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Berichte zur Krise

VIER: England

Wir hatten Leute in verschiedenen Ländern gebeten, ihre Beobachtungen zu den Auswirkungen der Krise aufzuschreiben.
Hier ein Bericht aus England vom Januar 2009 mit einem update vom Februar 2009.

English version


»Anti-soziale Solidarität«

Am 8. Januar entließ Nissan 1200 der 5000 ArbeiterInnen seiner Autofabrik in Sunderland (Nordost-England). In einigen Berichten hieß es, 400 befristete und 800 »feste« Stellen würden gestrichen, in anderen, es handele sich »hauptsächlich« um befristete Jobs. Das Nissan-Werk, das seit Oktober Produktion und Arbeitsstunden zurückfährt, hatte im Januar 2008 eine dritte Schicht eingeführt, um der Nachfrage gerecht zu werden; sie war weithin als die effizienteste in Europa angesehen und hatte angeblich die lokale Wirtschaft (die Zulieferkette von Nissan selbst, entlang der jetzt weitere 5000 Stellen gefährdet sind, plus petrochemische Industrie, Papier und »qualitativ hochwertige« Call Center) durch ihr beispielgebendes Lean Production-Modell »wiederbelebt«. Das ist der bisher bedeutendste Fall von Massenentlassungen durch einen profitablen und solventen »schlanken« Arbeitgeber in Großbritannien.

In gewisser Weise sticht Sunderland unter den Gebieten heraus, die von der Stilllegung der Industrieproduktion in den achtziger Jahren betroffen waren, weil dort Werften und Kohlebergbau zumindest zum Teil durch neue (d.h. geschrumpfte und »flexible«) Produktion »ersetzt« wurden. Abgesehen von seinen re-industrialisierten Außenposten hat Sunderland wie andere Teile des Landes, die historisch durch die Arbeiterklasse geprägt sind, während des Booms im Dienstleistungs- und Finanzsektor mehr oder weniger ununterbrochen das gleiche erlebt: anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, vom Staat und der EU finanzierte Projekte zur »Stadtsanierung«, die ein paar wacklige Jobs in Verkauf und Tourismus brachten, zusammen mit Immobiliengewinnen und »kreativen« Gebühren für eine winzige Minderheit und dem enormen Wachstum von Regierungsbehörden, die »sozialen Ausschluss« verwalten. Die Entlassungen bei Nissan zeigen, dass »sozialer Ausschluss« etwas ist, vor dem niemand mehr sicher sein kann, bis zu dem Punkt, an dem der Begriff jede Bedeutung – welche auch immer er hatte – verliert. »Ausschluss« bedeutet jenseits aller Bemühungen der Behörden, ihn zu pathologisieren, keine realistische individuelle Hoffnung zu haben, als Rentier, Firmeninhaber oder Berufstätiger in einer finanzialisierten Wirtschaft erfolgreich zu sein. Diese Hoffnungslosigkeit ist nicht mehr länger exklusiv: sie kann jeden treffen (das konnte sie schon immer, aber bis vor kurzem hätte das nicht »jeder« geglaubt), und tut das momentan in großem Umfang. Die weitere Entwicklung des Klassenkonflikts hängt davon ab, wie die Arbeiter­Innen, die in diese Lage gebracht werden, und diejenigen, die niemals etwas anderes gekannt haben, (zusammen) reagieren.

Das Wesen der Krise in Großbritannien folgt direkt aus dem vorangegangenen sechzehnjährigen »Boom«. Die Rolle steigender Preise von Finanzanlagen (d.h. wachsender Ansprüche auf Wert, der woanders oder in der Zukunft produziert wird) als »Wachstumsmotor« hing nicht nur mit dem direkt im Finanzwesen erwirtschafteten Anteil am »Brutto­inlandsprodukt« zusammen (2006 offiziell 33 Prozent): dieser hypothetische Ertrag floss als Kredit in den viel größeren Markt für private und Unternehmensdienstleistungen und finanzierte fast zufällig die »flexiblen« Niedriglöhne des britischen »Jobwunders«. »Vermögensbildung« in Großbritannien beruhte nicht auf Mehrwert aus den Jobs des »Dienstleistungsbooms«. Sondern Ansprüche auf Wertzuwächse aus anderen Bereichen der globalisierten Wirtschaft überfluteten die britische Wirtschaft, abgelenkt und vergrößert durch »komplexe Finanzinstrumente«, und finanzierten vorüber­ge­hend ein gigantisches Arbeitsbeschaffungs-Programm (oder Arbeitshaus). Die mageren Löhne in den auf diese Art »geschaffenen« Jobs zwangen die Arbeiter in eine systematische Abhängigkeit von Hypotheken und Krediten. (­viele andere hatten nur staatliche ­Unterstützung und/oder riskantes Einkommen aus der »kriminellen« Ökonomie).

