit zusammenhängenden drakonischen Autarkie machte.
Die Theorie Amins und seiner Kollegen von der Monthly Review beruht auf der Niederlage der weltweiten revolutionären Welle von 1917 bis 1921 und nicht auf deren Sieg, auch wenn sie ihren Ursprung selten so klar darlegen. Von Marx' Begriff der permanenten Revolution übernimmt Amins Theorie nur den Aspekt der »schwachen Glieder«. Amin denkt, die »Abkopplung« bewahre die Arbeiter und Bauern des abgekoppelten Landes vor dem blutigen Prozeß einer durch den westlichen Kapitalismus aufgezwungenen ursprünglichen Akkumulation. Die Abkopplung legitimiert jedoch lediglich eben diesen Prozeß, der nun durch die örtliche »antiimperialistische« Elite durchgezogen wird. Diese Lektion lernten die Arbeiter und Bauern z.B. Kambodschas auf die harte Tour. Amins Theorie koppelt die Arbeiter und Bauern der Dritten Welt auch von der einzigen Kraft ab, deren Eingreifen ihnen diese Prüfung ersparen könnte, nämlich von der internationalen Bewegung der Arbeiterklasse (Amin meint im wesentlichen, daß eine sozialistische Arbeiter-Revolution im Westen ein Hirngespinst sei, aber er ist zumindest ehrlich genug, das auszusprechen). Letztlich koppelt Amins Theorie die Arbeiter und Bauern in den »abgekoppelten« Ländern unter der Schirmherrschaft der »nationalen Volksdemokratie« (er traut sich nicht mehr, dazu, wie früher üblich, Sozialismus zu sagen) an Mao, Pol Pot und deren mögliche Nachfolger an, die selbst den Platz der westlichen Kapitalisten einnehmen und die Akkumulation mit Phrasen über den »Aufbau des Sozialismus« durchziehen. Und deswegen kann man Amins Theorie zu Recht als Theorie einer Dritte Welt-Elite und seinen Universalismus als Universalismus des Staats bezeichnen. [...] Deshalb können wir nur bedauern, daß Samir Amins energische Verteidigung einiger der wichtigsten Aspekte bei Marx, über die im gegenwärtigen Klima des postmodernen Kulturalismus dermaßen hergezogen wird, sowie sein absolut richtiger Versuch, über den eurozentrischen Marxismus hinauszugehen, sich mit seiner schwachen »Nationale Volksdemokratie«-Strategie der Abkopplung paaren. »National« und »Volks-« waren auch in der Sprache des Faschismus zentrale Wörter, und keines der Regimes, die Amin über die Jahre für ihr »Abkoppeln« pries, ist auch nur ansatzweise demokratisch. Der nächste Durchbruch in der Weltgeschichte muß über die Ausbeutung, die für den Weltkapitalismus kennzeichnend ist, hinausgehen, und zwar in der »Peripherie« und im »Zentrum«. Die jüngste Geschichte hat genügend Fälle gesehen, in denen eine »Abkopplung« zu einem autarken Zusammenbruch geführt hat, der tragischerweise bei Millionen von Leuten in Ländern wie Polen, der Sowjetunion, China und Kambodscha die Erwartung ausgelöst hat, daß ihnen der westliche Kapitalismus etwas Positives anzubieten hätte. Das hat er nicht. Samir Amin jedoch auch nicht.