Wildcat-Zirkular Nr. 65 - Februar 2003 - S. 15-17 [z65utopi.htm]


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»Utopistik«: Plädoyer für die Weltrevolution

-- Ein Lesetipp --

Die alte Linke betrachtet die Welt aus dem Blickwinkel ihres eigenen Zerfalls. Deshalb wird alles immer schlimmer, ein Angriff des Kapitals jagt den anderen und jedesmal ist er »ohne geschichtliches Beispiel«, der »schärfste«, den es je gab usw. ... In dem schmalen Bändchen Utopistik zeigt Immanuel Wallerstein, in welchem Maße 1968 (zusammen mit 1989) tatsächlich eine Weltrevolution war - und welche Folgen dies bis heute hat. Dies wirft nebenbei die Frage auf, wie eine Konsequenz dieser Revolution (niemand glaubt mehr an den Staat) auch eine Ursache für die Krise der staatsfixierten Linken ist.

In der ersten der drei Vorlesungen von 1997 umreißt Wallerstein die Resultate seiner Forschungen zum kapitalistischen Weltsystem: der globale Kapitalismus braucht zwar die Nationalstaaten als absichernde Machtstrukturen, er greift aber von Anfang an über sie hinaus und umspannt den gesamten Globus. Der Real-Soz war kein Gegenpol, sondern Teil des Weltsystems. Da der Kapitalismus als Weltsystem existiert, kann es auf nationaler Ebene keine Revolutionen geben, also Umbrüche, die der langfristigen Entwicklung des Systems eine andere Richtung geben. Demzufolge streitet er sowohl der französischen wie der russischen »Revolution« ihren Charakter als Revolutionen in Bezug auf den Kapitalismus ab, da sie auf ein Land begrenzt blieben und die Situation der Klasse nicht wesentlich verändert haben. Wirkliche Weltrevolutionen erkennt er in der Gleichzeitigkeit der vielen Aufstände von 1848 und der von 1968.

Das langfristige Ergebnis der Weltrevolution von 1848 war die Herausbildung eines ideologischen Dreigestirns: Liberalismus, Konservativismus und Sozialismus. Obwohl sich diese Ideologien im Tagesstreit bekämpften, waren sie doch verbunden im gemeinsamen Bezug auf den Staat - sei es als Hüter der Ordnung oder als Hebel für die gesellschaftliche Veränderung. Auf diese Weise trugen alle drei zur Stabilität des Kapitalismus bei, denn die Konzentration auf den Staat versprach den Proletariern überall auf der Welt eine Verbesserung ihrer Situation, ohne den grundlegenden Mechanismus dieses Weltsystems, die Priorität endloser Kapitalakkumulation, in Frage stellen zu müssen.

Langfristig und im Weltmaßstab betrachtet bedeutete 1968 einen welthistorischen Bruch mit der Fixierung auf den Staat. Liberalismus wie Sozialismus verloren unwiderbringlich ihre Fähigkeit, das nach wie vor starke Verlangen nach einer besseren Welt auf die Macht des Staates zu lenken. Die Versprechungen der sozialdemokratischen Reformen in den Metropolen verloren ebenso ihre Glaubwürdigkeit wie die Entwicklungsprogramme der Regimes in der Peripherie. Und damit schwindet die Vorstellung, die Kontrolle oder Übernahme der Staatsmacht könne irgendetwas zum Besseren wenden - die Mobilisierungen in Argentinien 2002 stehen genau vor dieser Frage.

Die Perspektive der »verschwommenen Antistaatsideologie«, von der Wallerstein spricht, ist nicht eindeutig positiv besetzt - die zweite Vorlesung heißt »Der schwierige Übergang oder die Hölle auf Erden«. Er sieht keinen Automatismus hin zu einer besseren, nachkapitalistischen Gesellschaft - aber auch keine Perspektive mehr für das kapitalistische Weltsystem. Die Ideologie des Neoliberalismus, die nach 1989 als Triumph des Kapitalismus und »Ende der Geschichte« daherkam, entmystifiziert Wallerstein als vergeblichen Versuch, die Krise des Kapitalismus aufzuhalten. Sicherlich hat der Neoliberalismus auf kurze Sicht für einige Gruppen von ArbeiterInnen eine Verschlechterung ihrer Situation bedeutet. Aber er kann das Rad der strukturellen Veränderungen nicht zurückdrehen: aufgrund der »Entagrarisierung der Welt« gelingt es immer weniger, das Gefälle zwischen der Macht starker und schwacher Gruppen von ArbeiterInnen zur Senkung der Lohnkosten auszunutzen. Dadurch nimmt die »Verhandlungsmacht der Arbeiter weltweit zu«, was zu einem globalen Trend des Anstiegs der Lohnkosten geführt hat. Dies gilt auch für die indirekten Lohnkosten wie den Sozialstaat, dessen Ausgabenvolumen trotz aller Thatchers und Reagans nicht eingedämmt werden konnte.

Wallerstein räumt auch mit einem anderen Mythos über den Neoliberalismus und die Globalisierung auf. Während die Linke die abnehmende Stärke der Staaten auf ihre Ohnmacht gegenüber einem global agierenden Kapital zurückführt (und sich dann oft zum Verteidiger des Nationalstaats und seiner »Souveränität« macht), betont Wallerstein, dass gerade die transnationalen Unternehmen starke Staaten zur Absicherung ihrer Geschäfte brauchen. Die Wurzel der weltweiten Entlegitimierung der Staaten sieht er im Verhalten der ArbeiterInnen, die von allen staatlichen Entwicklungsmodellen enttäuscht sind, sei es die westliche »soziale Marktwirtschaft«, das sowjetische Modell oder die Entwicklungspolitik in der »Dritten Welt«. Dies macht den Umbruchscharakter der heutigen Zeit aus: dass die Ablehnung der Staaten vom weltweiten Prozeß der Proletarisierung ausgeht.

Bei allen Schwächen, die das Bändchen im einzelnen hat (insbesondere der dritte Teil, in dem er ein wenig attraktives Bild einer nachkapitalistischen Gesellschaft aus dem Blickwinkel des Gesellschaftsplaners zeichnet), hier läßt sich viel lernen! Wallersteins Analyse ist ein Appell, sich jenseits der staatlichen Politik auf die Prozesse zu beziehen, in denen der Untergang des globalen Kapitalismus besiegelt ist. Bei allem Strukturalismus und Determinismus, den man Wallerstein vorgeworfen hat, im Zentrum dieser Prozesse sieht er die Proletarier dieser Welt agieren.

Immanuel Wallerstein:
Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts,
Promedia Wien (www.mediashop.at) 2002, 120 S., 9,90 Euro

Lesenswert: Aktuelle Kommentare von Immanuel Wallerstein aus der Perspektive des Weltsystems


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