Natürlich waren diese Erscheinungen in keiner Weise einzigartig, aber die frühreife Entwicklung des Systems in England, die ungewöhnliche Abhängigkeit des »nationalen« und privaten Einkommens von überbewerteten Aktien, steht im Zusammenhang mit der relativ starken Ausprägung der Krise hier. [1]

Weniger bekannt ist die Rolle des Staates bei der Unterstützung des »Beschäftigungswachstums« in dieser am stärksten deregulierten oder »angelsächsischsten« Wirtschaft. Laut Financial Times vom 23. November würden »die meisten Menschen« zwei Drittel der zwischen 1998 und 2006 geschaffenen Jobs, »dem öffentlichen Sektor zuordnen«. Öffentliche Beschäftigung wuchs bedeutend stärker bei Frauen und in den Regionen, die am härtesten vom Arbeitsplatzabbau in der Industrie in den letzten 30 Jahren betroffen waren, allen voran der Nordosten Englands. Laut Daily Mail »hat die Regierung Behörden und halbstaatliche Organisationen wie One North East in dieser Region ins Leben gerufen, um die vom Niedergang der traditionellen Industriezweige wie dem Kohlebergbau verursachte Arbeitslosigkeit anzugehen.« Das bedeutet, dass es nicht nur darum geht, mehr Jobs zu schaffen: viele dieser Jobs sind direkt mit der Verwaltung und Kontrolle der Arbeitslosen befasst oder mit erzwungener Fürsorge für die undisziplinierte Niedriglohnklasse. »Öffentlicher Sektor« heißt in diesem Fall nicht, dass die Arbeiterinnen direkt beim Staat beschäftigt sind, mit geschützten Löhnen, Arbeitsbedingungen und Renten. Der »Öffentliche Sektor« ist in den letzten zehn Jahren unter der Private Finance Initiative (PFI) drastisch neugeordnet worden, die private Subunternehmer einsetzt (oft Ketten von Subunter­nehmern, in denen einer den anderen für eine bestimmte Aufgabe anheuert) als »Dienstleister« in Medizin, Wohlfahrt, Transport, Bildung, Müllabfuhr, Polizei und Justiz, Einwanderungskontrolle, beim Militär und im Wohnungsbau. Die Subunternehmer leihen sich das Anfangskapital und beschäftigen Angestellte zu den typischen »flexiblen« Bedingungen der Privatwirtschaft. Der Staat verpflichtet sich, das Geld über mehrere Jahrzehnte zurückzuzahlen, und verschuldet sich damit mehr als er es sonst tun würde, hält aber diese ­öffentlichen Ausgaben und ­Schulden aus den Büchern [2] und vermeidet jede Verantwortung für die ArbeiterInnen und für Schaden an der Infrastruktur und den Nutzern dieser »Dienstleistungen«. Der Mythos relativ sicherer Jobs im »öffentlichen Sektor« wird also wahrscheinlich bald verschwinden, zusammen mit vielen »öffentlichen Dienstleistungen«, weil die PFI-Unternehmen damit kämpfen, ihre privaten Schulden zu refinanzieren. Beteiligte Unternehmen konnten das Anfangskapital für große Projekte im letzten Jahr nicht aufbringen, und die Zahl neuer PFI-Projekte hat sich fast halbiert. Am selben Tag veröffentlichte Deloitte einen Bericht, der die Krise als Gelegenheit für »radikale Veränderungen« des öffentlichen Sektors in Richtung einer stärkeren »Marktnähe« bezeichnet. So gewährleistet die gesamte Beschaffenheit der deindustrialisierten »Boomwirtschaft«, die die Rendite vom Arbeitseinkommen trennte, dass weder profitable Industrie noch der »staatliche Sektor« Zuflucht vor der Krise bieten. Bisher gibt es kaum Zeichen einer konfrontativen Antwort der Arbeiterklasse auf die Krise als solche, durch Streiks, Unruhen wie in Griechenland und Lettland oder nur symbolischen Protest über die »offiziellen Kanäle«. [3] Die Gewerkschaften boten von sich aus Lohnkürzungen an, um Jobs bei JCB und Corus zu retten; JCB nahm das Angebot an und entließ die Arbei­terinnen trotzdem. Diese Angst und Demoralisierung hat sicher damit zu tun, dass die Privathaus­halte ohne Hypotheken durchschnittlich mit 9600 Pfund verschuldet sind, mit Hypotheken mit 59.670 Pfund, das sind insgesamt etwas mehr als das Brutto­inlandsprodukt von 1456 Milliarden Pfund. Das private Kapital (abgesehen von Banken) hat Feindseligkeiten bisher abgebogen, indem es sich hilflos stellt. In der Zwischenzeit hat der Staat sich entlang aller Linien der Klassenkonfrontation behauptet, indem er als Planer, Finanzier, »Arbeitgeber« und Manager von Arbeitslosigkeit/Ausschluss auftritt. Die Antwort der Regierung auf die bevorstehende Massenarbeitslosigkeit läuft auf eine Aufrüstung für den direkten Krieg gegen die Arbeitslosen hinaus, mit neuen Gesetzen ab dem Frühjahr, die ab 2010-11 vollständig in Kraft treten und in Pilotprogrammen in »sozial ausgegrenzten« Gegenden [4] schon vorher angewendet werden sollen. [5] Die Überwachung der Arbeitslosen in der Privatwirtschaft und im ehrenamtlichen Sektor und der Angriff auf die Unterstützung bei Arbeitsunfähigkeit, in der hunderttausende Arbeitslose während früherer Angriffe auf das Arbeitslosengeld unterkamen [6], sind lange bestehende, aber bisher langsam fortschreitende politische Strategien. Die Entscheidung, jetzt neue Gesetze zu verabschieden, so dass das neue Regime in den nächsten zwei bis drei Jahren installiert wird, könnte andeuten, wann die staatlichen Planer der Depression entsprechende Arbeitslosenzahlen erwarten. Dieses Timing stellt sicher, dass die neue Politik mehr oder weniger gleichzeitig mit einer allgemeinen »Auste­ri­tät« (d.h. Schließung staatlich finanzierter Dienstleistungen rund um die Reproduktion, Gebühren für die Übrigen, regressive Steuern) zusammenfällt, und erfordert durch das Beharren des Finanzminis­teriums, dass die Schulden für Rettungsaktionen und Konjunkturprogramme keine absoluten fiskalischen Auswirkungen haben sollen und der Haushalt 2015-16 wieder ausgeglichen sein soll. All das wirft die Frage auf: welche »Strategie«, wenn überhaupt eine, könnte dem Generalangriff auf Löhne und Arbeitslose zugrunde liegen in einer Rezession, in der die Zirkulation verkümmert ist und es keine Arbeit gibt, in die man jemanden zwingen könnte? Trifft das Argument von George Caffentzis und Silvia Federici zu, dass das »westliche« Proletariat auf eine »Strukturanpassung« vorbereitet wird, in Anbetracht des Unterschieds zwischen einer bankrotten, vormals auf Industrie basierenden Wirtschaft wie Großbritannien und den von Landwirtschaft und Rohstoffexport geprägten Ökonomien, die in die Schuldknechtschaft gezwungen wurden, bevor eine volle Proletarisierung überhaupt stattfinden konnte? In dieser Hinsicht mag die Bezeichnung »Strukturanpassung« nicht zutreffen, aber ­einige Kapitalisten und ihre Intellektuellen fordern schon seit langem, dass die Erwartungen des »westlichen« Proletariats nach unten an die der Niedrig­lohnwelt angepasst werden müssten.

