26.08.2005 | [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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New Orleans war keine NaturkatastropheIm Gefolge von Hurrikan Katrina wurde New Orleans schwer beschädigt und fast vollkommen evakuiert. Die Stadt versinkt in Schmutz, verseuchtem Wasser, riesigen Sachschäden, vor allem auf Kosten der Arbeiterklasse, und beklagt bis zu 10.000 Tote. Nun war Katrina zweifellos ein großer Hurrikan und hat in New Orleans mit 225 km/h gewütet, aber das Ausmaß der von ihm ausgelösten Krise lässt sich eindeutig auf die Art und Weise zurückführen, wie das Kapital New Orleans und die umgebende Region entwickelt hat, und vielleicht ist sogar der Hurrikan selbst nur ein Indikator, wie sehr das Kapital die Umwelt schädigt. Natürlich wissen wir nicht mit Sicherheit, ob die gegenwärtige und scheinbar schon normal gewordene Welle von Hurrikanen in der Karibik und im Golf von Mexico auf einen Klimawandel durch die Umweltverschmutzung zurückzuführen ist, aber in jedem Fall ist die Häufigkeit und Stärke der Hurrikane gestiegen. MIT-Professor Kerry Emanuel schreibt: «Ich habe die Hurrikane im Atlantik und im Westteil des Nordpazifik und die von ihnen im Verlauf ihrer gesamten Lebensdauer produzierte Energie untersucht. Ihr Energieverbrauch ist es seit den 1970er Jahren um 70 bis 80 Prozent gestiegen, was sehr viel ist. Das war ein Schock. Und wir versuchen das «Warum« zu verstehen.« 1 Wie Professor Emanuel im Interview ausführt, deutet eine derart sprunghafte Zunahme auch auf tiefgreifende Veränderungen in der Atmosphäre und in der Wassertemperatur hin, wo schon sehr kleine Veränderungen zu äußerst katastrophalen Ergebnissen führen können, wie z.B. zum Abschmelzen der Polareiskappen und damit zu einem starken Anstieg des Wasserspiegels in den Ozeanen. Städte wie New Orleans, aber auch viele andere Küstengebiete und Inseln sind solchen Veränderungen sehr unmittelbar ausgesetzt, aber diese können auch die Erdtemperatur insgesamt beeinflussen. Die Ursachen der weltweiten Wetterveränderungen sind hinreichend gut dokumentiert, und hinter der Ursache Nr. 1 für Umweltverschmutzung in den USA, nämlich Autoabgase, stehen andere Veränderungen in der Golfregion, die wiederum auch hinter anderen Aspekte der Krise stehen. Die Regierung und die Hilfsagenturen wussten als dies sehr gut. 1995 bezeichnete die Internationale Klimakonferenz der UNO New Orleans als am stärksten durch die weltweiten Klimaänderungen betroffene Stadt in Nordamerika, da der steigende Meeresspiegel und die steigenden Temperaturen im Golf von Mexico für häufigere und stärkere Hurrikane sorgen. Die zunehmende Suburbanisierung der USA und speziell Louisianas hat die Krise noch verstärkt, so wie sie auch eine der Hauptursachen für das zunehmende Bedürfnis nach Autos als Haupttransportmittel und damit für die Umweltverschmutzung und die Schädigung des Klimas und der Ozonschicht ist. An der ganzen Küste und um New Orleans herum hat die Suburbanisierung rapide um sich gegriffen. Dadurch wurden große Küsten- und Sumpfgebiete, die bisher als natürliche Barrieren gegen Stürme und Fluten dienten, zubetoniert. Statt natürlicher Barrieren sind dort jetzt Häuser und Familien. Vororte bedeuten auch mehr Straßen, vor allem größere Straßen und Autobahnen, die zusammen mit Häusern und versiegelte Rasenflächen die natürlichen Entwässerungs- und Abflussmöglichkeiten der Region einschränken. Einige dieser Vororte gibt es schon seit den 1940er Jahren, wie z.B. im direkt an New Orleans angrenzenden St. Bernard’s Parish, auf das wir noch zurückkommen werden, aber im Versuch, noch weiter von New Orleans wegzukommen, wurde noch viel mehr gebaut, was die Probleme nur noch verschärft. Eine weitere Ursache für die Zerstörung der Umwelt ist der Umbau der Region im Konzerninteresse, v.a. in den Bereichen Schifffahrt, Erdgas und Erdöl. Laut Schätzung der Sektion Louisiana der Umweltorganisation Sierra Club sind bis zu 40 Prozent der Küstenerosion auf das Ausbaggern und den Ausbau des Mississippi für die Schifffahrt und den Bau von Gas- und Ölpipelines zurückzuführen.2 Alle 38 Minuten geht ein Stück Küste in der Größe eines Footballfelds verloren (ibid.), und diese Tendenz wird von der oben erwähnten Suburbanisierung und Bebauung von Küstengebieten noch verschärft. Insgesamt sind in Louisiana im Lauf des letzten Jahrhunderts fast 5000 Quadratkilometer Land verschwunden, zum großen Teil aufgrund von Öl- und Gasförderung, Abholzung und der Erschließung von immer neuen Flächen für industrielle, kommerzielle, landwirtschaftliche und Wohnzwecke. Zufällig gibt es in Louisiana auch 13 «Super Fund«-Gebiete, die von der US-Regierung zu den am stärksten verseuchten Gebieten des Landes gezählt werden und die zur gefährlichen Wasserverseuchung und dem Giftschlamm in New Orleans und den umliegenden Gemeinden beigetragen haben. Von 2001 bis 2005 schrumpften die ohnehin schon unzureichenden Bundesmittel für die Sanierung dieser Gebiete von 27 auf 17 Millionen Dollar. Es gibt einen von Kommunal-, Staats- und Bundesbeamten, Umwelt- und Lokalorganisationen und großen Firmen unterstützten und entwickelten Plan, der die krisenhaften Bedingungen dieses Küstensterbens gut dokumentiert3, aber er hat den Gewerbe- oder Wohnungsbau nicht aufgehalten und erweist sich unterm Strich als kaum mehr als eine PR-Kampagne und eine Methode, Staatsgelder abzuschöpfen. Aus all dem stechen zwei besondere Entwicklungen hervor, die besonders mit der Überschwemmung von New Orleans zusammenhängen. Erstens der Bau des Mississippi River-Gulf Outlet (MR-GO) 1968, eines direkt durch die Marschgebiete von St. Bernards Parish zum Hafen von New Orleans gebauten Kanals, der den Hafen von New Orleans gegenüber dem Verkehr im Mississippi-Delta konkurrenzfähig machen und einen industriellen Wiederaufschwung von St. Bernards Parish herbeiführen sollte. Dieser vom Army Corps of Engineers gebaute Kanal war nicht nur eine kommerzielle Pleite, sondern funktionierte beim Angriff von Katrina anscheinend auch als eine Art «Flut-Autobahn« für die vom Golf hereindrängenden Wassermassen. Vor einigen Jahren stand dieser Kanal in der Kritik, weil er sich an einigen Stellen von 150 auf 750 Meter verbreitert hatte, denn durch die Bugwellen einiger (weniger) Riesenschiffe, die durch den Kanal fahren, sind die Ufer weggebrochen. Ein Bericht der Taxpayers for Common Sense von 1997 listet die Verschwendung im Rahmen des Kanals auf: Unten in Louisiana bezahlt der Steuerzahler 13 Millionen Jahr Bundessteuern im Jahr, um eine Wasserstraße zu erhalten, die nur von 3 Schiffen am Tag benutzt wird: Schlimmer noch, die Wasserstraße führt zu Erosionen, deren Beseitigung 60 bis 180 Millionen Dollar kosten wird und die genau die Feuchtgebiete vernichten, für deren Wiederherstellung der Steuerzahler 40 Millionen Dollar im Jahr ausgibt. Die Wasserstraße namens Mississippi River Gulf Outlet (MR-GO, ausgesprochen Mister Go), wurde 1968 als Alternative zum Mississippi-Fluss für Schiffe im Verkehr zwischen dem Golf von Mexiko und den Häfen von New Orleans und Baton Rouge gebaut. Der Kanal hat aber nie die erwarteten Verkehrsströme angezogen und wird zur Zeit nur von 3 Schiffen am Tag genutzt, obwohl er Millionen von Dollars an Erosionsschäden verursacht. Als der MR-GO gebaut wurde, war der Kanal an der Wasseroberfläche 200 Meter breit, aber die Ufer sind so weit erodiert, dass die durchschnittliche Breite heute 750 Meter beträgt. Das Corps schätzt, dass es 1 bis 3 Millionen Dollar pro Meile auf einer Länge von über 60 Meilen [100 km] kosten wird, die Erosionsprobleme in den Griff zu bekommen. Zusätzlich spült das Wasser des MR-GO jedes Jahr 22 Hektar Feuchtgebiete in Louisiana weg. Ironischerweise gibt die Bundesregierung jedes Jahr 40 Millionen Dollar aus, um die Feuchtgebiete im Staat wiederherzustellen. So überrascht es kaum, dass der MR-GO dem von Armut geplagten St. Bernard’s Parish nicht den versprochenen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht