02.07.2004 | |
Im Süden nichts NeuesVon der Unmöglichkeit radikaler Gewerkschafterei(Oiseau–Tempête Nr. 10 – Frühjahr 2003) Um die Organisationsform Gewerkschaft einmal aus kritischer Perspektive betrachten zu können, haben wir Yann Brault interviewt, der ab Mitte der 80er Jahre bis zum November 2001 gewerkschaftlich engagiert war. Sein Väter ist ländlicher Herkunft und lernte Yanns Mutter, die Tochter eines kleinen Kaufmanns, kennen, als beide in den 60ern bei Citroen in der Region Rennes beschäftigt waren, der Vater als Angestellter im Büro, die Mutter als Arbeiterin. Diese beiden taten alles, damit Yann auf die Schule gehen konnte. Am nachhaltigsten beeindruckte ihn aber die Haltung seiner Mutter ihrem Los als Citroen–Arbeiterin gegenüber. »Nachdem sie meine Schwester und mich bekommen hatte, gab es zu ihrer Schufterei bei Citroen keine Alternative mehr, dabei wäre sie doch viel lieber als Hebamme gegangen, das war ihr Traum gewesen. Ihre Situation frustrierte sie sehr; sie war in der Teilemessung, und ich konnte genau spüren, was sie beim morgendlichen Gang ins Werk empfand. Es war bestimmt nicht das Recht auf Faulheit, was sie umtrieb, in unserer Familie gab es eine bestimmte Arbeitsmoral, aber eine allgemein menschliche Revolte kam hinzu: Mein Leben lang in so einen Mistladen zu müssen, geht mir auf die Nerven. Hierzu fällt mir der Film Reprise von Hervé Le Roux ein, jenes immer wiederkehrende Bild von der Frau, die schreit: Ich will nicht wieder in diesen Knast zurück! ... wie meine Mutter, vier oder fünf Mal täglich habe ich sie das sagen hören...« Yanns eigener Geist der Revolte fand seinen Ausdruck nach und nach, als er den Wehrdienst verweigerte und in den Kampfkollektiven für das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen mitarbeitete. Zuvor bereits hatte er sich in der Bewegung der christlichen Landjugend, dem MRJC, umgesehen, den er als »von Maoisten und Marxisten–Leninisten der Humanité–Rouge übernommen« beschreibt. Damals (1975) ging es im MRJC um Arbeitslosigkeit und die Rolle der Schule bei der Reproduktion des kapitalistischen Systems, was Yann half, ersten theoretischen Grund zu finden. Seinen weiteren Weg markieren alles in allem eher glückliche Stationen. Als Bildungslektüre dienen ihm die Publikationen des Verlags Spartacus (1982–1984). Er beteiligt sich an den Kämpfen der Öko–Bewegung gegen Atomenergie (vor allem in Plogof), führt ein Kommunardenleben und interessiert sich für männerseitige Schwangerschaftsverhütung. »Das Bewusstsein um die Notwendigkeit des politischen Kampfes sowie die Ideen Andre Gorz' zur Arbeitszeitverkürzung« bringen ihn im Jahre 1984 zu den französischen Grünen. Doch nach zwei Jahren verlässt er die im Entstehen begriffene Partei wieder, deren damals bereits breit aufscheinenden Logiken von Opportunismus und Apparat ihm zuwider sind. 25–jährig und Vater einer kleinen Tochter von zweieinhalb Jahren »tritt er in den Lohnarbeiterstand«, bewirbt sich mit Erfolg als Postler und fängt an, im neunten Stadtbezirk von Paris einem Berufsleben nachzugehen. Nach sechs Monaten Arbeit führen sein weiterhin lebhafter Wunsch nach Engagement, die Bedingungen der Lohnarbeit, seine Ablehnung der kleinen Chefs sowie sein Bestreben, Kampfgenossen zu finden, dazu, dass er sich gewerkschaftlich organisiert. Da er die CGT/PC [Gewerkschaft der Kommunistischen Partei] sowie die FO [Gewerkschaft der trotzkistischen LCR] ablehnt (»von alters her die Organisation von Post–Betriebskarrieristen« mit dem Entrismus der OCI–PT) schließt er sich der Gewerkschaft CFDT an, die mehr oder weniger von der LCR jedoch auch von der UTCL (Vorgängerorganisation der aktuellen AL Alternative Libertaire) kontrolliert wird und interessiert sich sehr bald für die aufkommende innergewerkschaftliche Opposition. Da er mit der offiziellen Linie der Organisationszentrale nicht übereinstimmt, wird er ausgeschlossen und zwar zusammen mit einer größeren Zahl anderer Mitglieder, die sich alle nicht in einer Gewerkschaft wiederfinden können, die lauthals eine Position des Co–Managements und der »Sozialpartnerschaft« vertritt. All diese (200 bis 300) Mitglieder standen vor der Wahl, sich nun entweder der CGT anzuschließen oder einzeln in die CFDT zurückzukehren, oder zu versuchen, etwas anderes auf die Beine zu stellen. Schließlich entscheiden sich die meisten dafür, »etwas anderes« aufzubauen. Dies sollte die Gewerkschaft SUD werden, und es begann im Januar 1989...
