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Die Bewegung gegen die Rentenreform ist auch eine Bewegung gegen die Prekarität und die Verarmung.Échanges 134, Herbst 2010[leicht gekürzte Übersetzung] In Frankreich gibt es eine Art Demonstrationskult oder -routine, die weniger Ausdruck direkter Klassenaktion und viel eher eine Handlung ist, um politischen Druck auszuüben. Es ist eine Waffe in den Händen der Gewerkschaften, denn sie sind praktisch die einzigen, die bedeutende frankreichweite Aufmärsche organisieren können. Regierung und Gewerkschaftsverbände streiten dann über die Zahl der Demonstranten, weil sie als Thermometer für die soziale Spannung angesehen wird und den Gewerkschaftsführern mehr Gewicht in ihrem Dialog mit der Macht gibt. Wir sollten uns über die Zahlen keine Illusionen machen. Ein »Aktionstag« bedeutet nicht unbedingt Streik, er lässt aber den betrieblichen Gewerkschaftssektionen freie Hand bei der Organisation des Protests auf ihrer Ebene. Hieran beteiligen sich normalerweise doppelt so viele Leute, was aber nicht zwangsläufig mit der aktiven Teilnahme von Lohnabhängigen gleichgesetzt werden kann. Bekanntermaßen können die Gewerkschaftsverbände, wenn sie damit politischen Druck ausüben wollen, alle die auf die Straße bringen, die in den Betrieben das Recht auf bezahlte »nicht produktive Zeit« haben (einschließlich »Vertreter« von außerhalb des Betriebs); in einer Fabrik mit beispielsweise 1000 Beschäftigten kommen so ca. 40 »gewerkschaftliche Vertreter« zusammen. Wenn dann noch ein paar Anhänger mitgehen, die aufgrund von Schichtarbeit oder mit Freischichten aufgrund des Gesetzes über die 35-Stunden-Woche ohne Lohnverlust demonstrieren gehen können, sind wir an dem Punkt, wo Verleumder von »RTT-Streiks« [Freischicht-Streiks aufgrund der Arbeitszeitverkürzung] sprechen. Die Demonstration ist ein rein politischer Streik-Ersatz ohne soziale Bekräftigung durch den Klassenkampf. Sie muss jedoch unter einem anderen Aspekt betrachtet werden: diese Umzüge sind für die Gewerkschaftsverbände ein Mittel, um eine Bewegung zu kanalisieren und eventuell auszuzehren durch die Wiederholung, was erst zu Desinteresse ihr gegenüber und dann zu ihrem Tod führt. Sie können aber auch genau die umgekehrte Wirkung haben: eine größere Beteiligung als vor(her)gesehen kann Aufschluss geben über eine tiefere und breitere Strömung, die über die von den Gewerkschaftsverbänden aufgestellten Forderungen hinausgeht. Genau das geschah bei jeder Demonstration zwischen dem 23. März und dem 6. November –obwohl jede angeblich nur gegen die Rentenreform sein sollte. Jedesmal nahmen mehr Leute als bei der Demo zuvor teil, die Aufmärsche fanden gleichzeitig in vielen Städten statt, und es beteiligten sich manchmal mehr Leute, als es Lohnabhängige in den jeweiligen Ballungszentren gibt. Das zeigt, dass der Protest gegen die Rentenreform eine weitreichende Bewegung des gesellschaftlichen Unbehagens zum Vorschein gebracht hat, die aufgrund der unterschiedlichen Partikularinteressen (Grundschullehrer, KrankenhausarbeiterInnen, EisenbahnerInnen...) keinen anderen Ausdruck fand. Im übrigen trug auch der einheitliche Demonstrationsaufruf der Gewerkschaftsverbände der Breite dieser nicht sichtbaren Strömung von umfassendem gesellschaftlichen Unbehagen Rechnung. Ihre Ratlosigkeit, in welchem zeitlichen Abstand sie zu Demos aufrufen sollten, zeigte gut, dass sie fürchteten, einer Bewegung von großer Breite gegenüber zu stehen, die ihrer Kontrolle entgleiten könnte. Gewerkschaftsführer haben explizit diese Befürchtung geäußert. Sie lassen so