03.07.2005 [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]

 


Die Gefangenen des Herrn K

Repression gegen die Bewegungen in Argentinien


Als Herr Kirchner vor zwei Jahren das Präsidentenamt übernahm, stand er vor einer doppelten Aufgabe: nach Kriseneinbruch und Aufstand die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen - und die Bewegungen zum Schweigen. In beidem hat er scheinbar Erfolg. Er kann ein Wirtschaftswachstum von neun Prozent vorweisen, während die Bewegungen erheblich zurückgegangen sind. Die Mittelschichten sind größtenteils wieder nachhause gegangen; die asambleas, bei denen sich in jedem Stadtteil Hunderte auf der Straße trafen, sind auf Gruppengröße geschrumpft. Bei den piqueteros haben sich mehrere große Organisationen vereinnahmen lassen; ihre Anführer sind gern gesehene Gäste im Regierungspalast und verurteilen die Straßenblockaden der anderen. Die meisten besetzten Betriebe wurden (vorübergehend) legalisiert; hier wird kaum noch demonstriert und umso mehr gearbeitet.

Kirchner stellt sich gerne in die Reihe der linken Regierer Lateinamerikas. Er ist bekannt für seine Anti-IWF-Rhetorik. Mit populären Maßnahmen hat er Sympathien erobert; er ist gegen die Mörder in Uniform der letzten Militärdiktatur vorgegangen und gegen korrupte Beamte. Weniger bekannt ist die repressive Seite dieser Regierung: Tote durch Polizeigewalt, überfüllte Knäste, Gefangene nach Demonstrationen und Strafverfahren gegen 4000 AktivistInnen, bei denen es ebenfalls um viele Jahre Knast geht. Kirchner hat keine Amnestie für die alten Verfahren erlassen. Sie bleiben als Drohung bestehen gegen alle, die weiterhin gegen schlechtes Leben auf die Straße gehen. Auch Kirchner scheint davon auszugehen, dass die Ruhe trügerisch ist.

Knast und Gewalt gegen Arme

Über das Wirtschaftswachstum können sich mit Kirchner in erster Linie die Multis freuen. Seit 2002 sind die Verkäufe der 50 größten Unternehmen im Land um 16 Prozent gestiegen - und ihre Gewinne um 184 Prozent. Die Lage der ArbeiterInnen bleibt weiterhin fatal. Von der Million Arbeitsplätze, die 2003/2004 entstanden sind, sind mehr als vier Fünftel prekäre Beschäftigungen mit Niedriglohn. Inzwischen arbeitet die Hälfte der Beschäftigten in Argentinien im informellen Sektor, wo die Löhne meist nicht zum Überleben reichen. Immer noch leben vierzig Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Auf die Folgen der kapitalistischen Krise antworten die Politiker auch in Argentinien mit Gesetzesverschärfungen und Masseninhaftierung. Seit 1998 hat sich die Zahl der Inhaftierten verdoppelt. Von 100 000 EinwohnerInnen sitzen fast 200 im Knast. Argentinien liegt damit weltweit an achter Stelle (Spitzenreiter sind die USA mit einer Quote von etwa 700). Das argentinische Knastsystem ist nicht für so viel Armut ausgelegt. In der Provinz Buenos Aires sitzen 25 000 Gefangene in Knästen, die für 19 000 vorgesehen sind. Folter, Misshandlungen und Psychopharmaka gehören zum Alltag. Die unerträglichen Bedingungen führen immer wieder zu Aufständen. Ein Aufstand mit Geiselnahme im Knast San Martin in Córdoba am 10. Februar endete mit acht Toten und zahlreichen Verletzten auf beiden Seiten.

Für die Zeit von Mai 2003 bis Dezember 2004 zählt die Menschenrechtsgruppe Alerta Argentina 229 Tote durch den Repressionsapparat. Alle 55 Stunden hat der Staat einen Menschen umgebracht. Die meisten waren noch keine 25 Jahre alt. Ein Drittel wurde in Knästen und Kommissariaten ermordet. Die offizielle Version lautet oft "Selbstmord".