hat. Nach Angaben des Corps würden die Frachtkosten nur wenig steigen, wenn man den Verkehr aus dem MR-GO wieder in den Mississippi umleiten würde. Kein Wunder, dass das libertäre Competitive Enterprise Institute MR-GO als «ungeschlagen in den Disziplinen Verschwendung und Nutzlosigkeit« bezeichnet hat.4 Das Army Corps of Engineers will den Fehler nur beheben, wenn es dafür an der Mississippi-Mündung ein neues Schleusensystem errichten darf, das 1,2 Milliarden Dollar kosten wird, nicht vor 2017 fertiggestellt sein wird und von vielen Seiten als wenig nutzbringend kritisiert wird. Die zweite Entwicklung waren die schlechten Deiche, die verhindern sollen, dass das etwa schüsselförmige, mit der Oberlippe gerade über den Meeresspiegel ragende New Orleans vom Meer oder vom landeinwärts liegenden Lake Ponchartrain überflutet wird. Diese Deiche sind nur für einen Hurrikan der Kategorie 3 ausgelegt. Trotz der wiederholten Warnungen durch die FEMA und den oben zitierten UNO-Bericht von 1995 und trotz der zunehmenden Häufigkeit und Stärke der Hurrikane im Golf wurden die Mittel für das Deichsystem und die Pumpen gekürzt und wurden daher nicht verstärkt, sondern dem Verfall preisgegeben. Letztlich hatte die Überflutung von New Orleans mehr mit dem Brechen der Deiche und dem Steigen der Flut durch den MR-GO zu tun als mit irgendwelchen «Naturereignissen«. Wenn man das in Verbindung zur katastrophalen Bautätigkeit in der Region durch den Staat, die Konzerne und die Vorort-Baugesellschaften setzt, wird klar, dass die schlimmsten Aspekte dieser «Naturkatastrophe« eindeutig auf «menschliches Versagen« zurückgehen. So katastrophal wie die Krise der Infrastruktur war auch die miserable Reaktion der Kommunal-, Staats- und Bundesbehörden. Gouverneurin Blanco rief lange vor Ankunft des Sturms am 26. August einen Notstand aus, und New Orleans Bürgermeister Nagin forderte die Menschen am 28. August, dem Samstag vor dem Sturm, zum Verlassen der Stadt auf – das war aber zwei ganze Tage nach Ausrufung des Notstands! Zwischen dem 26. und dem 28. August geschah praktisch nichts, um die Evakuierung der Stadt und der umliegenden Parishes vorzubereiten. Im wesentlichen bestand der Evakuierungsplan darin, dass «alle, die ein Auto haben, sich ins Auto setzen und die Stadt verlassen sollen«. Es wurden keine öffentlichen Verkehrsmittel eingesetzt, um die Leute abholen und wegbringen zu helfen. Die brandneue Schulbus-Flotte wurde bei der Evakuierung der Menschen nicht eingesetzt, sondern blieb schließlich unbenutzt unter Wasser stehen, weil Bürgermeister Nagin entschied, dass dies keine würdigen Verkehrsmittel für die Evakuierung von Menschen seien. Alle anderen Verkehrsmittel, mit denen man die Stadt verlassen konnte, wie kommerzielle Busse, Flugzeuge5 und Eisenbahnen verlangten weiterhin Geld für Fahrkarten, statt dass die Stadt oder der Staat sie zu Notzwecken beschlagnahmt hätten. Alle, die kein Auto und kein Geld hatten, mussten schließlich die Stadt im Angesicht eines drohenden Hurrikans zu Fuß verlassen, egal ob sie Kinder oder Alte mitnehmen mussten oder ob sie zu Fuß einen vor dem Hurrikan sicheren Ort erreichen konnten. Die Menschen in den Vororten konnten zum größten Teil fliehen, weil die Suburbanisierung sogar in den ärmeren Arbeitervororten wie St Bernard’s Parish die Menschen dazu zwingt, mindestens ein Auto zu besitzen. Viele dieser Menschen werden aber ohnehin alles verlieren, was sie besessen haben, da Flutschäden nicht von der normalen Hauseigentümerversicherung abgedeckt werden, sondern man sich dagegen für mehrere hundert Dollar im Jahr zusätzlich bei der Bundesregierung versichern muss. Die finanziell bessergestellten StadtbewohnerInnen konnten ebenfalls fliehen, aber etwa 100.000 überwiegend schwarze und extrem arme Menschen blieben übrig (wenn man in den USA schwarz ist, befindet man sich mit viel größerer Wahrscheinlichkeit am unteren Ende der Wohlstandsskala: für jeden Dollar, den Weiße besitzen, besitzen Schwarze pro Kopf 0,07 Dollar). Diese 100.000 Menschen erwarteten den Hurrikan in einer der Vernichtung anheimgegebenen Stadt, in den schlechtesten, am wenigsten solide gebauten Wohnungen, in den Stadtteilen mit der schlechtesten Infrastruktur, die am weitesten von den großen Supermarktketten entfernt liegen (in den USA machen die großen Supermärkte meist einen großen Bogen um arme, schwarze Stadtteile), wo sie Vorräte hätten bekommen können. Sie konnten auch nicht in Hotels und andere solider gebaute Gebäude, die Unterschlupf geboten hätten, gehen, da viele Hotels sich weigerten, Menschen hineinzulassen, und einige am Ende sogar die zahlenden Gäste hinauswarfen wie die Besucher eines Sanitäterkongresses, die nach dem Durchzug des Hurrikans aus dem Hotel geworfen wurden, wo sie wenigstens relativ sicher gewesen waren. Als Unterkünfte wurden im wesentlichen der Superdome – ein großes überdachtes Sportstadion – und das Convention Center von New Orleans zur Verfügung gestellt. In diesen Unterkünfte gab es aber kaum Lebensmittel, und das Dach des Superdome war so schwer beschädigt, dass Trümmer ins Stadion fielen. Wie bei vielen Problemen in der Stadt sollte das Schlimmste erst noch kommen, und die Katastrophe entwickelte sich zu einem epischen Alptraum. Die Kommunalverwaltung brach völlig zusammen, und etwa 60 Prozent der Polizei legte einfach die Arbeit nieder. Die Federal Emergency Relief Agency (FEMA) unter Leitung von Michael Brown, einem Freund eines Bush-Wahlkampfleiters, der vor der FEMA bei der Arabian Horse Association gearbeitet hatte, wurde nicht aktiv, bevor der Sturm zuschlug, und auch dann erst sehr langsam und planlos. 1000 Feuerwehrleute, die sich freiwillig zum Einsatz gemeldet hatten, wurden z.B. nicht nach New Orleans, sondern erstmal geschlossen zu einem eintägigen Kurs über sexuelle Übergriffe nach Atlanta geschickt.6 Am Ende des Seminars mussten 50 von ihnen mit Präsident Bush auf Tour gehen, um Publicity-Fotos zu machen und Info-Flyer zu verteilen. Ein Großteil des Rettungspersonals blieb außerhalb der Stadt auf Schiffen des Militärs oder der Küstenwache oder wurde erst dann zu Hilfe gerufen, als die Situation vollkommen zusammengebrochen war. Michael Brown hat sogar zugegeben, dass weder er noch die FEMA überhaupt wussten, dass tausende von Menschen im Convention Center waren – mehrere Tage, nachdem jede Nachrichtenstation und jedes Blog in den USA darüber Bescheid wusste. Was war die tatsächliche Situation in New Orleans? Wie kamen die übrig gebliebenen Menschen tatsächlich mit der Situation klar? Zum Teil lässt sich das schwer sagen. Die Medienberichterstattung hat die Analyse nicht leichter gemacht, denn die Medien haben sehr unterschiedlich über die sogenannten Plünderungen berichtet, je nachdem, ob die «Plünderer« schwarz oder weiß waren. Allgemein wurden alle schwarzen Menschen, die sich – egal warum – Sachen aus den Läden nahmen, «Plünderer« genannt, während Weiße, die sich Sachen aus Läden nahmen, meistens als «Menschen« bezeichnet wurden, die Proviant «suchen« oder «sammeln«. Zusätzlich haben alle Medien – die sogenannten liberalen wie die konservativen – in den Vordergrund gestellt, dass angeblich die feindseligen Reaktionen einiger Einwohner von New Orleans die Rettungsoperationen unterbunden hätten, obwohl ein paar Vorfälle, bei denen scheinbar Schüsse auf Polizei- und Militärfahrzeuge abgegeben wurden, sicher nicht der Grund sind, warum es an vielen Orten keine Rettungsoperationen gab. Ganz klar haben einige Menschen dies als Gelegenheit benutzt, ihren Lebensstandard anzuheben, indem sie sich ein paar neue Sachen für ihren persönlichen Besitz oder zum Verpfänden bei einem Pfandleiher besorgt haben, und das ist weder überraschend noch an sich schlimm. Allerdings ist es auch überhaupt nicht radikal. Wenn man nach den Fotos geht, einschließlich der vielen hundert Fotos, die die Leute gemacht haben, die die ganze Zeit http://mgno.com in Betrieb hielten, haben viele viele Menschen sich keine Fernseher oder