Wie kann eine Antwort der Klasse aussehen, wenn Massenarbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung und Druck auf die Löhne der noch Beschäftigten eine große Zahl von ArbeiterInnen in den Zustand bringen, der bis vor Kurzem »sozialer Ausschluss« ­genannt wurde? In der gegenwärtigen Stimmung von Angst und Rückzug kann man davon nur in der Zukunft sprechen (so nah diese Zukunft sein mag) oder in der Form sehr offener Fragen. Ein entscheidender Punkt muss die Entwicklung irgendeiner Art von Solidarität sein zwischen den neu »Ausgeschlossenen« und der sogenannten »Unter­klasse«, die schon in dieser Situation ist. Damit eng verbunden ist die Beziehung zwischen »Festangestellten« und LeiharbeiterInnen. Ein entstehendes Verständnis eines gemeinsamen Interesses wird mit den komplexen Formen individueller und mikro-kollektiver Konkurrenz umgehen müssen, die es sowohl auf Seiten der (vormals) »respektablen Arbeiterklasse« als auch bei den (ständig) »sozial Ausgeschlossenen« gibt. Wird zum Beispiel die gemeinsame materielle Erfahrung die Feindseligkeiten um Migration (oder die halluzinierte allgemeine Vorstellung davon) und »ethnische Identität« auflösen oder verschärfen? Könnte die Bereitschaft vieler Proletarier, sowohl den Staat als auch sich gegenseitig aufgrund von Rassismus anzugreifen, merklich in Klassenfeindschaft gewendet werden, weil immer mehr Menschen sich über »ethnische« Grenzen hinweg in der gleichen Lage wiederfinden, oder muss sie von Staat, Medien und den Anführern der Communities in sektiererische Katastrophen innerhalb der Klasse umgelenkt ­werden? Allgemeiner gefasst, werden die drastischen Veränderungen der materiellen Bedingungen ausreichen, um die tief verwurzelte ideologisch-kulturelle Annahme aufzulösen, dass »rauskommen« (aus dem Ghetto) oder individuell und in Konkurrenz zu anderen»aufsteigen« (ob als Geschäftseigentümerin oder qualifizierter Angestellter) die einzig vernünftige Zielsetzung für Proletarier ist? Diese Annahme wurde über Jahrzehnte durch reale Gegebenheiten gestärkt: die Überlebensgrundlage für die »arbeitenden Armen« wurde abgebaut, beispielsweise der soziale Wohnungsbau und staatliche Renten; Ausbildung und »persönliche Entwicklung« wurden unablässig als Lösung aller Probleme in den Vordergrund gerückt [7]; jedes Beispiel einer Verbesserung der materiellen Bedingungen auf kollektiver Basis ist aus der kollektiven Erinnerung verschwunden.