Das Gespräch mit Yann
Weggang von der CFDT und Eintritt bei SUD
OT.– Was verbirgt sich hinter der Bezeichnung SUD? Y.– Nicht wenige phantasierten von Solidarnosc und wollten die Gewerkschaft daher Solidarität nennen. Auch schuf der Name SUD Bezug zu den Vorstellungen der Dritte–Welt–Aktivisten. Zu Beginn waren das »U« (unité = Einheit) und das »D« wie Demokratie faktisch eine Reaktion auf das Gezerre CGT gegen CFDT und Ausdruck davon, den Begriff Kampf auf andere Weise verstehen zu wollen, das heißt, eine Organisation zu sein, die die Einheit an der Basis so weit wie möglich voranbringt. SUD beanspruchte, eben die Gewerkschaft zu sein, deren Aktionsvorschläge sich nicht auf Verhandlungen beschränken. Die Aktionsvorschläge sollten auf Belegschaftsvollversammlungen entwickelt und abgestimmt werden. Als Organisation sollte SUD sich von bürokratischen Organisationen unterscheiden – insbesondere von der CFDT, deren interne Demokratie damals bereits ganz erloschen war, eben dagegen kämpften die Oppositionellen in der CFDT. Es kam wie erwartet, bei SUD wurde diese Demokratie lebendig... Die Organisation verstand sich von Beginn an als sehr dezentral und föderal, was ihr während der Zeit ihres Aufbaus – fünf oder sechs Jahre lang – auch gelungen ist; langsam kamen die Betriebsratswahlen von 1994. Über fünf Jahre hinweg hatte es bei Post und Telekommunikation keine Wahlen mehr gegeben, weil sich die Direktion vor dem Aufkommen von SUD fürchtete. Unter dem Vorwand, Post und Telekommunikation wären mitten in der Phase ihrer Reform, waren die Wahlen, die sonst üblicherweise alle drei Jahre stattfinden, verschoben worden. Die CFDT arbeitete unverhohlen daran, die anstehenden Wahlen hinauszuzögern. CFDT und Direktion der Post führen die Geschäfte faktisch gemeinsam; die CFDT–Führung ist unmittelbar Teil der Geschäftsleitung. Bei unseren ersten Wahlen hatten wir im März 1989 im Department Ile de France mehr Stimmen als die CFDT bekommen, was uns ausreichend Räumlichkeiten und halbtags freigestellte AktivistInnen verschaffte. Das Ministerium für Post und Telekommunikation sowie die traditionellen Gewerkschaften setzten nach den Wahlen darauf, dass wir bald wieder verschwinden würden, doch waren die meisten unserer Gründungsmitglieder unter den Beschäftigten als die kämpferischsten Vertreter der CFDT im Großraum Paris und in einigen Nachbardepartments anerkannt. Paradoxerweise waren es eben die zurückgestellten Wahlen gewesen, die SUD nach vorn brachten: In den Regionen außerhalb der Hauptstadt waren wir nun dermaßen gewachsen und verbreitet, dass wir aus den Wahlen im Jahre 1994 gestärkt hervorgingen. Innerhalb kürzester Zeit waren wir drittgrößte Gewerkschaft bei der Post und die Nummer Zwei im Telekommunikationsbereich geworden.
OT.– Und warst Du von Beginn an dabei? Y.– Ja. Diese von ihrem Charakter her föderale Bewegung wuchs bei Post und Telekommunikation auf ganz natürliche Weise, denn es gab zahlreiche dienstlich motivierte Versetzungen von Beschäftigten; es entstanden so sehr schnell und haufenweise SUD–Gliederungen. Anfangs war ich für eine Basisgliederung im neunten Pariser Stadtbezirk verantwortlich. Als ich dann im Jahre 1990 in die Provinz versetzt wurde, konnte ich mit 15 weiteren Genossen aus der Bretagne die Gewerkschaft im Department Rennes aufbauen. Zu Anfang waren wir Leute, die Erfahrung und eine gewisse politische Kultur hatten, doch sehr bald schlossen sich uns andere an, bei denen das meist nicht der Fall war. In jener Zeit, von 1991 bis 1996 war ich eins von 30 gewählten Mitgliedern des SUD–Regionalbüros und nahm an den monatlichen Sitzungen teil.
OT.– Warum schlossen sich diese Leute nicht z.B. der CFDT oder der CGT sondern SUD an? Y.– Weil SUD sich als die einzige Gewerkschaft erwies, die verstärkt Aktionsvorschläge gegen die mit dem Gesetz Quilès begonnenen Deregulierungen bei Post und Telekommunikation brachte. Die CFDT ließ sich auf Tarifverträge ein, die faktisch zu Kaufkraftverlust führten. Was die Löhne anging, hatte die CFDT keine passende Antwort mehr. Und die CGT besitzt zwar den Ruf, Kämpfe anführen zu können, von den Leuten wurde sie jedoch eher als Bremser und als undemokratisch wahrgenommen.
OT.– Reden wir von den 1995er–Streiks... Y.– SUD–PTT [PTT – Poste Télégraphes et Téléphones] wurde von der Bewegung von 1995 und von denen, die sich SUD in anderen Branchen angeschlossen hatten, als eine interessante Ausgangsbasis betrachtet. Denn auch bei den PTT selbst hatten wir nicht brancheninterne, sondern allgemeinere Kämpfe im Blick: gegen die Rentenreform und die Veränderungen bei den Arbeitsverträgen und –bedingungen der Eisenbahner sowie beim Öffentlichen Dienst insgesamt. Schon 1995 macht sich das Fehlen einer eigenständigen Strategie bei SUD sichtbar. Zwar gab es an der Basis etwas Stimulierendes, gerade weil eine echte Aktionseinheit angestrebt wurde. In Wirklichkeit führte dies Schritt für Schritt in eine Sackgasse, da wir von vornherein mit dem unumgänglichen großen Partner CGT eine gemeinsame Strategie verfolgen wollten. Damit verboten wir uns schließlich harte Aktionen... Dies war zu einer Vorbedingung geworden, an der die Verantwortlichen von SUD–PTT bis heute in ganz Frankreich festhalten; es wurde zu einer Bremse, wir steckten fest. Und als die CGT und in geringerem Maße die FO im Dezember 1995 zum Rückzug bliesen, kam die Bewegung tatsächlich ohne weiteres zum Stehen.
OT.– Hast Du jene Streikbewegung tatsächlich so erlebt und gesehen? Haben die Gewerkschaften die Ereignisse bei den PTT durchgängig kontrolliert? Y.– Aber ja. Das alles hatte nichts mehr zu tun mit den Bewegungen von 1988 oder mit den Koordinationen, die es von früher her seit dem Streik von 1974 bei den PTT gegeben hat. Gewiß gab es 1995 Koordinationen, Basisbewegungen die mehr oder weniger von älteren Gewerkschaftern organisiert wurden, doch diesmal zündete es nicht bei den PTT.
OT.– Kannst Du etwas über die Rolle von SUD bei den Eisenbahnern sagen? Y.– Mit den Eisenbahnern ist das eine andere Geschichte oder besser gesagt war es so, dass SUD–Rail dort erst aus der Bewegung von 1995 hervorgegangen ist, denn die CGT und mehr noch die CFDT haben bei den 95er–Kämpfen der Eisenbahner den Bremser gemacht. Vielleicht liegt das daran, dass die libertäre Strömung bei den Eisenbahnern stärker ist als bei den PTT. Zurück zu PTT–SUD nach 1995: Nach den 1994er–Wahlen hatten wir infolge des guten Wahlergebnisses mehr Mittel für die gewerkschaftliche Arbeit zur Verfügung, was zu der zentralen Frage führte, wie man eine aktive Organisation bleiben könne, wenn man sich der Institutionen und ihrer Mittel bedient..., nämlich der mit den Wahlen gewonnenen Posten in den paritätischen Kommissionen sowie in den Kommissionen für Gesundheit und Arbeitssicherheit wie auch durch nun ganztags freigestellte SUD–GewerkschafterInnen. Ich selbst wurde im Mai 1995 ganztags freigestellt.