durchscheinen, dass sie keineswegs die Absicht haben, eine Aktion großer Tragweite zu puschen, weil sie wissen, dass die Reform schlussendlich durchgeht und dass ihr politisches Spiel mit der Macht ihnen höchstens erlauben wird, einige Detailausgestaltungen zu fordern. Objektiv oder nicht, sie erfüllen aktuell genau die Funktion der Gewerkschaft: effizient das umzusetzen, was das Kapital braucht, um die Probleme zu lösen, die seinen Fortbestand bedrohen, und im Fall der Fälle Wachhunde des Systems zu sein. Manchmal folgten nationale Streik- und Demonstrationstage mit jeweils ein paar Tagen Abstand aufeinander. Aber diese Wiederholung hatte nicht die erwartete Wirkung, im Gegenteil: die Entschlossenheit an der Basis, den Kampf nicht aufzugeben, zwang die Gewerkschaftsverbände praktisch dazu, einerseits ihre Einheit aufrechtzuerhalten, andererseits ein Minimum an Kampf zu organisieren und ihn dabei auf die Renten zu beschränken. Aber gleichzeitig haben sich viele unterschiedliche Initiativen entwickelt, die von der Gewerkschaftsbasis, von Einzelnen, oder auch von verschiedenen Kollektiven, sogar von Gewerkschaften ausgingen, die gegen die reformistische Politik ihres Verbandes opponierten. Ein Journalist von Libération schrieb, man habe »auf der einen Seite die Regierung, die Gewerkschaftsführungen und die Regierungsparteien bereit zum Kompromiss, um aus der Bewegung rauszukommen, auf der anderen Seite einen Teil der Basis, die OberschülerInnen, einige wütende Berufsgruppen, bestimmte Organisationen der CGT, verstreute, aber sehr rührige AktivistInnen.« Diese Initiativen bestanden in zwei Dingen: Streiks, die sich auf eine lange Dauer einrichten, und die lokale Beteiligung an punktuellen Aktionen oder Unterstützung von Streikposten. Die Streiks lassen sich auf klar definierte Branchen begrenzen: Bei den Hafenarbeitern, den Müllarbeitern und anderen städtischen ArbeiterInnen von Marseille, in den Ölraffinerien und bei der Blockade von Mineralöldepots war der Streik umfassend. Im Transportsektor (SNCF und öffentlicher Nahverkehr) wurde zwar zu verlängerbaren Streiks aufgerufen, aber sie waren nicht stark genug, um diese Branchen über längere Zeit zu stören. Wenn man die Gesamheit der Konflikte betrachtet, so blieben sie in den Händen der Gewerkschaftszentralen; dass sie zu genau festgelegten Zeitpunkten losgetreten und wieder angehalten werden konnten, zeigt, dass hinter ihrer radikalen Oberfläche eine genau ausgearbeitete und gut kontrollierte Strategie stand. Um so mehr, als trotz des Stillstands von zwölf Raffinerien und der Blockade der zwei größten Importterminals für Rohöl (Fos und Le Havre) zahlreiche zweitrangige Depots (Bordeaux, Rouen1, Sète...) benutzt wurden, um vom Dreieck Anvers-Rotterdam-Amsterdam aus Frankreich zu versorgen (insbesondere die großen Speditionen, die gemeinsam Tankschiffe gemietet hatten), wie die Wochenzeitung Le Marin am 29. Oktober (also nach der Wiederaufnahme der Arbeit) schrieb. Die Raffinerie-Industriellen gingen so weit zu sagen, dass »das Land gelernt hat, ohne seine Raffinerien auszukommen«. Hat vielleicht die CGT den Kampf in den Raffinerien auf einige große Betriebe polarisiert, um kampfwillige AktivistInnen anzuziehen, die die Streikposten und Blockade verstärkten, während in den zweitrangigen Häfen die Endprodukte in Strömen flossen, ohne dass darüber geredet wurde und vor allem ohne dass irgendeine Aktion dagegen stattfand? Es gab keinen einzigen Aufruf der Gewerkschaft, die Blockaden auf ganz Frankreich auszudehnen (das ist normal), aber auch von der »kämpferischen Basis«, die