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Raúl Zibechi: La rebelión obrera de Jirau

Die Rebellion der Arbeiter von Jirau

Es ist mehr als 20 Jahre her, dass Brasilien eine solche Explosion von Arbeiterkämpfen erlebt hat, wie man sie im März 2011 im Umfeld der Riesenbaustellen des PAC (Programa de Aceleracion del Crecimiente, Programm für Wachstumsbeschleunigung) beobachten konnte. PAC ist das ambitionierteste Infrastrukturmodernisierungsvorhaben, was es seit der Militärdiktatur (1964-1985) gab. Mehr als 80.000 Bauarbeiter traten in den Streik, nachdem es zuvor auf der Baustelle des Energiewerks in Jirau, am Fluss Madera im Staate Rondonia, mitten im Urwald nahe der Grenze zu Bolivien, zu einem Aufstand gekommen war.

Am Nachmittag des 15. März setzte ein Teil der 20.000 Arbeiter die Einrichtungen des brasilianischen Multi Camargo Correa in Flammen, verbrannten nach unterschiedlichen Quellen zwischen 45 und 80 Busse sowie die Unterkünfte der Chefs und Ingenieure, ihre Büros und Geldautomaten. »La revuelta de los peones«, der Aufstand der Tagelöhner, wie er überall genannt wird, war die richtige Antwort auf die beschissenen Arbeitsbedingungen und die Überausbeutung, denen diese Arbeiter dort ausgesetzt sind. Sie kommen aus den ärmsten Winkeln des Landes, vor allem aus dem Norden und Nordosten, oftmals von Subunternehmern betrogen, die ihnen das Blaue vom Himmel versprochen haben.

In Porto Velho, der Hauptstadt von Rondonia, angekommen, sind sie bereits verschuldet. Sie werden zu überfüllten Baracken in der Nähe der Baustellen gebracht, wo sie oft auf Matratzen auf dem Boden schlafen müssen. Da die Bauherren die Projektfertigstellung in Rekordzeit versprochen haben, arbeiten sie unter großem Druck. Sie verdienen kaum 1000 Reales (ca. 600 Dollar) im Monat, müssen ihre Lebensmittel und Medikamente in den konzerneigenen Geschäften zu horrenden Preisen kaufen und verlieren jede Menge Zeit beim Schlange-stehen fürs Essen sowie beim Transport zwischen Baustelle und Schlafplatz. Und sie leiden unter der Übermacht und den Schlägen der Chefs und des Wachpersonals in der Isoliertheit des amazonischen Urwaldes.

Deshalb sagen die Kollektive, die ihre Kämpfe begleiten, dass es sich eher um einen Aufstand für ihre Würde als um einen Lohnkampf handelte. Die Firmen behandeln sie mit der gleichen Verachtung, die sie schon während der Militärdiktatur an den Tag gelegt haben, als einige von ihnen ihre ersten Schritte im Geschäft der Großbaustellen im Amazonas unternahmen. Aber diesmal sind sie an eine neue Generation von Arbeitern geraten, die eine größere Autonomie, größeres Selbstbewusstsein und eine bessere Bildung als ihre Eltern besitzt. Sie sind nicht bereit, die Brutalität der brasilianischen Multis zu ertragen, die Tausende von Millionen verdienen und im fortgeschrittenen Prozess der Kapitalakkumulation Umwelt- und Arbeitsgesetze verletzen.

Tage nach dem Aufstand auf der Baustelle in Jirau, begann ein Streik von 17.000 Arbeitern im 150 Kilometer entfernten, nahe Porto Velho gelegenen, San Antonio, der zweiten Großbaustelle am Fluss von Madera, die von einem Konsortium unter der Leitung von Odebrecht1 errichtet wird. Des weiteren schlossen sich die 20.000 Arbeiter der Raffinerie 'Abreu e Lima' in Pernambuco, weitere 14.000 der petrochemischen Anlage Suape in der gleichen Stadt, und 5000 in Pecém im Bundesstaat Ceará, alles PAC-Baustellen, dem Streik an. Insgesamt legten 80.000 Arbeiter die Widersprüche offen, die dieses ambitionierte Projekt, Brasilien in eine globale Macht zu verwandeln, beinhaltet.