OT.– Wenn man Deinen Lebensweg und Deine schon lange vertretenen Auffassungen bedenkt, auch schon in der Zeit vor Deinem Eintritt bei SUD, so muß sich doch die prinzipielle Frage für Dich gestellt haben: Was soll man von den »Permanents« den vollzeitlich freigestellten Gewerkschafterinnen halten? Ist es das, was in Deiner jetzigen grundsätzlichen Kritik an der Gewerkschafterei wieder zum Tragen kommt? Y.– Bereits seit den 80ern war ich mir darüber im klaren, dass ein vollzeitfreigestellter Gewerkschafter ein potentieller Bürokrat ist. Doch meine Genossen und ich waren so kühn zu glauben, unsere Aktivität als Permanents auf andere Weise nutzen zu können, nämlich eben für den Aufbau einer »Kampforganisation die stört«! Um hier einen Anglizismus zu bemühen, erlebte ich mich vollauf als organizer vom Typ des »unbestechlichen Laufburschen für die Basis«, wie er aus den US–Gewerkschaften bekannt ist, einer der ganze Regionen durchpflügt, um den Belegschaften zu helfen, sich zu organisieren: ein Stück weit der Mythos vom »Join your union!«. Sechs Jahre lang von Mai 1995 bis April 2001 während SUD–PTT seine wichtigste Entwicklung durchmachte, war ich vollzeitlich freigestellter Gewerkschafter. Mit Unterstützung des Föderalbüros hatten wir 1990 mit 15 Personen die Gewerkschaft im Department Rennes gegründet. Ende 2001 waren wir an die 260 Mitglieder. Von 1995 an nach vier sehr mühseligen Jahren explodierte die Aktivität der Gewerkschaft förmlich, und sie zählte nun mehr Mitglieder als die täglich intensiv rackernden Militanten. Durch kollektiven Entscheid war ich der einzige Permanent des Departments. Mit der Wahl zum Departmentssekretär, die alle zwei Jahre nach der Wiederwahl vom SUD–Kongreß bestätigt wurde, erfolgte meine Beauftragung als Kontaktperson für die Basis. Einen Chef gab es nicht, eher einen leitenden kollegialen Zusammenschluss aus etwa einem Dutzend Mitgliedern, und faktisch war es möglich, mich anlässlich der monatlichen Treffen des Büros wieder abzusetzen. Ich wollte hören, was die Basis zu sagen hatte und sie unterstützen. Über die Entscheidung für die Tätigkeit als Permanent lässt sich streiten, doch unter unseren Bedingungen handelte es sich tatsächlich um den Aufbau einer Kampforganisation, eines Netzwerks mit einer gewissen voluntaristischen Ungeduld, ohne darauf zu warten, dass die Geschichte nun aktive Arbeiterinnenkoordinationen hervorbringen würde! Ich erledigte eine Menge Aufgaben einfachster materieller oder administrativer Art, war zuständig für alles, was die meisten Genossinnen für unter ihrer Würde erachteten, was jedoch in einer auf Dauer angelegten Organisation nicht liegenbleiben kann. Anlässlich lokaler Konflikte oder zur Unterstützung von Mitgliedern oder Kolleginnen war ich ständig im Department Ille–et–Vilaine unterwegs. Die meiste Zeit verbrachte ich mit frühmorgendlich beginnenden Besuchen in den Unternehmen, stellte da und dort Kontakte her und war zu den zwei oder drei Tage dauernden föderalen Versammlungen regelmäßig in Paris. In unserem Department mit seinem Netzwerk aus gewerkschaftlichen GründerInnen und AnimateurInnen (etwa 15 Personen) sahen wir uns in unserem Verhältnis zur Leitungsebene im föderalen Apparat als »die Basis«. Unsere Positionen standen sehr oft gegen die SUD–PTT – Mehrheitsmeinung.
OT.– Erzähle bitte von der Entwicklung von SUD... Y.– SUD ist trotz allem Gefangene der Logik der Aktionseinheit mit der CGT geblieben. Ab 1996 standen bei Post und Telekommunikation entscheidende Weichenstellungen an, nämlich das erste Gesetz zur Privatisierung die Überführung der Telekommunikation in eine AG (France–Télécom), und unser Denken war bereits institutionsgebunden geworden: Wir hatten KandidatInnen für die Verwaltungsräte der France–Télécom und der Post aufgestellt; von den sieben den GewerkschaftsvertreterInnen vorbehaltenen Posten im Verwaltungsrat der Franee–Télécom hatten wir zwei inne. Unsere beiden Vertreter Christophe Aguiton und Francine Bavet konnten über die Rolle von Statistinnen nicht hinauskommen. Im vergangenen Jahr war Francine Bavet eine der tragenden Säulen der Wahlkampagne des grünen Politikers Noel Mamere, und bereits davor war sie Vizepräsidentin der Region Ile–de–France, 1996 als Nummer Drei auf der Liste von Strass–Kahn für die Wahlen zu den Regionalparlamenten gewählt...!
OT.– Haben die Mitglieder von SUD damals nicht reagiert? Y.– Doch ab Ende 1997 gab es Zeter und Mordio bei den Mitgliedern, und es wurde verlangt, sie solle ihren Posten als gewähltes Mitglied der Gewerkschaften im Verwaltungsrat der France–Télécom aufgeben. Schließlich hatte SUD immer darauf bestanden, es solle keine Interessensverquickung von Gewerkschaft und Politik geben!! Doch dazu mußte erst der Protest der Basis her...
