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Zur Erinnerung an Romano Alquati

von Sergio Bologna

Ich hatte seit etwa 30 Jahren keinen Umgang mehr mit Romano und weiß nur wenig über seine Tätigkeit als Dozent. Doch erreichten mich hin und wieder Signale und Botschaften von seinen Schülern, gewöhnlich Leute, die dank seiner Lehre »mehr drauf hatten«. Deshalb scheint mir der beste Weg des Erinnerns zu sein, wenn ich in die Zeit zurückgehe, in der auch ich wohl oder übel von ihm und von den Genossen lernte, die die »Quaderni Rossi« auf die Beine gestellt hatten. Dabei kann ich nur wiederholen, was ich schon an anderer Stelle berichtet habe: Bei den Vollversammlungen der »Quaderni Rossi« habe ich kaum den Mund aufgemacht. Ich sprach nur, wenn ich dazu aufgefordert wurde. In der Mailänder Gruppe habe ich mich dann sogar ziemlich ins Zeug gelegt. Aber letztlich waren die Jahre bei den »Quaderni« für mich Bildungsjahre [im Original deutsch].

Und damit komme ich zur conricerca. Es ist gar nicht so leicht zu sagen, was dieses Wort bedeutet. Denn es handelt sich zwar um eine Technik, aber eine, die nicht formalisiert ist und vielleicht auch gar nicht formalisierbar ist. Wenn wir sie als Methode, als Ansatz bezeichnen, verflüchtigt sie sich. Versuchen wir deshalb, durch Exklusion an sie heranzukommen. Die soziologische Untersuchung kann formalisiert werden, besser noch: sie kann auf ein Verfahren reduziert werden, man hat dann eine Methode, ein Denksystem aufzuweisen. Auch die Methode der Oral History kann formalisiert werden in einer Reihe von Vorschriften, von der Technik her kann sie sogar auf einen Leitfaden reduziert werden.

Es ist klar, dass keiner dieser Ansätze Romano interessieren konnte, auch wenn er sie gut kannte und alle nützlichen Elemente herauszog. Aber ihm dürfte jeglicher fachorientierte Ansatz viel zu eng gewesen sein. Denn er und Viele seiner Generation hatten weniger ein Bedürfnis nach Erkenntnisinstrumenten; ihre Identität fanden sie in einem anmaßenden und hart erkämpften Bedürfnis nach Befreiung aus der Enge der inzwischen abgeschlossenen Geschichte des Konflikts zwischen Faschismus und Antifaschismus, des republikanischen Italiens, des Konflikts zwischen der Christdemokratischen und der Kommunistischen Partei. Die Konflikte waren anders gelagert, der globale Zyklus war ein anderer. Es handelte sich um eine gewichtige Angelegenheit, sie war so gravierend wie Jahre später der Fall der Berliner Mauer. Um die Konturen des neuen historischen Zyklus zu verstehen, in ihm vollkommen heimisch zu werden (das meine ich mit dem Bedürfnis nach Identitätsfindung), entschieden sich Romano und vor ihm Danilo Montaldi – dem Alquati aus meiner Sicht außerordentlich viel verdankt – den »kommenden Menschen« (L´uomo che verrà) zu erforschen, um auf den Titel eines erfolgreichen Films zurückzugreifen. Damit meine ich Folgendes. Wenn Danilo mit einem Basismilitanten oder mit Menschen aus der Mailänder Peripherie sprach, oder wenn sich Romano mit einem Stahlarbeiter unterhielt, der ebenfalls noch mehr oder weniger in die bäuerliche Welt eingebunden war, setzten sie ein vielfältiges System von Bewusstseinsstrukturen, Erinnerungen, Wahrnehmungen, Affekten, Lektürefetzen und Erfahrungen frei. Sie öffneten eine kleine »Büchse der Pandora«, und heraus kamen Hinweise zu Fragen wie etwa: »Wer sind wir«? »Wie funktioniert diese Bude eigentlich?« »Wer und was hindert uns daran, frei zu sein?« »Wer legt uns da rein?« »Was sind die wichtigen Dinge, mit denen wir es auch noch in 30 Jahren zu tun haben?« »Unterdrückt uns die Technik nur, die wir anwenden, oder gibt sie uns auch bessere Werkzeuge in die Hand?« »Einen wie großen Teil deiner Erinnerung trage ich in mir, ohne es zu wissen?« »Um zurechtzukommen, um mich zu verteidigen, habe ich dies und dies gelernt«, usw. usw. Das alles sind Dinge, die man in der Definition »Erforschung der Subjektivität anderer« zusammenfassen könnte. Ich glaube jedoch, dass sie zuallererst zur Klärung der eigenen Identität beitragen sollten, um selbst in einer Welt heimisch zu werden, deren Konturen sich klärten, je mehr der Dialog und die Teilnahme am Leben der Arbeiter voran kamen. Wer wirklich Mit-Untersuchung betreibt, nimmt sich selbst nie als »Forscher« wahr und hält sich nie für etwas »Anderes«; »anders« als die Person, mit der man spricht. Grundsätzlich geht es ihm nicht an erster Stelle um die Kenntnis der formalen Strukturen einer Disziplin oder einer Forschungsmethode. Er strebt vorrangig nach einem bestimmten Verhalten und einem Gesprächsstil, nach Verbundenheit und Komplizenschaft. Es ist eine Haltung, in der ich meine ganze eigene Schwäche und Unsicherheit ins Spiel einbringe, wobei sich die unklaren Ideen über die eigene Identität und die eigene historische Verortung allmählich aufklären. Es muss im selben Augenblick ein Habitus der gleichen Augenhöhe und der Distanz sein, nichts ist schlimmer als eine schleimige Beziehung; der Respekt vor den Anderen erfordert Distanz. Und hier zeigt sich, wem es gegeben ist, wer über die menschliche Substanz, die Sensibilität, die Intelligenz und die Leidenschaft verfügt, und wer sie nicht hat oder diese Qualitäten in anderen Feldern auszudrücken vermag. Romano war ein solcher Mensch, und hier war er unnachahmlich.