Computer genommen, sondern vor allem Lebensmittel, Kleidung, Medikamente und ähnliches. Das sah man schon ganz einfach daran, dass die Leute Mülltüten aus Plastik und Einkaufstüten trugen. Wenn man bedenkt, dass die Behörden keinerlei Hilfe oder Beförderungsmittel zur Evakuierung zur Verfügung stellten, waren die «Plünderungen« nicht nur nötig, sondern die einzig vernünftige Art und Weise, zu überleben und anderen Menschen zu helfen. Nach Aussagen vieler Augenzeugen und dem, was inzwischen auch die Publikumszeitschriften wie Time, People und Newsweek berichten, haben viele Menschen nicht nur nach besten Kräften versucht zu überleben, sondern nach der Sicherung von Vorräten für ihren eigenen Bedarf ihre Überschüsse und ihren sonstigen Besitz mit anderen Bedürftigen geteilt. Der interessanteste Augenzeugenbericht kam von zwei Sanitätern, Larry Bradshaw und Lorrie Beth Slonsky, die während einer Konferenz in der Innenstadt gestrandet waren. Man muss nur aus ihrem Bericht Get off the Fucking Freeway7 zitieren, um sich klarzumachen, dass nicht nur Gewalt und «Mob rule« herrschten. Wir befürchten auch, dass die Medien mit «Helden«-Bildern von Nationalgarde, Soldaten und Polizei überschwemmt werden, die mit großem Einsatz den «Opfern« des Hurrikans helfen. Was man nicht sehen wird, was wir aber gesehen haben, waren die wahren Helden und Heldinnen der Rettungsaktionen während des Hurrikans: Die Arbeiterklasse von New Orleans. Die Handwerker, die Kranke und Behinderte mit dem Gabelstapler beförderten. Die Ingenieure, die die Generatoren knackten, betankten und am Laufen hielten. kurzschlossen. Die Elektriker, die andere Menschen mit über ganze Straßenzüge hinweg improvisierten dicken Verlängerungskabeln an die wenigen vorhandenen Stromleitungen anschlossen, damit sie ihre auf Dachparkplätzen geparkten Autos frei bekamen. Die Krankenschwestern, die ihren bewusstlosen Patienten das Leben retteten, indem sie ihnen statt der ausgefallenen Beatmungsgeräte per Hand Luft in die Lungen pumpten. Die Portiers, die die Leute aus den steckengebliebenen Fahrstühlen retteten. Die Raffineriearbeiter, die in Bootshäfen einbrachen und Boote «stahlen«, um ihre Nachbarn zu retten, die sich in der Flut an ihre Dächer klammerten. Die Mechaniker, die alle Autos, die sich auftreiben ließen, kurzschlossen, um die Leute aus der Stadt zu bringen. Und die Leute aus der Gastronomie, die die kommerziellen Küchen übernahmen und Volksküchen für hunderte von Gestrandeten improvisierten. Daneben sind aber auch sehr echte Horrorgeschichten bekannt geworden. Ein Großteil der Drogensüchtigen und kriminellen Elemente hat die Stadt wahrscheinlich nicht verlassen, und anscheinend wurde viele der Gewalttaten von diesem Milieu verübt, was sogar Bürgermeister Nagin in einem öffentlichen Statement einräumte. New Orleans war ohnehin schon eine sehr arme Stadt mit hoher Kriminalität. Außerdem ließ das Ausmaß der Zerstörung mit Sicherheit einige Leute durchknallen, erst recht Junkies, die plötzlich keinen Schuss mehr bekamen. Hier und da brannte es, aber bisher ist unklar, in welchem Umfang das auf Brandstiftung (und durch wen) zurückging und in welchem Umfang auf Kurzschlüsse und beschädigte Gasleitungen. Die Medien, die Politiker und viele Kommentatoren behaupten bisher, die allgegenwärtigen «Plünderer« hätten die Feuer gelegt, aber genauso gut, können es Gebäudeschäden oder Versicherungsbetrug durch Hausbesitzer gewesen sein. Bis die einzelnen Feuer untersucht sind, bleibt alles Spekulation. Und obwohl in den ersten Berichten behauptet wurde, die Gewalt habe um sich gegriffen (siehe z.B. dieser Artikel aus der Daily Times vom 4. September8), scheint es viel mehr Tote in Pflegeheimen, Krankenhäusern und anderen Orten gegeben zu haben, wo die Kranken und Alten durch die ungenügenden Evakuierungspläne sich selbst überlassen blieben oder wo der Transport der Menschen angesichts fehlender geeigneter Transportmittel gefährlicher war, als sie da zu lassen, wo sie waren. Trotz vieler heldenhafter Aktionen vieler Menschen, die in der Stadt in der Falle saßen, war es aber keine spontane Kommune, die irgendwelche großen politischen Möglichkeiten aufgemacht hätte, und kein Aufstand der Unterdrückten, wie einige unverantwortliche Elemente aus der Tatsache folgern, dass Leute auf die Nationalgarde oder Rettungskräfte geschossen haben. Es sieht eher so aus, als hätten in einer verzweifelten Krise viele Menschen mit großem Anstand und Menschlichkeit aber mit einem relativ begrenzten politischen Fokus gehandelt. Wäre das Bewusstsein schon in einem frühen Stadium der Entwicklung größer gewesen, hätten wir vielleicht gesehen, wie Transportarbeiter Busse und Bahnen übernommen und die Leute während der Evakuierung herausgeschafft hätten. Vielleicht hätten wir gesehen, wie die Leute sich wie auch immer die Verkehrssysteme angeeignet hätten, um alle umsonst mitfahren zu lassen. Vielleicht hätten wir gesehen, wie mehr Menschen zu ihrer eigenen Rettung gegen das Privateigentum verstoßen hätten. Bisher sieht es so aus, als wäre das erst geschehen, nachdem der Sturm über die Stadt hereingebrochen war und die Leute schon tagelang versucht hatten, aus New Orleans herauszukommen oder Proviant zu beschaffen.9 Die Menschen im Superdome und im Convention Center hatten, sobald sie erstmal drin saßen, kaum Lebensmittel und Wasser und erst recht keine angemessenen Einrichtungen, und die Polizei, die die Gebäude umstellt hatte, ließ sie nicht hinaus. Die Behörden sperrten die Menschen ein, während in diesen überfüllten und kaputten Einrichtungen ohne Lebensmittel und Wasser Kämpfe, Vergewaltigungen und sogar Morde stattfanden. Die Männer im Superdome und im Convention Center, die Schusswaffen mitgebracht hatten und von den Medien als «Kriminelle« beschrieben wurden, waren die einzigen, die versuchten, die Ordnung zu bewahren und dafür zu sorgen, dass die Alten und Kinder als erstes an die vorhandenen Vorräte kamen und dass, als die Busse endlich kamen, die Alten und Kinder zuerst einstiegen. Es gab ohnehin kaum Standardkräfte für die Rettungsaktionen, da ein Großteil der Nationalgarde im Irak ist. Die Kräfte, die dann irgendwann kamen, wurden angewiesen, die Bevölkerung als feindliche Kraft zu behandeln, und statt den Leuten zu helfen, setzten sie, als sie endlich kamen, das Kriegsrecht durch. Von den führenden militärischen Kommandeuren bis hin zur demokratischen Gouverneurin Blanco, die verkündete, die Truppen seien «voll bewaffnet« und bereit zum «shoot to kill«, wurde die verbliebene Bevölkerung entweder wie Gefangene eines Konzentrationslagers oder wie feindliche Kombattanten behandelt. Als endlich Lebensmittel und Wasser gebracht wurden, wurden die Vorräte scheinbar wahllos im Fahren von den LKWs heruntergeworfen, sogar von Brücken herab, wobei viele dieser ohnehin schon knappen Güter kaputt gingen. Menschen, die sich zu nähern versuchten, sogar weiße Techniker (auf http://mgno.com gab es ein laufend aktualisiertes Blog von einigen IT-Technikern, die den Kontakt zur Außenwelt aufrechterhielten und viele, viele interessante Kommentare dazu abgaben, dass es trotz der Behauptung der Medien, es gäbe Truppen oder Lebensmittel, diese bis Freitag schlicht nicht gab), wurden mit auf sie gerichteten Schusswaffen empfangen, teilweise wurde auf sie oder über ihre Köpfe hinweg geschossen. Bevor der schlimmste Teil der Krise überstanden war, boten die Truppen in keinem Fall tatsächlich Unterstützung an, und das mittlerweile größtenteils verlassene New Orleans steht nach wie vor unter Kriegsrecht. Die Vorortpolizei verhielt sich ebenfalls besonders feige. Hier noch ein Ausschnitt aus dem Augenzeugenbericht von Larry Bradshaw und Lorrie Beth Slonsky – der Titel ihres Texts stammt aus der Situation, in der sie sich befanden, als sie mit einer Gruppe versuchten, auf der Suche nach Transportmitteln und/oder sicheren Unterkünften aus der zu 80 Prozent überfluteten Stadt in die Vororte zu gelangen. Wir gingen zu Fuß zur Kommandozentrale