Falls die Möglichkeiten und Schwierigkeiten irgendeiner Klassenkonfrontation in der näheren Zukunft überhaupt auf diese Weise erfasst werden können, ist es vielleicht möglich, sich noch vorsichtiger einige Faktoren vorzustellen, die zu ihrem Ausbruch beitragen könnten:

  • Neue Arbeitslosigkeit in großem Ausmaß, die mit der Einführung des repressivsten Regimes über die Arbeitslosigkeit seit jeher zusammenfallen wird. Die Arbeitsämter sind jetzt schon aufreibende, gewalttätige Orte; was wird das Auftauchen von Tausenden oder Millionen von Arbeiterinnen bedeuten, die solche Erniedrigungen nicht gewöhnt sind?
  • Opportunistische Arbeitgeber nutzen die Krise als Gelegenheit, alte Konflikte um die Arbeit und widerspenstige Belegschaften loszuwerden. Natürlich kann das genauso gut auf die schnelle Kapitulation der erpressten Arbeiterinnen rauslaufen, aber könnte sich ein Streik wie der letztes Jahr bei der Post ohne die Illusion, überhaupt etwas verlieren zu können, weiterentwickeln?
  • Neue Entlassungen, Kürzung von Löhnen und staatlichen Leitungen, Schließung wichtiger Dienstleistungen in Gebieten, in denen es eine starke kollektive Erinnerung an Kämpfe aus ähnlichen Gründen während oder seit der Deindustrialisierung gibt, z.B. im Nordosten (Bergarbeiterstreik 1984/85) und Liverpool (Streik der Hafenarbeiter 1995-98).
  • Ständig wachsende Regulierung und Kontrolle der sozialen Reproduktion (Sammlung biometrischer Daten, Erlässe gegen anti-soziales Verhalten, staatliche Eingriffe in die Eltern-Kind Beziehung usw.). Das alles wird von Öffentlichkeitsarbeitern der Mittelklasse als »Bürgerrechtsthema« dargestellt, aber es hat in Wirklichkeit mehr mit dem Angriff auf halblegale oder illegale Überlebensstrategien der »sozial Ausgeschlossenen« zu tun: »Sozialleistungsbetrug«, informelle Arbeit, Drogenhandel in kleinem Maßstab usw. Die Überwachung dieser Dinge wurde bisher recht erfolgreich genutzt, um die »respektable«, überwiegend arbeitende Klasse und das sogenannte »Subproletariat« zu spalten. Aber wird das weiter funktionieren, wenn viel mehr Menschen plötzlich selbst von diesen »grauen Märkten« oder offiziell »anti-sozialen« Formen sozialer Zusammenarbeit ­abhängig sind?