OT.– Worin lagen die Unterschiede zwischen CNT [anarchosyndikalistische Gewerkschaft] und SUD in der Frage der Teilnahme an den Branchenwahlen? Y.– Eben darin, dass SUD – weit entfernt von der Weigerung der CNT, bei den Wahlen mitzuspielen – von vornherein und aus mehreren Gründen Kandidatinnen aufstellen wollte. SUD beteiligte sich an den paritätischen Verwaltungskommissionen mit Sitz und Stimme, weil die Interessen der Beschäftigten dort in aller Regel direkt verteidigt werden. An die Kommissionen können Beschwerden gerichtet werden, was ihre Möglichkeiten – und deshalb lehnt die CNT sie ab – auf Beiratsarbeit beschränkt. Vertreten werden dort die Angelegenheiten der Beschäftigten wie z.B. Beförderung, Beurteilung, Disziplinarisches oder Stellenbeschreibungen, und diese »Personalakten–Gewerkschafterei« führt unvermeidlich zu einer Art von Klientelismus. Zum zweiten war da noch die Auffassung, dass Demokratie heißen soll, durch direkte Wahl von der Belegschaft bestimmt zu werden, wie dies bei den Belegschaftsdelegierten der Fall ist. Daher konnten wir klarstellen, welche Organisation die Beschäftigten – aus demokratischer Sicht – haben wollten. Hier stehen wir vor dem Problem der Delegation von Macht, das Problem der Repräsentation. Repräsentation ist von ihrer Funktion und von der Sache her das, was sie auch in der parlamentarischen Demokratie ist. Du wählst eine Gewerkschaft, folglich bekommst Du eine Demokratie per Delegation. Das ist weit von der direkten Demokratie der Belegschaftsvollversammlungen entfernt. Wem Koordinationen als Organisationsform nicht reichen, der endet ganz zwangsläufig bei Repräsentation. Die Koordinationen gelten zu Recht als etwas nicht Dauerhaftes. Ausschließlich während sozialer Kämpfe konnten sie Wirkung entfalten. Als wir uns für die Mitarbeit im gegebenen institutionellen Rahmen entschieden haben, hatten wir das abschreckende Beispiel der Koordinationen der Krankenpflegerinnen vor Augen, die zu einem klassischen korporatistischen Mist entartet sind, wahrscheinlich schlimmer noch als die Gewerkschaften selbst.
Schleichende Deregulierung und Privatisierung bei den PTT
Y.: In dem Moment, wo SUD mehr und mehr Erfolg bei den Wahlen hat, trifft die Deregulierung mit voller Wucht die Post und France–Télécom. Bei der Post zeigt die Privatisierung sich in einer vielleicht noch schlimmereren und erschreckenderen Weise, nämlich, dass kaum Beamte sondern weit überwiegend Angestellte eingestellt werden. Doch werden die Angestellten nicht unbefristet fest, sondern nur befristet, und falls fest, dann nur in Teilzeit eingestellt, die ihnen in den meisten Fällen aufgenötigt worden ist. Seit nun sechs oder sieben Jahren werden 80% des Personals zu diesen Bedingungen eingestellt. Was die France–Télécom betrifft, so war das Privatisierungsgesetz noch vor Jospins Amtsantritt als Premierminister bereits von der Vorgängerregierung verabschiedet worden. Im Sommer 1997 heckte Strauss–Kahn dann einen Bericht über die Zukunft der France–Télécom aus. Er beeilte sich damit und so brachte die linke Mehrheitsregierung bereits im September 1997 die France–Télécom an die Börse und brach ihr Wahlversprechen vom Frühjahr.
OT.– Was hat SUD daraufhin getan? Y.– Ah interessante Frage... Alles was die Föderation ihren Mitgliedern und der Belegschaft vorzuschlagen wusste, war ein Referendum nach der Machart von Air France, was jedoch keineswegs mit dem von Air France vergleichbar war; das Referendum ging um die Frage: »Sind Sie für oder gegen den Börsengang?« Es gab damals ein gewaltiges Murren und wir waren absolut nicht einverstanden, wurden aber verdonnert, den Mund zu halten; denn: »So ist Demokratie nun einmal, die Belegschaft muss nach ihrer Meinung gefragt werden!«!! Salto Nummer eins. Nummer zwei kam 1999 anlässlich der Privatisierung der Postkantinen. Die Gesellschaftsform des Kantinenbetriebs war so gestaltet, dass die Geschäfte von den Gewerkschaften geführt wurden, wenn auch faktisch eine gemeinsame Geschäftsführung mit der PTT–Direktion vorlag, denn der Laden war ein Goldesel. Für die Beschäftigten von Post und Télécom bedeutete die Kantine eine indirekte Gehaltszulage, weil man dort für 3,75 Euro anständig essen konnte... Bei der France–Télécom war die drohende Privatisierung im Jahre 1999 schon sechs Monate im voraus absehbar, eher noch als bei der Post. Was macht SUD? Nichts bzw. sehr wenig. Die CGT instrumentalisiert ein vorhandenes Protestpotential, indem sie ausschließlich das Kantinenpersonal mobilisiert. Die eigentlichen Nutznießer der Kantine, die Beschäftigten von Post und Télécom, werden in einigen Regionen so auch in der meinigen an mehreren Mittagen zu Wurst–auf–der–Hand–Demos eingeladen; das war alles. Diese Art von Kino dauert sechs Monate, nie wurde auch nur der Versuch zu einem Streik der Gesamtbelegschaft unternommen. Am Ende machten die Restaurationsvertragsbetriebe Sodexo und Eurest das Rennen und übernahmen die Postkantine. Für mich war das das zweite große Einknicken von SUD. Bei den aufrechten SUD–Mitgliedern hat dies eine enorme Frustration, Enttäuschung und Demoralisierung hervorgerufen.
Die Konflikte um die Arbeitszeitverkürzung im Jahr 2000
OT.– Fingen die Mitglieder an, SUD den Rücken zu kehren? Y.– Nein, sie blieben, wenn auch verbittert. Denn im folgenden Jahr gab es bei der Post bedeutende Konflikte: Streiks von zehn– bis fünfzehn Tagen, ganze Departments wurden lahmgelegt, zwar selten alle zur selben Zeit, doch alles im selben Zeitraum von Ende 99 bis Anfang 2000. Im Department Ille–et–Vilaine dauerte der Konflikt 15 Tage: Besetzung der Postdirektion bei Tag und Nacht. Das hatte es bei der Post seit zehn oder fünfzehn Jahren nicht mehr gegeben. Dem war eine breiter gewordene Verankerung von SUD vorausgegangen, das ganze Department war mit einem gewerkschaftlichen Netzwerk überzogen worden und dies auch – und das war neu – in Bereichen, wo die Veränderungen der Arbeitssituation aktuell am deutlichsten spürbar geworden waren: bei den Briefträgerinnen. In Gewerkschaften wie SUD gibt es den Mythos, die Belegschaften der Postverteilzentren seien am meisten kampfbereit; so war das beim Streik im Jahre 1974 gewesen, aber diesmal haben die BriefträgerInnen den Anfang gemacht, die Belegschaften der Postverteilzentren haben sich allerdings gleichermaßen mobilisiert.