Auf diese Weise konnte er sehen, was andere nicht sehen konnten. Er sah die Bedeutung von Sachverhalten in Zusammenhängen, wie sie andere nicht wahrnahmen oder unterschätzten. Beispielhaft dafür ist seine Analyse der »Passivität der Arbeiterklasse«. Für die traditionalistischen Dummköpfe existierten die Arbeiter nur dann, wenn sie kämpften. Die langen Perioden der Passivität der Arbeiterklasse in ihrer positiven oder noch besser in ihrer ambivalenten Bedeutung zu lesen, war ein großer Schritt vorwärts, um auch bestimmte historische Zeitabschnitte besser zu erforschen – man denke nur an das Problem des Konsenses während des Faschismus. So hat uns Romano gelehrt, die Nuancen, Facetten und die enormen Differenzierungen innerhalb des Körpers der Arbeiterklasse wahrzunehmen. Daraus entstand das Konzept der Klassenzusammensetzung, das sich dann als außerordentlich nützlich erwiesen hat, um nicht in jene sinnlosen Verallgemeinerungen zu verfallen, die nachgerade die Negation sowohl der Untersuchung als auch der Initiative darstellen. Der industrielle Konflikt startet in der Tat immer in einer spezifischen Situation. Um von den allgemeinen Ausbeutungsbedingungen (Löhne, Arbeitstempo, Arbeitszeit, Umwelt, Gefahr), die sozusagen die konstante Grundlage des Konflikts darstellen, zur Sache zu kommen, braucht es etwas Spezifisches, Exemplarisches.

Zwei Aspekte möchte ich noch hinzufügen. Romano hat uns durch die Tätigkeit der Mit-Untersuchung nicht nur gelehrt, die Rolle des »Forschers« zu vermeiden, er hat uns nicht nur gelehrt, eine formal-professionelle Rolle beiseite zu schieben, um weitaus höhere und langfristige Ziele zu erreichen. Er hat uns auch gelehrt, das Konzept der »Führung« durch das Konzept des »Dienens« zu ersetzen. Er hat nie daran gedacht, »Führer« der Arbeiterklasse zu sein, noch solche auszubilden, und dadurch hat er die Nabelschnur zur kommunistischen Kultur und Tradition zerrissen. Er hatte im Kopf jedoch klar, dass es Leute gibt, die in der Lage sind, »zu ziehen«, die klarere Gedanken haben als die anderen, die weiter voraus blicken, während das andere nicht tun. Es war ihm keinen Pfifferling wert, »für alle zu schreiben«. Er hatte eine ganz und gar eigene Sprache entwickelt, einen unnachahmlichen Schreibstil. Gut für den, der ihn nachvollziehen konnte, Pech für den, der ihn abstrus fand. Offenkundiges Merkmal eines »schwierigen Charakters«, wie man das so nennt. Aber gerade deshalb war er für die, die ihn gekannt haben, nicht nur ein gesuchter Lehrer, sondern sie mochten ihn auch.

Der italienische Originaltext wurde zuerst auf der Website der Libera Università di Milano e del suo Hinterland" (LUMHI) veröffentlicht.


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