Was man im Moment sehen kann, stimmt für die unmittelbare Zukunft eher pessimistisch, aber das muss nicht unbedingt auf die Lage in einem Jahr zutreffen. Eine Klassenauseinandersetzung, die aus Sicht des Proletariats im einen Moment wie ein Schlag ins Wasser aussieht, kann wenig später explosiv werden, weil die »objektiven« Bedingungen »subjektiv« auf eine stärker kollektive Art erfahren werden. (Januar 2009)


Update:

Ende Januar brachen die kollektive Wut und ihre Widersprüche in wilden Streiks quer durch die ­Ener­gieindustrie aus. In der Total-Raffinerie in Lindsey streikten Arbeiter gegen die durch eine EU-Verordnung bedingte Entscheidung, dass der sizilianische Sub-Subunternehmer IREM »seine eigenen« italienischen und portugiesischen Arbeiter für Bauarbeiten mitbringen sollte, die vor Ort nicht ausgeschrieben wurden. Diese Unterstützung der Arbeitslosen allein wäre als »politischer« Streik schon »illegal« gewesen, aber es schlossen sich auch noch Arbeiter an elf anderen Standorten mit doppelt-»illegalen« Solidaritätsstreiks an. Die Streiks machten sich Gordon Browns Slogan »Britische Jobs für britische Arbeiter« zu eigen, so dass arbeiterfeindliche Zeitungen sie »unterstützen« und eine Frage der »Nationalität« daraus machten konnten. Die Streikenden betonten, dies sei nicht der Fall, aber wie weit ihre Stimme wahrgenommen wurde, ist unklar, da der Konflikt mit der Zusage, hundert »Briten« einzustellen, beendet wurde. Deshalb wiederholen wir es hier: Was sie sagten, ist wahr. So verheerend diese Parole war, in dem Konflikt geht es ums Unterbieten von Löhnen in einer Einkommenskrise. Tarifverträge sind in Großbritannien nicht gesetzlich verbindlich, so dass europäische Arbeiter, die entsprechend der EU-Verordnung »entsandt« werden, nicht den branchenüblichen Lohn erhalten müssen. Die Streikenden in Lindsey wollten nicht den Ausschluss von Ausländern, sondern den gleichen Schutz für ortsansässige und ausländische Arbeiter und internationale (gewerkschaftliche) Solidarität. Hunderte polnischer Arbeiter schlossen sich einem Solidaritätsstreik im Atomkraftwerk Sellafield an. Arbeitgeber sagen nun, sie wurden durch ­ständige Arbeitsniederlegungen »im Stil der 70er« ­provoziert, Ausländer anzustellen.




[1] Die Vorhersagen über das Ausmaß des wirtschaftlichen Zusammenbruchs passen erstaunlich gut zum Ausmaß des vom Finanzmarkt getriebenen »Wachstums« des letzten Jahrzehnts. Z.B. prognostiziert das Chartered Institute of Personnel and Development den Abbau von ungefähr 750 000 Stellen in den kommenden 18 Monaten: »entsprechend dem gesamten Anstieg der Beschäftigung in den vergangenen drei Jahren«. Oxford Economics führt die Tatsache, dass Großbritannien beim Pro-Kopf-BIP in der Liste der »führenden« Volkswirtschaften von ganz oben nach ganz unten abgestürzt ist, auf den »Zusammenbruch der Finanzmärkte« zurück. (Mehr dazu auf www.wsws.org).

[2] Diese Funktionsweise wird dargestellt von David Morrison: PFI: is Gordon Brown »financially illiterate«?www.david-morrison.org.uk/pfi/pfi.htm

[3] Ausnahmen in Großbritannien waren kleine Streiks um Löhne bei den Londoner Busfahrern, im öffentlichen Dienst in Glasgow und Merseyside, in Betreuungseinrichtungen in Southampton, bei ArbeiterInnen in der Pharmaindustrie in Wembley und Angstellten in der »Weiterbildung« an verschiedenen Orten in England. Keiner davon stand in ausdrücklichem Zusammenhang zur Krise, aber in solchen Zeiten erheben Streiks für Lohn­erhöhungen implizit eigene Ansprüche gegen die der abstrakten »Ökonomie« und Rendite. Berichte über alle Arten von Streiks in Großbritannien finden sich auf www.libcom.org/ und www.wsws.org
Auf libcom.org/ finden sich auch Informationen über die Unruhen in Griechenland, und unter www.wsws.org/articles/2009/jan2009/latv-j16.shtml ein Artikel über die Unruhen gegen die Sparmaßnahmen in Lettland.