der Polizei im Harrah’s in der Canal Street und bekamen wieder dasselbe zu hören: Wir seien allein und sie hätten kein Wasser, das sie uns geben könnten. Wir waren inzwischen mehrere hundert Menschen. Wir hielten eine Versammlung ab, um über unser weiteres Vorgehen zu beraten. Schließlich einigten wir uns darauf, ein Lager vor dem Kommandoposten der Polizei aufzuschlagen, wo wir für die Medien deutlich sichtbar wären und die Stadtverwaltung deutlich sichtbar blamieren würden. Die Polizei sagte, wir könnten da nicht bleiben. Wir fingen trotzdem damit an, unser Lager aufzuschlagen. Kurz darauf kam der Polizeikommandant über die Straße und wandte sich an unsere Gruppe. Er sagte, er hätte eine Lösung: Wir sollten zum Ponchartrain Expressway und über die Greater New Orleans Brücke laufen, wo die Polizei Busse stehen hätte, um uns aus der Stadt herauszuholen. Die Menge jubelte und setzte sich in Marsch. Wir riefen alle zurück und erklärten dem Kommandanten, es habe schon eine Menge Fehlinformationen und Gerüchte gegeben. Wir fragten ihn, ob er sich sicher sei, dass dort Busse auf uns warteten. Der Kommandant wandte sich zur Menge und bekräftigte emphatisch: «Ich schwöre Ihnen, dass die Busse da sind.« Wir organisierten uns und machten uns zu zweihundert sehr aufgeregt und voller Hoffnung auf den Weg zur Brücke. Als wir am Convention Center vorbei marschierten, sahen viele Leute dort unsere entschlossene und optimistische Gruppe und fragten, wo wir hinwollten. Wir erzählten ihnen die tollen Neuigkeiten. Sofort schnappten Familien sich ihre wenigen Habseligkeiten, und schnell hatte sich unsere Zahl verdoppelt und dann nochmals verdoppelt. Jetzt waren auch Babies in Kinderwagen dabei, Menschen auf Krücken, alte Leute mit Laufwagen und andere in Rollstühlen. Wir marschierten die 2 bis 3 Meilen zur Autobahn und liefen die steile Auffahrt zur Brücke hinauf. Jetzt fing es an, in Strömen zu regnen, aber das dämpfte unseren Enthusiasmus nicht. Als wir uns der Brücke näherten, bildeten bewaffnete Sheriffs aus Gretna am Fuß der Brücke eine Kette quer über die Straße. Noch bevor wir nahe genug waren, um zu sprechen, fingen sie an, über unsere Köpfe in die Luft zu schießen. Daraufhin floh die Menge in verschiedene Richtungen. Während die Menge zerstob und sich zerstreute, schoben ein paar von uns sich langsam nach vorne und konnten schließlich einige der Sheriffs in ein Gespräch ziehen. Wir erzählten ihnen von unserem Gespräch mit dem Polizeikommandanten und seinen Zusagen. Die Sheriffs teilten uns mit, hier würden keine Busse warten. Um uns loszuwerden, hatte der Kommandant uns angelogen. Wir fragten, warum wir nicht trotzdem über die Brücke gehen könnte, vor allem, da auf der sechsspurigen Autobahn kaum Verkehr war. Sie antworteten, das Westufer würde nicht zu einem weiteren New Orleans werden, und sie würden keine Superdomes in ihrer Stadt zulassen. Entschlüsselt hieß das: Wenn du arm und schwarz bist, darfst du nicht über den Mississippi und kommst nicht aus New Orleans heraus. Unsere kleine Gruppe zog sich den Highway 90 hinunter zurück, und wir stellten uns unter einer Überführung vor dem Regen unter. Wir besprachen unsere Möglichkeiten und beschlossen schließlich, ein Lager auf dem Mittelstreifen des Ponchartrain Expressway zwischen den Abfahrten O’Keefe und Tchoupitoulas aufzuschlagen. Unserer Einschätzung nach wären wir so für alle sichtbar und auf einer erhöhten Autobahn etwas sicherer und könnten dort warten und nach den immer noch nicht aufgetauchten Bussen schauen. (ibid.) Nicht lange danach ereignete sich eine Szene, die sich in New Orleans im Laufe dieser Woche ständig wiederholte. Die gleichen Cops flogen über das Lager und pusteten es mit dem Wind ihrer Hubschrauber weg und verjagten die Menschen mit gezogenen Waffen aus ihrer relativen Zuflucht unter der Autobahn. Obwohl überhaupt kein wirklich militantes politisches Bewusstsein vorhanden war, hatten die Behörde totale Angst vor jeder Art von größeren Gruppen von Menschen, ob sie nun an irgendwelchen Gewalttätigkeiten beteiligt waren oder nicht oder ob sie einfach zusammengekommen waren, um das wenige, das sie hatten, miteinander zu teilen, sich kollektive Unterstützung zu organisieren oder ob sie einfach Sicherheit vor den räuberischeren Elementen der Bevölkerung suchten. Diese Reihe von Ereignissen ist inzwischen auch von der NY Times in einer Geschichte zu dem Vorfall bestätigt worden.10 Inzwischen ist das Kriegsrecht verhängt worden und die Behörden haben begonnen, Menschen zu verhaften und die Evakuierung der Stadt zu beenden. Damit tauchen neue Probleme auf: vom massenhaften Zustrom von Menschen, die nur noch Flüchtlingsstatus haben, über die zusätzliche Belastung einer faktisch schon gespannten ökonomischen Situation bis hin zum Druck, der auf die vielen angereisten freiwilligen Helfer ausgeübt wird. Statt mich auf diese «objektiven« Aspekte zu konzentrieren, würde ich mich aber lieber mit der Reaktion von Menschen außerhalb der Katastrophe beschäftigen. Dieses war mit Sicherheit ein riesiges politisches Event, aber viele seiner Aspekte werden nicht so wahrgenommen. Viele, vielleicht die meisten, haben die Lüge von der «Naturkatastrophe« geschluckt, d.h. man müsste eher sagen, ihre Vorstellung von dem, was natürlich ist, umfasst auch den Bau von Vororten, das Recht des Kapitals, sich nach Belieben natürliche und menschliche Rohstoffe anzueignen, die massenhafte Ausweitung von Straßen und Autobahnen usw. Sehr wenige Menschen scheinen zu sehen, dass diese Katastrophe im Kern von einer ausbeuterischen, unterdrückerischen Gesellschaft verursacht wurde, die sich durch die Auslünderung der Erde und ihrer Menschen ausweitet. Scheinbar sehen die meisten Menschen tatsächlich keine Verbindung zwischen der Ökonomie des Kapitals, der Reaktion des Staates und der Reaktion der direkt von der Krise betroffenen Menschen: weder der Menschen, die aus New Orleans geflohen sind, noch der Menschen, die das nicht taten oder konnten. Dies ist das klarste Zeichen dafür, dass die 1970er Jahren laufende Konterrevolution gegen die Ausgebeuteten und Unterdrückten beim Großteil der Bevölkerung erfolgreich jedes wirklich radikale Klassenbewusstsein und jede Solidarität ausgelöscht hat. Nicht nur das republikanische Proletariat ist atomisiert, sondern die Klasse als ganze. Uns muss auch klar sein, dass es sich diese Katastrophe nicht einfach aus der notwendigen Funktionsweise des Kapitalismus ergibt. In Cuba gelang es dem Regime während des letzten großen Hurrikans, der die Insel traf, 1,3 Millionen Menschen in Sicherheit zu evakuieren, und trotz extensiver Sachschäden gab es kaum Tote. Wenn Cuba mit viel weniger Geld und Ressourcen es schafft, so viele Menschen zu evakuieren, warum versagen die USA, nominell das reichste Land auf dem Planeten, dann so elend? Die Antwort hat damit zu tun, dass der kapitalistische Wohlstand zur Zeit auf tönernen Füßen steht, dass die Infrastruktur ausgeschlachtet wird und staatliche Leistungen im Namen von Neoliberalismus, Deregulierung und freier Marktwirtschaft auf breiter Front privatisiert oder schlicht die Mittel dafür gestrichen werden. Die sozialen Massenbewegungen der 1930er bis 1960er Jahre hatten das Kapital gezwungen, den Staat eine Reihe von Sozialleistungen anbieten zu lassen, um die Macht der ArbeiterInnen zu brechen. Der Zwang zum Abbau dieser Sozialleistungen hat einen Großteil der öffentlichen Infrastruktur schwer in Mitleidenschaft gezogen. Der Staat ist kaum noch in der Lage, auf Krisen zu reagieren, und die bürgerliche Führung hat es angesichts ihrer zunehmenden Senilität sehr schwer, auch nur ansatzweise koordiniert und konsequent zu handeln. Am weitesten geht diese Entwicklung in den USA, und in New Orleans zeigen sich die Effekte von 30 Jahren dieser Politik. In der Öffentlichkeit werden solche Fragen kaum gestellt, nicht mal in der linken Mainstreampresse. Statt dessen konzentriert man sich auf zwei andere Aspekte: das Verhalten der Menschen in New