OT.– Kam das, weil die »35 Stunden« die Arbeitsorganisation der Briefträgerinnen stärker in Frage stellten? Y.– Ja, in Frage gestellt wurde das »handwerkliche« bei den Briefträgerinnen. Denn nun beginnt die Industrialisierung der Postverteilung. Sowohl bei den langgedienten als auch bei den jungen Arbeiterinnen, die gerade erst angefangen hatten, regte sich Widerspruch. Während in den oberen Etagen Scheinverhandlungen geführt wurden, gingen in Rennes 250 bis 600 Leute auf die Straße und waren den ganzen Tag über auf den Beinen. Der Diskurs der föderalen gewerkschaftlichen Apparate, auch der SUD, war: »Wir müssen für bessere 35 Stunden verhandeln.« Schnell zog sich die Schlinge zu. Die sogenannte Arbeitszeitverkürzung besteht aus dem Tausch: Freistellungstage gegen längere Arbeitstage und längere Verteiltouren. Tatsächlich ist aus den Freistellungstagen nie wirklich was geworden. Was tatsächlich kam, war die Einführung von Jahresarbeitszeitkonten. Das war aber ganz und gar nicht die Arbeitszeitverkürzung, welche die Beschäftigten wollten und wie sie von der historischen Bewegung von vor 1936 gefordert worden war, nämlich die Reduzierung der täglichen und der wöchentlichen Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche und acht Stunden am Tag (1). Seit langem herrscht bei den PTT und anderswo die gewerkschaftliche Phantasterei von gerechter Verteilung der Arbeit oder der Schaffung von Arbeitsplätzen »für Jugendliche« (sic!) oder »Springer«, während die Abschaffung regulärer Arbeitsverhältnisse munter weitergeht. Aus unserer Sicht war das der dritte große Verrat: Während der Streiks und Besetzungen unternimmt bei SUD nichts zur Zusammenführung der einzelnen Kämpfe. Falls eine gewerkschaftliche Föderation überhaupt zu irgend etwas nütze ist, dann doch wohl dazu, die einzelnen Kämpfe zu verknüpfen. Und auch hier wieder hatte man Angst, vor dem »großen Bruder« CGT: Was wird er wohl tun? Wir hatten Angst zu einem landesweiten Streik aufzurufen... Außerdem rückten die Wahlen näher (Oktober 2000): Wer jetzt einen Fehler macht, verschenkt vielleicht die Stimmenmehrheit an die anderen! Mein Hauptvorwurf geht dahin, dass SUD nie den Mut hatte, Risiken einzugehen, falls die Kämpfe einmal anzuschwellen begonnen; und dieser Mut fehlte selbst dann, wenn es um so wichtige Fragen ging, wie ich es gerade eben an den drei Geschehnissen, aufgezeigt habe. Mut würde bedeuten: »Die Basis ist in Bewegung geraten; wir ziehen mit, wir rufen die Gesamtbelegschaft der PTT zum allgemeinen Streik auf, und es schert uns gar nicht, was die CGT dazu sagen wird, und sollte es schief gehen, dann haben wir eben Pech gehabt.«
OT.– Das ist die eine Seite die Gewerkschaftsführung. Wie hat die andere Seite, wie haben die Beschäftigten das aufgenommen? Y.– Es waren ja bei weitem nicht alle Beschäftigten an diesem Kampf beteiligt. Ich versuche auch ich nicht, die fehlende Beteiligung der sozialen Bewegung mit »verräterischen Gewerkschaftsführungen« zu erklären (wie Linksradikale dies tun). Die Leute lassen sich eben nicht einfach mal so in Bewegung bringen, und bevor sie sich auf eine Sache einlassen, wird ganz genau hingeschaut, um was es sich handelt. Die Methoden, die Belegschaften am Umbau des Betriebs »mitwirken« zu lassen, die dazugehörigen Fragen und Scheinverhandlungen spalten die Beschäftigten untereinander, spalten das eine vom anderen Unternehmen ab und teilen in eine entsprechende Anzahl unterschiedlicher Arbeitsgruppen unter Beteiligung der jeweiligen Betriebsdirektionen und Gewerkschaften auf. Das hat bei Post und Télécom Schaden angerichtet. In unserem Department war es ganz allein SUD, die diese Strategie systematisch durchkreuzt haben. Die Mehrheit der Beschäftigten konnte das Spiel leider nicht schnell und weit genug durchschauen als , dass es zu einem allgemeinen Flächenbrand hätte kommen können. In der Nuklearphysik heißt es: Es fehlte die erforderliche kritische Masse! Wir hatten eben erst begonnen, unser Netz zu stricken. Doch im Zuge der Entwicklungen bei SUD gab es – insbesondere bei den Briefträgerinnen – den Eindruck eines sich ausweitenden organisierten Widerstandes. Was wir damals jedoch eindeutig verstanden haben war die Unmöglichkeit, dass es im Rahmen von Gewerkschaft zu Selbstorganisation kommen würde.
OT.– Welches sind die wesentlichen Gründe, aus denen Du SUD verlassen hast? Y.– Da sind die drei »historischen« Ereignisse des Einknickens, über die ich gerade eben berichtet habe. Doch auch, wenn ich allein an SUD selbst denke, sind dort bezeichnende Dinge geschehen. Während zweier SUD–Gesamtkongresse haben wir aus dem Department Ille–et–Vilaine eine Debatte über die Gründe in Gang bringen müssen, deretwegen wir »gegen den Liberalismus« bzw. »anti–liberal« sind. Wir haben die Frage direkt auf den Punkt gebracht: »Antiliberalismus oder Antikapitalismus?«, und wir sprachen uns natürlich dafür aus, den ersten Begriff fallenzulassen und nur den zweiten zu verwenden! Wir sind in dieser Frage unterlegen. Auf einem Departmentskongreß ging die Debatte um die Frage »Erneuerung« oder radikale »Alternative« zur bestehenden Gewerkschafterei. Gegen uns meinte der Generalsekretär der Föderation, es sei nicht unsere Aufgabe, die Gewerkschafterei von vorn bis hinten neu zu schaffen, vielmehr sei das Bestreben der SUD, Teil einer Erneuerung der existierenden Gewerkschafterei zu werden –an der Seite der FSU und der Dissidenten von CGT und CFDT... Genau so sah es aus, das Bestreben der »linksradikalen Strömung der französischen Gewerkschaftsbewegung«!