Jugendliche werden zunehmend Opfer des gatillo facil, des schnellen Fingers am Abzug. Bei tatsächlicher oder vermuteter Kleinkriminalität in den Armenvierteln schießt die Polizei sofort. Im Norden des Großraum Buenos Aires wurde eine Todesschwadron aus Polizisten und Zivilen aufgedeckt, die als eine Art "Sicherheitsunternehmen" für Betriebe und Reiche fungierten und "soziale Säuberung" betrieben, mit Festnahmen, Folter und Erschießungen von marginalisierten Jugendlichen. Mehr als ein Dutzend Jugendliche sollen von ihnen ermordet worden sein.

... gegen DemonstrantInnen

Bei Demonstrationen und Straßenblockaden sind in Argentinien seit 1995 mehr als fünfzig Menschen getötet worden. Zum Beispiel: Gral. Mosconi (Provinz Salta). Mit der Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft YPF wurden in diesem Ort 85 Prozent der Bevölkerung arbeitslos. Hier und im Erdölstädtchen Cutral Có (Provinz Neuquén) fanden Mitte der neunziger Jahre die ersten Aufstände der piqueteros statt. Gral. Mosconi ist zum Sinnbild der neoliberalen Globalisierung geworden, und die Arbeitslosenorganisation UTD Gral. Mosconi zu einer der bekannten autonomen Piquetero-Organisationen, die eigene Projekte (Betriebe und Gärten) aufgebaut haben, aber bei ihrer Forderung nach "richtigen Arbeitsplätzen" auch die Konfrontation mit Staat und Multis nicht scheuen. Bei Straßenblockaden starben fünf Menschen. Immer wieder landeten DemonstrantInnen im Knast und kamen erst nach Protesten wieder frei. Der Sprecher José Pepino Fernández war mehrfach im Knast und hat über siebzig Strafverfahren laufen.

Am 16. Juli 2004 kam es in Buenos Aires bei einer Demonstration vor dem Stadtparlament Legislatura zu Ausschreitungen. Die Demonstration richtete sich gegen die Kriminalisierung von Armut und Protest durch die neue Stadtverordnung, bei der es u.a. um Störung der öffentlichen Ordnung, Betteln, Straßenhandel und Prostitution geht. Erst nach Ablauf der Demonstration wurden in der Umgebung Leute festgenommen, teilweise von Beamten in zivil. Fünfzehn sitzen bis heute im Knast, unter der Anklage schwerer Nötigung und Freiheitsberaubung. Zwei von ihnen sind Mitglieder der Prostituiertenorganisation AMMAR, andere gehören zu einer Vereinigung von Straßenverkäufern. Beide Gruppen hatten in der Vergangenheit Anzeigen gegen Polizisten erstattet. Inzwischen haben sich sogar Abgeordnete mit den Gefangenen solidarisiert und erklärt, dass sie sich an jenem Tag weder genötigt noch freiheitsberaubt gefühlt hätten. Eine Freilassung ist aber nach nunmehr zehn Monaten immer noch nicht absehbar. Eine Verurteilung könnte bis zu vierzehn Jahren Knast bedeuten.

Etwas mehr Glück hatten die sechs Gefangenen von Caleta Olivia, die nach öffentlichen Protesten, auch aus dem Ausland, nach acht Monaten aus dem Knast entlassen wurden. Caleta Olivia ist eine Kleinstadt in der Provinz Santa Cruz, in der Kirchner zwölf Jahre lang Gouverneur war. Gegen 140 der 40 000 EinwohnerInnen wurden letztes Jahr wegen politischer Aktionen Verfahren eröffnet. Am 19. August 2004 forderten 200 Leute, mehrheitlich Frauen, vor der Gemeindeverwaltung "richtige Arbeitsplätze" (statt der mit 150 Pesos nur symbolisch bezahlten Arbeitsprogramme für Arbeitslose). Nach einigen Tagen verlagerten sie ihren Protest vor das Gelände von Termap, dem Erdölkonsortium, in dem bekannte Namen vereint sind: Repsol, BP, Halliburton, Schlumberger ... Mit solchen Aktionen ist es schon häufiger gelungen, Einstellungen durchzusetzen. Diesmal war dort eine Spezialeinheit der Nationalgarde postiert. Der Konflikt endete jedoch mit einem Abkommen, in dem das Unternehmen und eine Staatssekretärin 500 Arbeitsplätze zusicherten, und dass es keine Repressalien geben würde. Trotzdem rückte die Polizei zwei Wochen später mit Haftbefehlen aus und holte fünfzehn Personen unter Schlägen aus ihren Wohnungen. Drei Männer und drei Frauen blieben als angebliche RädelsführerInnen im Knast. Zwei von ihnen waren bei der Aktion noch nicht einmal dabei gewesen. Sie waren erst später dazu gekommen, um sich zu solidarisieren. Aber sie waren aus vorherigen Aktionen bekannt.