[4] Glasgow, West Midlands, Greater Manchester, Norfolk und Lambeth

[5] Der bekannteste Aspekt des Angriffs auf die »wirtschaftlich Inaktiven«, ist eine massive Beschleunigung des Rauswurfs aus der Unterstützung für »Arbeitsunfähige« (also Kranke) und Alleinerziehende ins Arbeitslosendgeld, mit dem die Bezüge auf 60,50 Pfund die Woche reduziert und der Druck verstärkt wird, jegliche Arbeit anzunehmen, egal ob man körperlich dazu in der Lage ist und Betreuung für die Kinder bekommen kann. Weniger veröffentlicht, aber genauso explosiv ist das Regime, das für »Arbeitssuchende« vorgeschlagen wird und auf »arbeitsgleichen Aktivitäten« beruht, also von neun bis fünf in Arbeitsämtern sitzen, um sich per Computer für Jobs zu bewerben, unter Aufsicht und mit regelmäßiger Befragung durch die Angestellten der PFI-Unternehmen (die entsprechend der Zahl der Leute, die sie aus dem Bezug von Arbeitslosengeld gekickt haben, bezahlt werden). Abgesehen von der Frage, wieviele Jobs im Niedriglohnbereich man überhaupt auf diese Art findet, statt durch informelle soziale Kontakte oder indem man dort hingeht, wo es sie eben gibt, ist es auffallend, wie der Umgang mit Antragstellern offener als je zuvor mit Bestrafung gleichgesetzt wird, genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Arbeitslosigkeit beginnt, unkontrollierbar zu wachsen. Widerspenstige Antragsteller, z.B. wenn sie zu spät zu einem Termin erscheinen, sollen schriftliche Verwarnungen bekommen, ein Begriff, der den Disziplinarmaßnahmen am Arbeitsplatz entlehnt ist; für wiederholte Vergehen sollen Bußgelder verhängt werden. »Arbeitsgleiche Aktivität«oll wie Nachsitzen in der Schule sein, d.h. die Situation einer Arbeitslosengeldbezieherin soll der eines in der Schulde bestraften Kindes entsprechen, und die Erfahrung soll eine ähnliche sein. Statt »Workfare« wird nun der Begriff »Gemeinschaftsdienst« für die Arbeitslosengeldempfängern auferlegte Zwangsarbeit verwendet, der bisher nur in Urteilen in Strafverfahren gebraucht wurde. Der Eindruck, dass die strafrechtliche Maschinerie ins Management der Arbeitslosigkeit importiert wird, wird verstärkt durch die testweise Anwendung von »Lügendetektoren« auf Antragsteller, die schon eine zeitlang in einigen Bereichen ins Rollen kommt und landesweit eingeführt werden soll, nach erfolgreichen »Versuchsverfahren« [sic!]. Die Software der Lügendetektoren wird auf Telefonanrufe von Arbeitslosengeldempfängern angewendet: sie findet angeblich Anomalien im Sprachmuster, so dass diejenigen, die falsch sprechen (so wie... Anruferinnen, die es aus irgendwelchen Gründen »anstrengend« finden, von 60 Pfund die Woche zu leben und das mit ihren Stimmen nicht verbergen können? Oder... Ausländer, die englische Wörter seltsam aussprechen?) zur weiteren Befragung vorgeladen werden können.

[6] Siehe die Artikelserie von Aufheben unter http://libcom.org/aufheben Vor allem die Broschüre »Dole autonomy gegen die Wiederdurchsetzung der Arbeit«, auf deutsch auf: www.wildcat-www.de/zirkular/48/z48dole.pdf und in einer Zusammenfassung in der wildcat 71, www.wildcat-www.de/wildcat/71/w71_dole.htm

[7] Der passenderweise ­»Crisis« genannte Wohlfahrtsverband, der den staatlichen Behörden hilft, Obdachlose in Jobtrainings zu zwingen, verwendet den Slogan »Wir sehen den Menschen, nicht die Obdachlosigkeit«. Man kann sich kaum eine treffendere Beschreibung davon vorstellen, wo der Staat und seine Verbündeten im ­»ehrenamtlichen Sektor« das Problem vermuten.

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