OT.– Welche Verbindungen gibt es genau zwischen SUD und den politischen Parteien, insbesondere zur LCR... ? Y.– Von Beginn an gab es eine Strategie und Verbindungen. Beispielsweise ist die Selbsteinschätzung »antiliberal« zu Beginn der 90er Jahre unauffällig eingeführt worden, nachdem die Föderation einen Multiple Choice–Fragebogen unter die Anhänger verteilt hatte; der Fragebogen war vom Typ »Lernen wir uns besser kennen!«, und die Auswertung erbrachte eine Mehrheit für »antiliberal + eher antiliberal«. Indem dies so früh festgeschrieben und als Profil ausgewertet worden ist, hat der föderale Apparat keinen Hehl daraus gemacht, mit groben Klötzen bauen zu wollen... Es sind dies immer dieselben politischen Akteure, die auch am Aufkommen bürgerschaftlicher Assoziationen wie AC! (Gemeinsam handeln gegen die Arbeitslosigkeit!) und später ATTAC gearbeitet haben – Mitglieder der LCR, von Alternative Libertaire, Grünen, Ex–Maoisten der PCML oder der VLR, oder es sind diese Menschen, die aus der Umgebung dieser Organisationen kommen. Hier sind nicht allein LCR–Mitglieder zu nennen... Ich meine, es könnte interessant sein, über den Einfluß zu reden, den als libertär ausgewiesene Strömungen auf die Entwicklung von SUD hatten: »Historische« Mitglieder von Alternative Libertaire sind auf Departments–Ebene und in der Gesamtorganisation SUD–PTT–Verantwortliche. Die Neutaufe ihrer UTCL (Union des Travailleurs Communistes Libertaires der 80er Jahre) durch das bezeichnende Fallenlassen des Begriffs »Communistes« hat sie nicht auf Distanz zum Staat gebracht, das Gegenteil ist der Fall. Um antikapitalistisch zu bleiben, reicht es nicht, den Sicherheitsstaat Sarkozys zu kritisieren oder öffentlich über das »Projekt des Arbeitgeberverbandes MEDEF« zu sprechen. Im Namen der Rettung der Errungenschaften des Sozialstaats (rechtlich garantierte soziale Absicherung, Recht auf Arbeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Recht auf gewerkschaftliehe Vertretung, Beamtentum) investieren sie sehr viel Energie und Aufwand in juristische Aktivitäten. Die Entmystifizierung des Staates und den Kampf gegen seine modernen Kategorien – beides unbedingt notwendig –verschieben sie auf den St. Nimmerleinstag. Der moderne Staat steht meiner Meinung nach jedoch in eins mit dem Kapital. Gern gebrauche ich in diesem Zusammenhang die Bewertung »Staatsanarchismus«, die Claude Guillon gegen Noam Chomsky vorbrachte (2), um eine Strömung wie die Alternative Libertaire innerhalb von SUD und der CNT zu analysieren... Die Faszination einiger Maoisten bei SUD in Rennes für das Staatsrecht ist weniger überraschend. Dieses Gebiet hilft ihnen dabei, sich als unersetzliche Experten und graue Eminenzen auszuweisen. Die Verbindung von SUD mit anderen politischen Organisationen ergibt sich offensichtlich eben hier auf der Ebene von Repräsentation und »Expertokratie« (eine Barbarei) und ich will dazu sagen, dass dies eine Verbindung von Besitzhabenden ist! Gemeinsam führen all diese New Look–Leninisten die SUD–Solidaires–GIO [eine Aktionsgemeinschaft von zehn kleineren frz. Gewerkschaften, der auch SUD angehört], wobei sie noch in einem weiteren Punkt übereinstimmen: dem frenetischen Einsatz der Medien. Medien – eine weitere Kategorie moderner staatlicher Apparatur. SUD hat seine »Scheindissidenz« wahrlich meisterhaft demonstriert. Das von Louis Janover stammende Wort Scheindissidenz paßt ihnen wie ein Handschuh. Janovers kleine Büchlein dienen mir seit 20 Jahren als Gegengift (3). Dies Sichgemeinmachen mit dem Rechtswesen der kapitalistischen Demokratie, dieser mediale Gestus noch früher als Jose Bové... Am Ende hat dieser Bluff eine Menge Mitglieder und Beschäftigte bei Post und Télécom in Euphorie versetzt und hat die von uns gewollte langwierige aber effektive Arbeit des beständigen Kräftemessens und Unterspülens der Fundamente der Macht ersetzt; das ist die unschöne Wahrheit!
Überlegungen zur Organisationsform Gewerkschaft
OT.– Wie stellt sich für dich die Organisationsform Gewerkschaft heute dar? Y.– Ich frage mich, ob Gewerkschaften durch ihre Rücksichtnahme auf den Unternehmenserfolg nicht die Lust der Beschäftigten auf Organisierung hemmen. Die Ereignisse um die Streiks im jahr 2000 gegen die Arbeitszeitverkürzung und die hinter den Streiks stehende recht außergewöhnliche Bewegung haben mir diese Frage geradezu aufgedrängt. 250, an den besten Tagen 600 Menschen haben während der 15–tägigen Besetzung vor den Toren der Postdirektion kampiert. Die gewerkschaftliche Verbindung CGT SUD CFDT hatte die Ereignisse bestens im Griff, und die Menschen waren abwartend. In Unternehmen wie Post und France–Télécom ist die gewerkschaftliche Verankerung gewichtig. Selbst die CGT hat sich dem Verfahren allgemeiner Betriebsversammlungen unterworfen – es macht sich gut, die Beschäftigten während der Verhandlungen zu konsultieren – doch in puncto Aktionen, wann immer schnelle Reaktionen gefragt waren, damit man nicht draußen brav vor der Tür bleiben mußte, blieben die Leute abwartend. Wir von SUD haben verstärkt die Initiative ergriffen und regelmäßig Vorschläge gemacht, die auf harte Aktionen hinausliefen. Nach zehn Tagen haben die Betriebsvollversammlungen beschlossen, ein Postverteilzentrum zu besetzen. Die meiste Zeit waren wir es gewesen, die Besetzungen von Postämtern etc. vorgeschlagen haben, sogar noch am letzten, dem 15. Streiktag. Heute erscheint es mir so, als würde die Lenkung des Geschehens durch die Gewerkschaften – einschließlich durch uns, die AktivistInnen von SUD – einen Teil der Beschäftigten nach etwa der ersten Streikwoche dahingehend beeinflussen, ihrerseits nicht mehr über Aktionen nachzudenken bzw. sich nicht mehr für die Entwicklung der Streikbewegung verantwortlich zu zeigen. Einer der Schlüsse, die ich daraus gezogen habe, ist, dass die Repräsentation der Beschäftigten durch eine Organisation eigenes Handeln zum Erliegen bringt.