... gegen ArbeiterInnen

In Neuquén ist Zanon als letzte besetzte Fabrik übriggeblieben. Gouverneur Sobisch, der bei den Wahlen 2007 als Präsident kandidieren will, kann sich eine blutige Räumung dieses Symbols kaum leisten. Aber dem Hardliner ist das Widerstandsnest in seiner Provinz ein Dorn im Auge. Jetzt wird versucht, die ArbeiterInnen mit schmutzigen Methoden zu demoralisieren. Während die fällige Legalisierung verzögert wird (siehe ILA 283), wurden im Februar zuerst führende Gewerkschafter mit Mord bedroht und dann die Frau eines Arbeiters mehrfach angegriffen und verletzt. Die Vermummten drohten, in der Gewerkschaft ein Blutbad anzurichten, und sie ließen es nicht an Symbolik fehlen. Das Auto, mit dem sie die Frau verschleppten, war ein grüner Ford Falcon - der Autotyp, mit dem die (Para)-Militärs vor und während der Diktatur Menschen "verschwinden" ließen. Weitere Adressaten von anonymen Morddrohungen waren Justizangestellte in Neuquén, die sich gegen Gesetzesverschärfungen gewandt hatten, sowie Delegierte der U-Bahn Subte in Buenos Aires.

Die ArbeiterInnen der Subte haben mit Streiks letztes Jahr eine Arbeitszeitverkürzung auf sechs Stunden durchgesetzt, und im Februar eine Lohnerhöhung von insgesamt 44 Prozent. Ein großes Zeichen mitten in der Krise, in der die ArbeiterInnen in den letzten Jahren erhebliche Lohnverluste hinnehmen mussten. Und sie machen weiter: sie haben ihren ausgelagerten KollegInnen aus Putz- und Sicherheitsunternehmen zur Aufnahme in ihren wesentlich besseren Tarifvertrag verholfen; sie haben erneut gestreikt aus Solidarität mit den Streikenden im Hospital Garrahan und mit den Angestellten der Fluggesellschaft LAFSA, die im Kampf um ihre Arbeitsplätze von der Polizei angegriffen wurden, und haben zur Freilassung der dort Festgenommenen beigetragen. Sie sind zum Kristallisationspunkt einer neuen Koordination von ArbeiterInnen geworden, die sich nicht mehr von den Gewerkschaftsbürokraten verwalten lassen (siehe ILA 279). Um die Frage von Arbeit und Lohn kommt neue Bewegung auf. Im März wurden 88 Arbeitskonflikte registriert, und am 11. Mai blockierten 50 000 Arbeitslose und ArbeiterInnen an sechzig Stellen im ganzen Land die Straßen, für mehr Arbeitslosenunterstützung, Festeinstellungen und mehr Lohn. Eine weitere Forderung ist bei all diesen Mobilisierungen immer präsent: Freiheit für die Gefangenen!


www.ila-web.de
Der Artikel ist abgedruckt in ILA 286, Juni 2005

www.lavaca.org

Hier sind u.a. zu finden: der Bericht von Alerta Argentina für die UNO (zu Menschenrechten und Repression in Argentinien); die Broschüre Presas (Interviews mit Gefangenen der Legislatura und aus Caleta Olivia); und ein Aufruf zu einer internationalen Mail-Kampagne an die argentinische Regierung, für die Freilassung der Legislatura-Gefangenen, mit Musterbrief und Mail-Adressen.

 

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