Orleans bzw., wie einige es ausdrücken, ihre «Entscheidungen« und die Reaktion der verschiedenen politischen Parteien und staatlichen Behörden. Beides hängt recht eng zusammen und weist auf eine tiefe Spaltung innerhalb der Ausgebeuteten hin, die weniger an Klassen- als an anderen Linien wie Rasse, Armut, individuelle Verantwortung und «es wert sein« segmentiert sind. Wenn die Diskussion auf dieser Ebene bleibt und davon absieht, wie das Kapital die Bedingungen für diese Katastrophe geschaffen hat, dann droht die Diskussion zu einer politischen Diskussion im engen Sinne darüber zu verflachen, wer Schuld hat und wie man «verantwortungsbewusstere« Politiker an die Regierung bringen kann, damit es «bessere« Evakuierungspläne und «verantwortungsbewusstere« Behörden gibt. Über die Evakuierung und die Reaktion der Menschen, die die Evakuierung mitgemacht haben oder eben nicht, findet eine erhitzte Diskussion statt, die aber auch die Zersetzung zeigt, die das Kapital im Laufe der 1980er und 1990er Jahre angerichtet hat. Die einen machen denen, die dageblieben sind, Vorwürfe, weil sie nicht die persönliche Verantwortung übernommen haben, die Stadt zu verlassen, als dies nötig war. Sie haben meist auch die «Plünderer« als Kriminelle bezeichnet, besonders wenn sie schwarz waren, die Medienberichterstattung der Katastrophe unkritisch übernommen, das Handeln (bzw. das Nichthandeln) von Bush und der FEMA verteidigt, versucht, Bürgermeister Nagin und Gouverneurin Blanco als Alleinschuldige hinzustellen, verlangt, dass die Nationalgarde und das Militär eingesetzt werden, um das Kriegsrecht und den Todesschuss gegen «Plünderer« durchzusetzen. Diese Reaktion findet sich überhaupt nicht nur bei Teilen der Mittelschicht und der herrschenden Klasse, sondern auch bei vielen ArbeiterInnen, besonders unter jungen weißen ArbeiterInnen aus den Vororten, die zwischen den 1940er bis 1980er Jahren zunehmend die Städte verlassen haben, auf der Jagd nach Jobs und auf der Flucht vor den Schwarzen. Diese Haltung ist aber nicht nur rassisch gefärbt und nicht auf Weiße beschränkt. Bei Schwarzen und Latinos ist diese Position immer noch relativ unpopulär, wird aber auch hier viel breiter vertreten als vielleicht noch vor 30 Jahren. Ein großer Teil der ArbeiterInnen, und zwar nicht nur die privilegiertesten, behaupten, sie seien gegen «Big Government«, würden es aber unterm Strich lieber sehen, wenn der Staat Milliarden dafür ausgibt, in New Orleans «Dirty Harry« zu spielen, und den Konzernen erlaubt, beim Wiederaufbau riesige Profite einzuheimsen, als wenn das Geld an die «unwerten«, «faulen«, «unverantwortlichen« Menschen geht, «die Almosen wollen, statt für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.«11 In dieser Reaktion spiegeln sich 30 Jahre Zersetzung der Arbeiterklasse. In den 1970er Jahren wurde über vor allem über die Inflation und die Ausweitung der Haushaltskredite eine sekuläre Senkung des Lohnniveaus durchgesetzt. Das funktionierte, weil die Leute gleichzeitig ihren Lebensstandard halten konnten, da sie die Kosten über Verschuldung in die Zukunft verschoben. Gleichzeitig fanden die ersten Angriffe auf das gesellschaftliche Sicherheitsnetz aus staatlichen Transferleistungen wie Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe und anderen Leistungen wie Kinderbetreuung statt. Um diese Angriffe durchzusetzen, erklärten die Regierung und die Konzerne aber auch dem gewerkschaftlich organisierten Teil der Arbeiterklasse den Krieg und kündigten den nach dem 2. Weltkrieg zwischen Gewerkschaften und Management geschlossenen Produktivitätspakt auf. Den Auftakt zu diesem Angriff machte Carter 1978 mit seinem erfolglosen Versuch, den Bergarbeiterstreik zu brechen, aber ebenso mit seinen Rettungsaktionen für die angeschlagenen Firmen Chrysler und Continental Bank, die diesen die Möglichkeit gaben, bestehende Tarifverträge neu verhandeln und mit Hilfe der Pleite die Löhne zu senken und ArbeiterInnen zu entlassen. Reagan begann seine Regierungstätigkeit mit der Niederschlagung des Fluglotsenstreiks. Im Laufe der 1980er Jahre wurden noch eine Reihe von weiteren Streiks niedergeschlagen, mit Hilfe einer Gewerkschaftsführung, die viel mehr Angst vor ihrer militanten Basis als vor dem Verlust ihrer Mitgliedschaft hatte. Die Gewerkschaften kollaborierten mit den Firmen bei der Entlassung von Millionen von gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen und verwandelten Streiks in Ausdauerwettbewerbe zwischen Firmen und ArbeiterInnen. Die Zersetzung der Klasse bediente sich der Sprache der «persönlichen Verantwortung«, der «Entscheidung«, des «Eigentums« und der individuellen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Alle kollektiven Reaktionen wurden als Reaktionen von «Sonderinteressen« wie Frauen, Schwulen und Lesben, Schwarzen, Latinos, SozialhilfeempfängerInnen und «Labor« (womit nur gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen gemeint waren) usw. behandelt. Es ging immer mehr darum, dass niemand das Recht auf irgendwelche kollektive Hilfe oder staatliche Unterstützung habe und dass Individuen die richtigen Entscheidungen fällen und verantwortlich sein müssten. Von den ArbeiterInnen wurde mithin erwartet, dass sie mit den Wechselfällen des Marktes allein und isoliert klarkämen, dass die Probleme der Alten und Kinden usw. mit den Ressourcen des individuellen Familieneinkommen gelöst werden müssten. Ein verantwortliches Individuum arbeitet für seinen Lebensunterhalt, egal wie die Löhne und Arbeitsbedingungen sind, und können sich «entscheiden«, woanders zu arbeiten, sich selbst für Arbeitgeber attraktiver zu machen, indem sie sich eine bessere Ausbildung verschaffen, die sie auch zunehmend aus ihrer eigenen Tasche bezahlen müssen.12 Ein verantwortlicher Staatsbürger sollte dem Staat nicht zur Last fallen bzw., wie es häufig heißt, er sollte nicht am Tropf der Steuergroschen seiner Mitbürger hängen. Jeder, der staatliche Unterstützung bekam, galt als unverantwortlich, faul, vielleicht sogar direkt als kriminell, weil er von dem Geld lebte, das verantwortliche Bürger bezahlten, die die volle Last der Lohnarbeit akzeptierten. Diese Spaltung zwischen dem «anspruchsberechtigen Mittelschichtsarbeiter« und den «nicht anspruchsberechtigten unfähigen Armen« beschleunigte sich zu Angriffen auf Sozialhilfeempfängerinnen, Strafgefangene in einem fiktiven Schlaraffenland und schließlich die moralische Armut der Armen. Die Linderung der Armut wurde zur unmoralischen Handlung, denn die Armut lehre die Menschen Sparsamkeit, Verantwortung und die Wichtigkeit harter Arbeit, und sie wären nicht arm, wenn sie nicht verschwenderisch, verantwortungslos und faul wären. Werner Bonefeld fasst dies sehr treffend in seinem Aufsatz The Politics of Debt: Social Discipline and Control zusammen: Die Stigmatisierung der Bettler und der alleinerziehenden Mütter kommt nicht überraschend und ist mehr als eine Wiederholung früherer Exzesse… Die Stigmatisierung soll die Ängste der Mittelschicht davor dämpfen, von denen, die in einer Lohngesellschaft keinen Lohn bekommen, «überfallen« zu werden. Gleichzeitig wird die traditionelle Unterstützerschaft der Konservativen zur Kasse gebeten. Obwohl sie proletarisiert sind, werden Angst und Unsicherheit geschürt im Versuch, Solidarität mit denen zu verhindern, deren Armut als Warnung for einer alptraumhaften Zukunft dient. Die Stigmatisierung lässt sich als Versuch interpretieren, die Solidarität und soziale Kooperation gegen die Austeritätspolitik zu untergraben. Mit ihrer Hilfe werden die gesellschaftlichen Beziehungen nach Einkommensgruppen gespalten und wird diese Spaltung verstärkt, indem die verschiedenen Einkommensgruppen gegeneinander gestellt werden, indem ein Klima des Misstrauens zwischen diesen Gruppen geschürt wird, während die Regierung gleichzeitig all diesen Gruppen zutraut, den Preis für die wirtschaftliche Erholung zu zahlen. Die andere Seite der Stigmatisierung durch die Regierung ist die Frage der «Verantwortung«. Die Regierung fordert die Bevölkerung auf, ihrem Urteil und ihrer Wirtschaftspolitik zu vertrauen, und rät denen, die unter ihrer Politik leiden, dringend davon ab, Mitleid mit dem Los der Bettler und alleinerziehenden Mütter zu zeigen. Es wird dringend davon abgeraten, solidarisch mit denen zu sein, die die Regierung zu Bösewichtern erklärt hat: Alle, die ein anständiges Leben führen, bekommen die Gelegenheit, sich von unverantwortlichen Elementen zu distanzieren und Verantwortung zu zeigen, indem sie fraglos die Last der wirtschaftlichen Anpassung schultern. Die Frage der «Verantwortung« ist ganz speziell: Sie legt fest, dass die Hinnahme von Entbehrungen und immer schlechteren Bedingungen im nationalen Interesse liegt. Verantwortung durch das Individuum wird daher als Frage des nationalen Aufschwungs hingestellt. Die neoliberale Vorstellung vom ermächtigten Individuum und die Definition dieses Individuums als unternehmerischem Akteur auf dem Markt einerseits und die Förderung der individuellen Verantwortung andererseits sind zwei Seiten derselben staatlich geförderten Münze. Der neoliberale Rückzug aus dem Staat bedeutet, dass viele Aspekte des gesellschaftlichen Lebens direkt (wieder) warenförmig werden, und das unternehmerische Individuum ist aufgefordert, seine gerade gefundene Ermächtigung zu nutzen, um über die Runden zu kommen. Der unnachgiebige Demonstrant und Streikende steht für alles, was dem nationalen Interesse schadet. Dass die Bettler und alleinerziehenden Mütter als unerwünscht und unverantwortlich stigmatisiert werden, ist symptomatisch: Hinter der Fassade der überlegenen Moral lauert die Angst, dass Solidarität und soziale Kooperation das empfindliche soziale Gewebe der atomisierten, hoch verschuldeten und hart arbeitenden Menschen zerreißen könnten.13 Mit dem Angriff auf den kollektiven Widerstand am Arbeitsplatz, der als Verletzung der freien Marktwirtschaft, der persönlichen Verantwortung und Entscheidung verdammt wird, sind Beschwerden zunehmend an den politischen Markt der Wahlurnen verwiesen worden. Der Staatsbürger hat die Pflicht, zwischen konkurrierenden Parteien zu wählen, die alle dieselben Grundregeln vertreten. Alle politischen Aktivitäten verwandeln sich in den Konsum von durch die Medien projizierten Bildern. Meistens gewinnt derjenige, der am meisten Geld für den Wahlkampf hatte, und selbst die Teilnahme kostet schon Millionen von Dollars. Die Desorganisation der Klasse als Klasse versucht die Rebellion durch Lohnkonflikte zu ersetzen, und die Frage der politischen Macht wird durch die konkurrierenden Politmanager der Parteien ersetzt, die an der Maximierung von Wählerstimmen und der Vermarktung von Binsenweisheiten interessiert sind, besonders in Wahlzeiten. (ibid.) Die Republikaner haben eine starke Basis unter LohnarbeiterInnen, die sich selbst eigentlich als «Mittelschicht« sehen, oft ein eigenes Haus oder die Hoffnung darauf haben, zum reichsten Land der Welt mit den schwächsten Traditionen von staatlichen Sozialleistungen und kollektiven gesellschaftlichen Kämpfen gehören und durch Rasse und die Bedingungen tief gespalten sind. Eben diese Menschen sind hochverschuldet, haben kaum Ersparnisse und meinen, dass alle Steuern direkt an die Armen gehen, «die es nicht verdient haben«, und ganz unten auf dieser Leiter kommen meist die Schwarzen. Das erklärt teilweise den revanchistischen Rassismus vieler weißer ArbeiterInnen vieler Einkommensschichten. Auch ein Blick auf die Suburbanisierung, die zur Verschärfung der Katastrophe beigetragen hat und um die herum der Evakuierungsplan entwickelt wurde, kann die Mechanismen beleuchten, die der feindseligen Reaktion vieler ArbeiterInnen zugrunde liegen. Zum Beispiel Gretna in Jefferson Parish14, wo die Polizei mit Gewalt gegen Menschen vorging, die versuchten, aus New Orleans zu fliehen. Der Ort ist zu 65 Prozent weiß und hat eine 10-prozentige nicht-schwarze «Minderheits«-Bevölkerung. 62,9 Prozent der Haushalte verdienen weniger als 50.000 und 90 Prozent weniger als 100.000 Dollar im Jahr.15 Oder St. Bernard’s Parish, früher ein Arbeiter- und Industriegebiet, wo der MR-GO-Kanal gebaut wurde. St. Bernard’s Parish ist zu 85 Prozent weiß und zu über 92 Prozent nicht-schwarz. 65,5 Prozent der Haushalte verdienen weniger als 50.000 und 94,7 Prozent weniger als 100.000 Dollar im Jahr, weit unter dem US-Gesamtdurchschnitt, aber durchschnittlich für einen «blue collar«-Vorort. Im Rahmen dessen, wie ein Ort wie Gretna funktioniert, war die Reaktion der dortigen Polizei annehmbar, und es wird in Gretna wohl kaum einen öffentlichen Aufschrei über das Verhalten der Polizei geben. In St. Bernard’s Parish gab es schon Beschwerden von Einwohnern, dass aus der ganzen Sache eine Rassenfrage gemacht werde. Sie sind – zu Recht – verbittert, dass sie alles verloren haben, was sie hatten, und vielleicht sogar in echte Armut absteigen, falls sie angesichts der ganzen biologischen Verseuchung überhaupt in ihre Häuser zurückkehren können, aber nur wenige von ihnen scheinen zu begreifen, dass sie angesichts eines Evakuierungsszenarios, das auf eigenen Autos und Autobahnen und meist rassisch segregierten Vororten beruhte, viel größere Überlebenschancen hatten und dass der Evakuierungsplan der Regierung im wesentlichen auf Vorortstandards beruhte. Diese Privilegierung und gleichzeitige rassische und ideologische Homogenität der Vororte16 macht jedes Mitgefühl zwischen Vorort- und StadtbewohnerInnen sehr schwierig. Die Mehrheit dieser Menschen haben persönlichen Besitz, wahrscheinlich genug gespart, um ein paar Monate, vielleicht auch länger, damit auszukommen, aber im wesentlichen besteht ihr Besitz aus einem eigenen Haus und ein oder zwei Autos (74 Prozent der Einwohner von St. Bernard’s Parish wohnen im eigenen Haus, 84 Prozent der Häuser wurden in der Zeit der größten weißen Flucht zwischen 1949 und 1989 gebaut. In Jefferson Parish sind 64 Prozent Eigenheimbesitzer, und 81,4 Prozent der Häuser wurden in dieser Zeit gebaut). Es ist unwahrscheinlich, dass sie viel nicht-materiellen Reichtum wie Aktien, Wertpapiere, Anteile an produktivem Eigentum usw. besitzen. Ihr ganzer Besitz unterliegt der Steuerpflicht und verursacht mehr oder weniger hohe laufende Kosten, und der Hurrikan hat mit der Zerstörung ihrer Häuser und Autos mit Sicherheit einen Großteil ihres Reichtums zerstört. Wenn sie keine Flutversicherung hatten und der Schaden mit der Flut zusammenhing, haben sie wahrscheinlich alles verloren und sind immer noch verschuldet.17 Nach dem 2. Weltkrieg flohen die Industrie und die meisten nicht-finanziellen Firmen wegen der Kämpfe am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft zunehmend aus den Städten mit ihren intensiven Konzentrationen von ArbeiterInnen aller Einkommensschichten. Die Auto- und die Ölindustrie hatten ein klares Interesse am Niedergang der öffentlichen Verkehrsmittel und am Verkauf von Autos an so viele Menschen wie möglich, und der Staat baute das Straßennetz fast völlig umsonst und hatte kaum etwas für öffentliche Verkehrsmittel übrig. Das führte zu gesteigertem Fortzug aus den Städten in Siedlungen mit bewusst niedriger Bevölkerungsdichte, selbst von ArbeiterInnen, die immer noch in der Stadt arbeiten mussten. Die absolute Notwendigkeit eines Autos und regelmäßige lange Autofahrten sorgten in Verbindung mit der Struktur der Vororte nach dem 2. Weltkrieg für zunehmende Isolation, den Verlust von kollektiven Bindungen und eine Art von Kleinpionier-Individualismus, eine kleinbürgerliche Utopie der Abschottung von den immer mehr verfallenden Städten, von einem «Elend«, zu dem ganz wesentlich auch die schwarze Migration in die Städte nach dem 2. Weltkrieg gehörte.18 Die Deindustrialisierung und die Kapitalflucht in halbländliche Gebiete und aus den USA hinaus haben die Krise der Innenstädte und die Verelendung derjenigen, die nicht aus ihnen fliehen konnten, noch verstärkt. New Orleans war davon stärker betroffen als viele andere Städte. Trotz