sich mitziehen ließ, ist nichts gekommen –das kennzeichnet die Unerfahrenheit und Schwäche der gesamten Bewegung. Die Raffinerien und Depots wären zumindest ein Ankerpunkt für die Radikalität gewesen, um den man sich zwischen den Demos hätte kümmern können. Wo doch die Blockade der Erdölbranche als einzige in der Lage schien, die Versorgung in einigen Teilen des Landes und im Gegenzug die gesamte ökonomische Aktivität zu stören (viele Industrielle, schrieb dieselbe Zeitung, seien trotzdem »bestraft« worden). Die Regierung reagierte mit der gewaltsamen Auflösung der Streikposten und benutzte juristische Mittel, um zumindest eine Freigabe der Verteilung zu erzwingen. Das hat aktive Solidarität ausgelöst: und nach den Angriffen der Polizei wurden die Blockaden auf das Straßennetz verlagert. Aber im Allgemeinen wurden sie nicht ausreichend und dauerhaft unterstützt, um wirksam zu sein. Sowohl von Seiten der Polizei wie von der Seite der »Blockierer« hat sich alles meist in einer Art »Modus vivendi« abgespielt… obwohl Kampf in der Luft lag, haben sich diese friedlichen Beziehungen und die gewerkschaftlichen Manipulationen nicht in einen Klassenkrieg verlängert. Während die Bewegung seit Tagen ihre immerwährenden Demonstrationen abspulte, hat sich gleichermaßen in ganz Frankreich eine Streikbewegung an Sekundarschulen und teilweise an Universitäten entwickelt. Dort trafen die zusammen, die man seit Monaten hatte auftauchen sehen: immer mehr immer jüngereLeute hatten sich der Bewegung angeschlossen. An der Streikbewegung an Gymnasien und Unis beteiligten sich die Jugendlichen aus den Vororten (weniger die jungen ArbeiterInnen), und es kam zu härtesten Zusammenstößen mit der Polizei. Sie verschmolz gewissermaßen mit den Blockaden, sowohl mit denen, die mit Streiks verbunden waren, insbesondere in den Ölraffinerien, als auch mit denen der gewerkschaftlichen Aktionstage. Insgesamt war die Bewegung, die formell gegen die Rentenreform gerichtet war, eher ein direkter Ausdruck des Protests gegen die Regierung als gegen das kapitalistische Systeme in seiner derzeitigen Krise, aber eine Charakterisierung dieser Bewegung bleibt schwierig in ihrer Mischung aus starker Entschlossenheit und großer Konfusion. Während einige eine »Blockade der Wirtschaft« forderten, lief diese kapitalistische Wirtschaft ohne allzu große Schwierigkeiten weiter. Außer in der Stadt Marseille und der Erdölbranche war kein Schlüsselsektor im Streik, oder nur sehr begrenzt. Wie es weitergehen kann, ist in mehrerer Hinsicht offen: bezüglich der SchülerInnen und Studierenden, der Verabschiedung der Reform (bestimmte Gewerkschaftsverbände werden sicherlich aus der Intersyndicale rausgehen) und einer möglichen Verschmelzung unterschiedlicher Strömungen des Kampfes zu einer breiten sozialen Protestbewegung, die der gewerkschaftlich-politischen Kontrolle entgleitet. Sicher ist, dass die »Ränder« des Kampfes, wie entschlossen auch immer sie auftreten, alleine auf sich gestellt – das heißt ohne mächtige Bewegung der Lohnabhängigen – all die Kräfte sozialer Kontrolle nicht werden überholen können, um die Veränderung der Gesellschaft, von der sie träumen, zu erkämpfen. J.H. und H.S. 1 In der Nähe des Depots Rubis in Rouen luden Frachtkähne auf der Seine Benzin, das von Tanklastwagen aus den umliegenden Ländern herbeigebracht worden war. Solche Tanklaster haben auch Tankstellen beliefert. Lastkähne wurden auf der Seine breit genutzt, um an einem bestimmten Punkt eine Schar von Tanklastern zu beliefern, die dort warteten. |
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