OT.– Letztendlich sprichst Du von der zentralen Frage der Repräsentation» und vom Prozess der Normalisierung... Y.– Als SUD vor zehn Jahren entstand, hatten wir bereits die Angewohnheit, Gewerkschaften wie die CFDT oder die FO als Reformbegleitungsgewerkschaften zu bezeichnen, da sie – geringfügige – »Vorteile« im sozialen Bereich aushandelten, damit die großen und bitteren Pillen leichter geschluckt werden. Faktisch gehört auch die CGT in diese Kategorie. Und heute nun ziehe ich den Schluß, dass auch SUD eine Reformbegleitungsgewerkschaft geworden ist, sogar die begabteste ihrer Generation. Denn SUD hat es verstanden, einen neuartigen, Illusionen nährenden (medial) spektakulären Aktivismus zu formen, der jedoch das Funktionieren der Maschine, Restrukturierungen oder den Wegfall von Arbeitsplatzen nicht durch die kollektive Aktion der Beschäftigten in Frage stellt. Ich hatte mir vor gut einem Dutzend Jahren inniglich gewünscht, durch die Entstehung einer Gewerkschaft wie SUD eine Form der Organisation zu finden, welche die institutionellen Gegebenheiten zwar nutzen würde, die dabei jedoch erfolgreich vermeiden könne, selbst gewinnbringend genutzt, normalisiert zu werden. Wir hatten die Illusion, eine auf Dauer beständige Protestorganisation zu schaffen. Etwas Geeigneteres als die gewerkschaftliche Form der Organisation fanden wir nicht. Denn Gewerkschaften bieten zwar die sichere Aufrechterhaltung eines konkreten technischen Gerüsts, welches die Beschäftigten miteinander verbindet und das die Wachsamkeit fördert, um erforderlichenfalls schnell reagieren zu können. Tatsächlich aber siegen die Zwänge institutioneller Prozeduren innerhalb kürzester Zeit. Die Teilnahme an den Wahlen, doch auch die Mitarbeit in den Gremien für Gesundheit und Arbeitssicherheit bzw. in den paritätisch besetzten Instanzen, bis zur Verwaltung der Kantine unter kapitalistischen Vorzeichen – all das gehört zur Falle der Institutionen! Anarcho–syndikalistische Organisationsformen vom Typus der CNT stehen unter demselben Druck. Revolutionäre Gewerkschafterei wird theoretisiert, praktisch immer dieselbe alte Theorie der »einheitlichen Strömung einer interner Opposition«, an die ich absolut nicht glaube! Nur in Phasen schärfer geführter sozialer Kämpfe können die Belegschaften die Fähigkeit zur Selbstorganisation entwickeln. Wer dauerhafte Strukturen sucht, mit denen sich die Schwächeperioden der proletarischen Bewegung überbrücken lassen, sollte außerhalb der Gewerkschaften schaffen, auch wenn sie bescheiden bleiben.
OT.– Sind all die Mitglieder, die SUD gleichzeitig mit Dir verlassen haben, aus den selben Gründen gegangen wie Du? Y.– Nein natürlich nicht. Die nach dem Streik gegen die Arbeitszeitverkürzung als letzte zu uns gestoßen sind, sind zuallererst sehr enttäuscht: Vor kurzem noch repräsentierte SUD die Hoffnung auf eine andere Gewerkschafterei, die kampfbereit ist. Natürlich besaßen nicht alle plötzlich und mit einem Schlag einen politischen Bezugsrahmen. Und wieder andere mussten ganz einfach Abstand gewinnen, denn wir hatten über eine erheblich lange Zeit hinweg intensiv gewerkschaftlich gearbeitet. Daneben aber gibt es bei uns allen einen tieferen Grund für unseren Bruch mit SUD, nämlich, dass wir antiautoritär und antikorporatistisch sind. Die Vorgehensweisen bestimmter Mitglieder zur Erhaltung ihrer Machtpositionen standen durchweg mit der unbestreitbaren Normalisierung der Föderation in Einklang. Wie anderswo führen sich auch bei SUD bestimmte Individuen wie Gurus auf, ich meine diese Spezialisten für internationale oder juristische Probleme. Die Intrigen, die Geschäftsordnungstricksereien der kleinen engstirnigen Gruppe hatten überhandgenommen. Wir haben etwas mehr als ein Jahr ausgehalten. Seit vier, fünf Jahren hielten wir ein monatliches »horizontales« Treffen von Aktiven aus unterschiedlichsten Berufsgruppen ab. Aber einen solchen Ablauf wollte die Fédération SUD nicht. Während vordem von unseren Verfolgern die nichtkorporatistische Einheit vertreten worden war, bemühten sie sich jetzt verbissen darum, ihre Sektionen voneinander abzuschotten und versuchten als radikal betrachtete Bereiche (Postangestellte) außerhalb der Gewerkschaft zu organisieren! Ihr taktischer Opportunismus traf sich mit dem der fédération. Unter dem Deckmantel der Effizienz und der Weiterentwicklung nach Berufssparten wurden die Abgrenzungen zwischen Post und Télécom, zwischen Briefträgern, Postsortierern und Postscheckbearbeitern gefördert, eine spezielle Politik für die Angestellten und eine für die Beamten. Nachdem sie auf der Departements–Tagung auf unsere Opposition gegen diese Richtung mit kaum 70 % wiedergewählt worden waren, traten wir zurück. Die Verfolgung, der wir ausgesetzt waren, gipfelte im physischen Angriff auf einen von uns, und aus Opportunismus half die Fédération SUD PTT den Angreifern: Wir waren nicht mehr zu kontrollieren, also musste man uns zur Minderheit machen. Zahlreiche soziologische Schriften haben das Entstehen von SUD glorifiziert, aber deren Normalisierung wurde nicht untersucht! Meine Frustration in Bezug auf Gewerkschaften liegt hauptsächlich darin, dass es möglich ist, direkt an den Arbeitsplätzen ein Kampfnetz zu organisieren, das sich der Unternehmerschaft und dem Staat widersetzt, das im Innern des Proletariats wie eine Glut glimmt. Das ist außerdem auch der Grund dafür, dass die trügerischen syndikalistischen Organisationsformen immer noch aufrechte Aktive anziehen können. Ab jetzt haben wir nicht mehr diese Möglichkeit der Delegierten, uns überall in den Abteilungen frei bewegen zu können. Ich glaube, dass meine Genossen auch diese Frustration empfinden, denn die Ausbeutungssituation, die wir täglich erleben, wird immer angespannter, und alle möchten am liebsten kämpfen. Andrerseits haben wir gewiss weniger Lust auf Syndikalismus als vor einem Jahr, denn seine Substanzlosigkeit und seine reale Funktion sind uns erschreckend deutlich geworden...