der Tatsache, dass die Erschließung der Vororte, z.B. durch den Straßenbau, aus städtischen Steuern bezahlt wird, geben die Vorortbewohner nichts an die Städte zurück außer zusätzlicher Umweltverschmutzung, Staus und der permanenten finanziellen Austrocknung der öffentlichen Verkehrsmittel. Dieses Modell ist inzwischen nicht mehr auf die Vororte beschränkt, sondern dient in vielen Städten als Modell der «Stadterneuerung« mit halbprivaten Siedlungen und Megamärkten auf der grünen Wiese oder direkt angrenzend an «sanierte«, d.h. gentrifizierte Gegenden mit Yuppie-Klientel. Wenn man sich die Zusammensetzung des Steueraufkommens, Siedlungsprojekte wie die gated communities, das «Redlining« auf dem Immobilienmarkt (Makler bieten Schwarzen in bestimmten Gebieten keine Häuser an) und rassistische Bebauungspläne und Baubestimmungen ansieht, dann markiert die Erschließung der Vororte die Geographie der Zersetzung der Arbeiterklasse. Die Struktur der Vororte dient dazu, Isolation und Individualismus zu verstärken, mit der Anlage von Häusern und öffentlichen Räumen, mit der autoorientierten Konstruktion des Lebens, mit dem Fehlen eines öffentlichen Lebens außerhalb der Einkaufszentren usw.19 Lewis Mumford nannte die Vororte «einen kollektiven Versuch, ein privates Leben zu führen«, und hat damit ihre Mentalität genau erfasst (The Culture of Cities, 1938). Ich würde die Vororte als Geographie der Soziopathologie bezeichnen. Diese Mentalität zeigt sich in der feindseligen Reaktion auf die EinwohnerInnen von New Orleans, die nicht privilegiert genug waren, ein Auto zu haben, oder die gar nicht gezwungen waren, eins zu haben, und die daher sowohl vom Privatkaptials als auch vom Staat aufgegeben wurden. Diesen Standpunkt vertritt heute ein großer Teil der Lohnarbeitenden in den USA, und auf ihm beruht letztlich das republikanische Proletariat, Bushs Massenbasis. Da der Lebensstil dieser Leute ohne Auto unmöglich ist, ist es für sie unnatürlich, kein Auto zu haben, und drückt das allein schon einen gewissen Mangel an persönlicher Verantwortung und Intelligenz aus. Dass 100.000 Menschen in New Orleans zurückblieben und sich nicht selbst auf persönlich verantwortliche Weise evakuieren konnten, beweist ihnen nur, wie recht sie haben. Die beiden größten Ausgaben im Leben der meisten Amerikaner, ein Auto und ein Haus, sind auch der Gradmesser des «Werts« eines Menschen. Abhängigkeit von öffentlich gefördertem Wohnungsbau, öffentlichen Verkehrsmitteln und öffentlicher Unterstützung fallen alle nur den bereits von Steuern belasteten «Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten« zur Last. Nach diesen Maßstäben sind die Menschen von New Orleans, die nicht geflohen sind, unwert und unzivilisiert und bekommen, was sie verdient haben: Kriegsrecht und brutale Unterdrückung. Die folgenden Kommentare von Anthony Gregory sind ziemlich scharfsinnig: Auf der Rechten scheint ein Gefühl zu herrschen, dass die Regierung mit der Verhängung des Kriegsrechts recht habe, dass sie alle Plünderer und Unruhestifter, derer sie habhaft werden kann, erschießen und die von der Flut fortgespülte Ordnung mit eiserner Faust wiederherstellen solle. Ganz klar haben die meisten Konservativen per se wenig dagegen, dass sich die Regierung um die Katastrophe kümmert. Wenn überhaupt, haben sie etwas dagegen, dass ihre Steuergroschen an Sozialhilfeempfänger gehen, statt dass mehr Nationalgardisten eingestellt werden, um die ungebührlichen Horden im Irak und und New Orleans zu zähmen oder notfalls zu erschießen. Es scheint die Rechte scheint auch nicht mehr zu stören als die Linke, dass amerikanische Staatsbürger zwangsweise in einem Kongresszentrum und in einem Stadion inhaftiert werden. Zwangsräumungen und Inhaftierungen – die eigentliche Ursache eines Großteils der Plünderungen und der Gewalt – stoßen bei den Konservativen auf Zustimmung. Bei Nachdenken über die Situation hier in Amerika sagte ein US-Offizier im Irak: «Wenn überhaupt, ist mir das irgendwie peinlich. Wir sollen den Irakern sagen, wie sie sich benehmen sollen, und dann passiert zu Hause sowas.« Anfangs hätten wir vielleicht erwartet, dass den Konservativen klar wird, das dieselben Bundesbehörden, die in New Orleans so kläglich versagt haben, wahrscheinlich nicht in der Lage sind, dem Irak die Freiheit zu bringen, aber stattdessen hat ihre Unterstützung für das Recht und die Macht der US-Regierung, im Namen des Allgemeinwohls die bürgerlichen Freiheiten zu unterdrücken, noch zugenommen. In New Orleans hatten die Konservativen die Chance, zu sehen, was Bundesfreiheit wirklich bedeutet und was es daher bedeutet, wenn man sie dem Rest der Welt aufzwingt. Und die Rechte hat das Gefühl: ja, her damit.20 Die Reaktion derjenigen auf der anderen Seite ist ein ganzes Stück diffuser. Die Menschen haben ihre Wohnungen und ihre Geldbeutel geöffnet und sogar versucht, nach New Orleans zu kommen, um zu helfen, obwohl die Behörden – kaum überraschend – Privatleute ohne Verbindung zu einer zugelassenen Organisation nicht haben helfen lassen.21 Es gibt einen großes Strom von Mitgefühl und Geld für Hilfsmaßnahmen, aber vor allem als private Bürger, die die Hauptverantwortung für die Hilfe an Menschen bei der Regierung sehen und die mehr als alles andere zur «Normalität« zurückkehren möchten. Mir geht es gerade darum, dass genau diese «Normalität« zentral für diese Katastrophe ist und eine Rückkehr zur «Normalität« eben dafür sorgen wird, dass sie eine Katastrophe bleibt und keine Krise. Bei dieser Haltung scheinen mir mehrere Aspekte wichtig. Erstens die ambivalente Haltung zu den «Plünderern«. Viele mitfühlende Menschen haben akzeptiert oder sogar verteidigt, dass sich die Leute genommen haben, «was sie brauchten«, haben aber im wesentlichen trotzdem die Mediendarstellung über die Massengewalt, die Notwendigkeit des Kriegsrechts, die «heroische« Rolle der Nationalgarde, die «Tragödie« des Zusammenbruchs der Polizei usw. akzeptiert. Die grundlegende Frage des Eigentums wurde mit anderen Worten vorübergehend aus dem Notfall heraus suspendiert, aber nicht in Frage gestellt. Einige in der Stadt, die sich genommen haben, was sie brauchten, haben das anders gesehen, aber für die meisten war es nur eine Notfallmaßnahme. Ebenso meinten viele, das wahre Problem habe in der «unzureichenden« und «unfähigen« Reaktion des Staates gelegen. Trotz der letzten 30 Jahre Konterrevolution22 meinen die Menschen, der Staat sei dafür verantwortlich, sich um die Menschen zu kümmern, und bisher scheinen nur die Desillusionierung oder der Ekel über die Bush-Administration im besonderen gestiegen zu sein. Da die Gründe, die zur Krise geführt werden, nicht gesehen werden und die Krise selbst immer noch als «Naturkatastrophe« wahrgenommen wird, erscheinen die eng politischen und scheinbar technokratischen und parteipolitischen Aspekte als das Hauptproblem. Es ist aber unklar, ob ein Clinton oder ein Gore oder ein Kerry oder irgendein anderer Demokrat besser reagiert hätte, und diese Politiker tragen eindeutig die volle Verantwortung für die Zersetzung der Arbeiterklasse in diesen fragmentierten Zustand, in dem sie kaum mehr ist als eine Menge von konkurrierenden Interessengruppen und isolierten Individuen, denen jeder offene soziale Kampf als Risiko erscheint, das es sich nicht einzugehen lohnt, falls sie nach der Erschöpfung durch die Arbeit und die Pendelei überhaupt noch die Energie haben, sich so eine Möglichkeit vorzustellen.23 Es reicht nicht, gegen Bush zu sein, denn damit fordert man bloß die Ersetzung von Bush durch jemanden, der weniger «inkompetent« ist, der nicht einfach alle Regierungsämter mit seinen Freunden besetzt, der nicht einfach Geld an seine Konzernfreunde wie Bechtel und Halliburton durchreicht, als wäre es viel besser, den Wiederaufbau «unpersönlich« den Konzernen zu überlassen. Es hilft nicht viel weiter, wenn wir die Reaktionen wollen, die die Katastrophe selbst in den Leuten auslöste: kollektives Handeln, Selbstverteidigung, Unabhängigkeit, Menschen