Auf den großen Baustellen des PAC liegt die Anzahl der tödlichen Arbeitsunfälle über dem weltweiten Durchschnitt, obwohl die Baustellen von multinationalen Firmen geleitet werden. Auf den zivilen Baustellen in Brasilien gibt es durchschnittlich 23,8 Unfalltote pro 100.000 Beschäftigte, auf den Baustellen des PAC sind es 19,7. In den USA sind es 10 pro 100.000, in Spanien 10,6 und in Kanada 8,7. Dieser Wert für die Baustellen der PAC ist sehr hoch angesichts der Tatsache, dass die großen Bauunternehmen genügend Technologie besitzen, um ihre Arbeiter zu schützen. Auf den Baustellen von Jirau und San Antonio wurde von verbreiteten Epidemien aufgrund des Klimas und den aufreibenden Arbeitstagen berichtet.

Die Antwort der Regierung von Dilma Rousseff bestand darin, 600 Militärpolizisten zu schicken und die Unternehmen zu drängen, über bessere Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Wie alle anderen Schwellenländer ist Brasilien gezwungen, die Stromproduktion zu erhöhen. Das Elektrizitätswerk von Jirau soll 3350 MW und das von San Antonio 3150 MW produzieren. Damit soll die Ausnutzung der Flüsse des Amazonas um 65 Prozent gesteigert werden. Der nationale Energieplan sieht vor, die Energie aus Wasserkraft auf 126.000 MW zu erhöhen. Dies setzt angesichts der 75.500 MW, die aus den derzeitigen Staudämmen gewonnen werden, eine Verdopplung des Hydroenergie-Potenzials aus den Flusstälern des Amazonas und des Tocantins voraus.

Es ist unmöglich dieses Ziel zu erreichen, ohne ein soziales Erdbeben zwischen den Bauarbeitern und den Bevölkerungsgruppen des Amazonas zu provozieren. Seit die Bauarbeiten vor zwei Jahren begannen, wuchs die Bevölkerung in Porto Vehlo um 12 Prozent, die Malaria um 63 Prozent, die Tötungsdelikte stiegen um 44 Prozent und der Missbrauch von Minderjährigen erhöhte sich um 76 Prozent (bedingt durch die Verbreitung der Prostitution, laut Pastoral del Migrante de Rondonia2). Im September 2009 befreite das Ministerium für Arbeit 38 Personen, die in Sklavenverhältnissen arbeiteten, und im Juni 2010 wurden 330 Straftaten auf der Baustelle von Jirau registriert.

Die Unternehmer und die Gewerkschaften stimmten darin überein, dass es keine Anführer gibt; dass da niemand ist, mit dem man verhandeln kann. Die großen Gewerkschaften, CUT (Central Única dos Trabalhadores)3 und Força Sindical4, haben Probleme, so viele Arbeiter, die auf den Großbaustellen zusammenkommen, zu disziplinieren. Auch 20 Tage nach der Revolte herrscht auf der Baustelle von Jirau noch Stillstand und die Zerstörungen sind noch lange nicht beseitigt. Auf den anderen Baustellen haben die Unternehmen kleineren Lohnerhöhungen und einigen Verbesserungen bei der Lebensmittelversorgung zugestimmt, obwohl die Bewegungen, die die Arbeiter unterstützen (Landlose, Betroffene des Staudammprojektes, indígenas) erklären, dass die Auseinandersetzung erst am Anfang steht.

Tatsächlich fehlen noch die großen Baustellen für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympiade 2016, ebenso wie das Riesenelektrizitätswerk von Belo Monte, auch in der Amazonasregion gelegen, um nur die wichtigsten zu nennen. Auch wenn der Aufstand der Arbeiter von Jirau nicht der erste ist – im vergangenen Jahr gab es bereits einen, weniger heftigen in San Antonio – so ist er doch bisher der gewaltigste und der mit der größten Wirkung in der jungen Klasse der Bauarbeiter. Von ganz unten schickt eine junge Generation von Arbeitern eine gewaltige Botschaft in die Welt: es wird nicht gelingen, die (Regional-) Macht Brasilien auf dem Rücken der Unterdrückten zu errichten.

Anmerkungen der Übersetzer_innen:

[1] Die Odebrecht S.A. ist ein familiengeführtes Bau- und Chemiekonglomerat mit Hauptsitz in Salvador da Bahia, Brasilien.(nach wikipedia)

[2] Sektion der katholischen Kirche, die mit migrantischen Arbeiter_innen arbeitet.

[3] Gewerkschaft im Umfeld der PT und MST, Lula-treue, Pro-Linksregierung.

[4] konservative Gewerkschaft

Übersetzung: Klaus Opheim

Originaltext: Raúl Zibechi, La Jornada, 11-04-2011

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