Kampfkollektiv außerhalb der Gewerkschaften
OT.–Die Leute, die zur selben Zeit wie du die SUD verlassen haben, wie viel seid ihr heute und was macht ihr zusammen? Y.–Wir sind 15 Aktive bei der Post und France–Télécom, die in der Bretagne aus SUD ausgetreten sind. Wir versuchen eine Art Organisationskollektiv aufrechtzuerhalten, um nicht in die individuelle Atomisierung zurück zu verfallen, was in den Abteilungen üblich ist. Unser Kollektiv tritt unter der Bezeichnung NADA auf, denn wir repräsentieren NICHTS außer uns selbst. Wir sind versucht zu sagen, dass es in dieser Art mehrere Arbeiterkollektive geben sollte, zunächst von eher kleinem Umfang. Wenn sich diese Formen entwickeln würden, würde das die repräsentative Rolle der Gewerkschaften einschließlich der CNT und der SUD ins Wanken bringen. Auf der anderen Seite, im Falle eines wichtigen sozialen Konflikts, wären diese Kollektive vorher selbst schon in bescheidenem Maße eine Schule direkter Demokratie gewesen, um zu lernen, sich gleichberechtigt oder an Stelle der Gewerkschaften auszudrücken.
OT.– Das würde heißen, dass das Kollektiv in »ruhigeren« Zeiten die Aufgabe hat, Informationen unter den Arbeitern zirkulieren zu lassen und in Kampfzeiten, wie zur Zeit der RTT, sich darum zu bemühen, den Gedanken der Selbstorganisation voranzubringen... Y.– Ja, nach zwei Jahren besteht immer noch das Bedürfnis, eine Kampfgemeinschaft zu bleiben. Wir treffen uns weiterhin einmal im Monat. Wir besprechen gegenseitig, wie jeder an seinem Arbeitsplatz alles für einen heftigeren Widerstand der Arbeiter tut. Die untätigen gewerkschaftlichen Organisationen wirken zur Zeit wie ein Bleideckel, so dass eher ein gewisser Defätismus vorherrscht. Wir treffen täglich auf das Hindernis der »Integration der Arbeiter in den Kapitalismus«. Die fixe Idee, in den Vorruhestand zu kommen, ist am einen Ende der Alterspyramide genauso stark, wie am anderen Ende die Quasi–Lähmung durch die Prekarität/Flexibilität. Paradoxerweise ist den Leuten die Belanglosigkeit der Gewerkschaften bewusst, sie sind aber davon durchdrungen, dass dennoch diese Gewerkschaften für ihre Angelegenheiten verantwortlich seien und das Monopol hätten, sie zu verteidigen, berufliche Entwicklung und Beförderungsperspektiven oder Lohnkrümel auszuhandeln. Obwohl die Privatisierungen ihre gewohnten Jobs zerstören, ist doch klar, dass die Mehrheit der Leute noch nicht genug verlieren, dass sie den Arsch bewegen und ihre Interessen selbst in die Hand nehmen würden. Trotzdem wenden wir uns seit eineinhalb Jahren weiter an unsere Kollegen mit Flugblättern am Eingang der Postkantine, mit Diskussionen beim Job, bei jeder günstigen Gelegenheit: gegen die Abschaffung der Telekom–Schalter für Leute mit beschränktem Bankzugang; gegen die Bestrebungen, uns jeden Samstag schuften zu lassen; gegen den Arbeitsplatzabbau und Reorganisierungen; im Alltag gegen den Druck der Manager, besonders auf die Prekärsten; oder wie zuletzt in den Demos vom 26. November [2002] oder 3. April [2003], gegen Gewerkschaften und Parteien jeden Schlages, die sich nicht trauen, eine soziale Bewegung gegen die Regierungsprojekte in Gang zu setzen.
OT.– Und wie steht es mit der CNT, die sich als eine radikale Gewerkschaft darstellt, die anders als die anderen ist und dabei auch die SUD kritisiert, die »wie die anderen geworden ist«? Y.– Solange sie nicht bei den Betriebswahlen kandidieren, umschiffen sie schon eine geheiligte Klippe. Aber es gibt eine zweite Klippe für sie, die typischerweise eine Gewerkschaftsschwelle ist: die »Expertokratie«. Weil das Arbeitsrecht und das Beamtenrecht (die beide bei Post und Télécom nebeneinander existieren) so komplex und dereguliert wurde, braucht es Experten, um die Arbeiter sowohl individuell als auch kollektiv zu verteidigen. Ich vernehme auch den Diskurs der CNT, der auch der Diskurs der SUD am Anfang war: »Die Vollversammlungen sollen entscheiden«. Die CNT bleibt reserviert, sobald es eine Bewegung gibt, sie sind hinter der SUD, lassen SUD ein wenig mit der CGT das Geschehen dirigieren und lassen beiseite ihren kleinen Unterschied vernehmen. Das ist zu wenig, um eine radikal alternative Organisation zu den Gewerkschaftsläden zu werden.
OT.– Gibt es typisch syndikalistische Klippen, die Ihr zu vermeiden versucht? Y.– Im vergangenen Februar gab es einen Briefbotenstreik in meiner Dienststelle, der sich gegen die Abschaffung des bisher garantierten einen arbeitsfreien Samstags in drei Arbeistswochen und gegen drei Verteiltouren richtete. In den vorangegangenen Wochen hatte unser Kollektiv zusammen mit der lokalen CNT und einer bestimmten Vertretung von SUD zum Streik ermutigt. Aber weil er sich nicht auf andere Abteilungen ausbreitete und weil es Scheinverhandlungen gab, brach der Streik nach drei Tagen zusammen. Es gab eine typisch gewerkschaftliche Klippe, die man grundsätzlich vermeiden muss: Unsere Chefs werden in allen Methoden antisozialen Kampfes bestens geschult, »Verhandlungsrunden« sind ein Teil davon, besonders bei einem Streik nach bestimmten Regeln. Eine Streikbewegung darf niemals die mindeste Verhandlung suchen, sonst lässt man sich auf die schiefe Bahn bringen und verliert vor allem Zeit und Elan.
OT.– Wie siehst Du die Zukunft Eures Kollektivs? Y.– Wir hängen nicht dogmatisch an unserer Organisationsform, ich bin im Gegenteil sicher, dass es keine andere Haltung gibt, als daran zu arbeiten, die gewaltigen Wogen anschwellen zu lassen, die den Klassenfeind dazu zwingen, zurückzuweichen und ohne Diskussion das Feld zu räumen. Das braucht Zeit, aber man findet schon in unserer eigenen Haltung ermutigenden Trost, man pfeift auf die Normalisierer aller Schattierungen: uns werden sie nicht kriegen!
Anmerkungen in [...] sind von den Übersetzern
Anmerkungen:1–Siehe: Nadayn, »Le temps des vils«, Oiseau tempête Nr. 9, Sommer 2002. 2–Siehe Claude Guillon, »L’effet Chomsky ou l’anarchisme d’État«, Oiseau tempête Nr. 9. 3–Siehe Louis Janover, »Voyage en feinte–dissidencs«, Paris–Méditerranée, 1998.
|
|
[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] |