wichtiger nehmen als Profite. Forderungen nach noch mehr Untersuchungen, noch mehr Kommissionen, noch mehr Rücktritten oder noch mehr staatlichen Geldern werden die Selbständigkeit und das Selbstvertrauen der ArbeiterInnen nicht ermutigen. Und diese Argumente überbrücken auch nicht die Kluft zwischen dem republikanischen Proletariat und den überwiegend Desillusionierten und Zukurzgekommenen, die einfach auf kleine Verbesserungen hoffen, aber keine klare ideologische Agenda haben. Tatsächlich hilft das Spiel «Bush vs. Blanco« nur, die Klassenfragen zu verdecken, die Brücken bauen könnten. Das soll nicht heißen, dass wir ignorieren sollten, was die Bush-Administration tut. Halliburton und Bechtel haben schon Verträge bekommen. Bush hat den Davis-Beacon Act aufgehoben, nach dem Firmen, die mit Bundesmitteln geförderte Aufbauarbeiten leisten, ortsübliche Löhne zahlen müssen.24 Dadurch werden die Löhne für die ArbeiterInnen, die diese Arbeit leisten, drastisch gesenkt werden. Bush will auch zulassen, dass Firmen die Vorschriften der Umweltbehörde Environmental Protection Agency umgehen, so dass die beauftragten Firmen beim Wiederaufbau noch mehr Schaden in der Region anrichten können. Dies ist im wesentlichen ein Programm für Superprofite für die Firmen, die die Aufträge bekommen. Außerdem macht die Regierung nicht zur Auflage, dass die Firmen ihr Personal vor Ort einstellen, was die Leute, die vor Ort ihren Job verloren haben, wahrscheinlich noch wütender machen wird. Einige Leute machen sich schon Sorgen, dass die Katastrophe am Ende dazu dienen wird, New Orleans in einem großen Streich zu gentrifizieren. Auch über solche Aktionen werden die Leute wahrscheinlich wütend werden und die Situation sich nicht «normalisieren«, aber es ist unsere Pflicht, uns beim Streit zwischen den politischen Parteien nicht auf eine Seite zu schlagen und keine Forderungen nach «Gerechtigkeit« oder «gerechten Löhnen« aufzustellen. Für diejenigen, die nicht direkt von der Situation in New Orleans betroffen sind, die die Entwicklung dieses Alptraums angesehen haben und wütend und entsetzt sind, sind die Auswirkungen weniger klar. Auf einer bestimmten Ebene wird das Leid vor allem als symbolisches wahrgenommen, in der Form von Fernsehbildern und Medienberichten. Für die meisten Leute beschränken sich die direkten Auswirkungen auf ihr tägliches Leben auf Benzinpreise und anderen indirekte Preissteigerungen. Auf jeden Fall versucht das Kapital, New Orleans auf ein Spektakel zu reduzieren, bei dem die nicht direkt betroffenen Menschen sich einfach ans Rote Kreuz oder andere Hilfsorganisationen wenden oder auf die Wahlen warten sollten. Viele Menschen sind frustriert, weil sie nicht wissen, wie sie sich sonst einmischen sollen. Es gibt aber noch einen anderen Weg. Wir müssen die Menschen ermutigen, lokale Organisationen wie Common Ground und Community Labor United zu finden, die Widerstand gegen die vom Staat und den Konzernen gepushten Wiederaufbaupläne leisten und eine Hilfsarbeit machen, die sich nicht als Fürsorge, sondern als Solidarität versteht. Wir können diesen Leuten Zeit, Geld und Fähigkeiten anbieten, um ihnen und durch sie möglicherweise auch anderen Leuten vor Ort in New Orleans zu helfen, sich zu wehren. Und bisher sieht es definitiv so aus, als werde sich dieser Widerstand ausweiten, auch wenn sich seine Entwicklung und Stärke wegen des Exodus der Menschen aus New Orleans noch schlecht abschätzen lässt.25 Der Erfolg bei der Zersetzung der Arbeiterklasse im Lauf der letzten 30 Jahre hat mit anderen Worten auch Schwachstellen, die in dieser Krise sichtbar werden. Jedem ist Profitmacherein der Ölkonzerne klar geworden, denn ein kleiner Verlust an Kapazitäten hat die Benzinpreise in vielen Gegenden um über einen Dollar pro Gallone nach oben getrieben. Gleichzeitig sind die Aktienkurse der Ölgesellschaft nach oben geschnellt, ebenso wie die Kurse der Firmen, die die Hilfsaufträge bekommen. Die Diskussion, dass Menschen kollektiv Verantwortung füreinander übernehmen, statt auf einen von Grund auf feindseligen Staat zu warten, findet ein gewisses Echo, und ganz offensichtlich verstehen einige der scheinbar konservativsten ArbeiterInnen letzten Endes, dass es keinen Sinn hat, hieraus eine Parteifrage zu machen, denn unabhängig von den Parteien hat der Staat den Menschen auf keiner einzigen Ebene geholfen. Wir müssen differenzieren zwischen Menschen, die persönliches materielles Eigentum zu verlieren hatten, und das waren fast alle, egal, wie arm sie waren, deren Arbeitsplätze möglicherweise vernichtet sind, und denen aus den gut ausgebildeten Schichten, deren Arbeit sich oft von fast überall her ausüben lässt. Ganz zu schweigen von den Kapitalisten, für viele von denen dies eine günstige Gelegenheit ist, satt am Wiederaufbau und an den sinkenden Löhnen für verzweifelte ArbeiterInnen zu verdienen. In gewisser Weise zeigt dies, wie dünn der Lack der Sicherheit ist, die einige ArbeiterInnen dadurch erworben zu haben meinten, dass sich an den Markt angepasst haben, dass sie hart gearbeitet haben, dass sie alle Arten von Opfern gebracht haben. Selbst das Argument, dass man, wenn man die Plünderer erschießen will, eigentlich mit den Konzernen und Firmen anfangen sollte, die aus der Katastrophe und dem Elend der Menschen ihren Profit ziehen, findet bei mir auf der Arbeit über die politischen Lager hinweg Gehör, zumindest bei Leuten, die nicht die Karriereleiter hoch wollen und auch kaum hoch kämen, wenn sie wollten. Ganz anders die Reaktion der Manager und Spezialisten in meinem Job, egal ob liberal oder konservativ, die von dieser Vorstellung viel eher entsetzt sind, aber daran zeigt sich eine dieser interessanten, wenn auch fast unsichtbaren Bruchlinien. Sagt es einfach keiner, oder kann man gar nicht anders über Reaktionen außerhalb der Grenzen des Neoliberalismus nachdenken? Daran zeigt sich die Zersetzung des politischen Lebens hier vielleicht am deutlichsten, aus welchem Grund auch immer. Die tatsächlichen Folgen lassen sich schwer vorhersagen. Wie lange wird dieses Ereignis noch nachhallen? Wie wird es sich auf das Handeln der Menschen auswirken? Bisher hat New Orleans gezeigt, auf welch tönernen Füßen der Wohlstand der USA steht und wie offen böse und gefühllos eine bestimmte Art von Politik ist, aber damit scheint noch keine Verbindung zwischen dieser Politik und den beiden Parteien und zu einer profitgetriebenen Marktgesellschaft hergestellt zu sein, erst recht nicht zum Kapitalismus und zum Staat. Für endgültige Urteil ist es aber noch zu früh, denn noch warten wir darauf, wie sich der Fallout aus dieser höchst unnatürlichen Katastrophe entwickelt. Zu allermindest hat es die Situation intensiviert, die häßliche Unterseite dieses Landes mit dem Bauch nach oben gedreht, so dass die ganze Welt und – was das wichtigste ist – die Menschen hier es auf eine Art sehen und erfahren konnten, die es schwer macht, den Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten. Chris Wright, Baltimore, Maryland, USA
Nachtrag: Noch während ich an diesem Text schrieb, steigerte sich der Hurrikan Rita zu einem Hurrikan der Kategorie 5 und nahm Kurs auf die Küste von Texas, wo er u.a. die Städte Galveston, Corpus Christi und Houston bedrohte, und viele Menschen aus New Orleans waren inzwischen in Houston. Diese Menschen sind schon wieder gezwungen zu fliehen, nachdem sie gerade angefangen haben, sich zu orientieren und sich auf die Rückkehr nach New Orleans vorzubereiten. Im Moment wissen wir noch nicht, was Rita bringen wird, aber obwohl die Regierung diesmal viel schneller auf die Katastrophe reagiert, ist unklar, wie hoch die Schäden ausfallen werden. Auch die Evakuierung von Houston und Galveston scheint bisher auf dem Besitz von Autos und der «persönlichen Verantwortung« zu beruhen, auch wenn vermutlich keiner der Politiker noch so eine Schlappe wie New Orleans einstecken möchte.
Fußnoten:
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