gekürzter Vorabruck aus der Wildcat 99, Winter 2016
In der Wildcat 98 haben wir beschrieben, wie sich seit 2005 eine Weltarbeiterklasse herausbildet – in selbstständigen Kämpfen, die sich in der Krise zu einer weltweiten Streikwelle verdichtet haben. Die Tatsache dieser weltweiten Kampfwelle wird inzwischen breit zur Kenntnis genommen; nur eins von vielen Beispielen: Pluto Press hat eine Reihe »Wildcat: Workers' Movements and Global Capitalism« gestartet. Das sind sehr gute Nachrichten - deutlich wird aber auch die akademische Begrenztheit: Die These von Immanuel Ness, dem Autor von »Southern Insurgency« ist einfach: Die »Arbeiterbewegung« in Europa und Nordamerika sei besiegt, neue progressive Kämpfe nicht wahrscheinlich. Die Linke müsse also die Kämpfe der ArbeiterInnen im globalen Süden unterstützen. In den zwei zentralen Punkten praktische Perspektive (Was können wir hier tun?) und Interpretation der Fakten (Entstehung einer Weltarbeiterklasse) unterscheiden wir uns also deutlich. Genau diese Debatte gilt es nun zu führen!
Die Zahl der Streiks weltweit ist im letzten Jahr zumindest nicht weniger geworden und hat sich tendenziell noch einmal ausgeweitet, weil große und durchaus besondere Streiks dazu gekommen sind (Petrobras, Autoindustrie Türkei, Iran, die Welle von Streiks in Schuhfabriken in China und Vietnam 2014/2015). Aber insgesamt ist die Situation durch defensive Kämpfe geprägt: gegen Verschlechterungen, Entlassungen, um ausstehende Löhne… Die zentrale Frage ist nun, ob oder wie weit sich die Bewegungen der ArbeiterInnen unabhängig vom kapitalistischen Zyklus machen können. Denn wenn es im Boom zu Kämpfen kommt, diese in der Krise aber wieder verschwinden, bliebe die Klasse an die (nationale) Wirtschaftsentwicklung gebunden und Ness behielte zunächst recht.
Im Rohstoffsektor haben in den letzten Jahren viele offensive Streiks stattgefunden (von den südafrikanischen Bergwerken über die brasilianischen Ölplattformen bis zu den kasachischen Ölfeldern). Dies vor dem Hintergrund eines »Rohstoff-Superzyklus«: seit der Jahrhundertwende waren die Preise für Rohstoffe/Agrargüter um bis zu 350 Prozent gestiegen. Im Zuge der globalen Stagnation verfallen nun die Rohstoffpreise (Kupfer, Platin, Erdöl...). In der Öl- und Gasbranche wurden dieses Jahr weltweit mehr als 250 000 Arbeiter entlassen, ein Drittel davon in den USA. Transnationale Bergbau- und Rohstoffunternehmen sind im Panikmodus. AngloAmerican kündigte nach Milliardenverlusten im ersten Halbjahr 2015 die Verkleinerung des Unternehmens von 135 000 auf 50 000 Beschäftigte an. In Lateinamerika ist das »extraktive Entwicklungsmodell«, mit dem die Linksregierungen ihren »Weg zum Sozialismus« finanzieren wollten, an seine Grenzen gestoßen. Die Auswirkungen auf Regierungsebene sind deutlich: In Argentinien und Venezuela hat die Rechte die Wahlen gewonnen. Davon unbeeindruckt gehen die Kämpfe in »Rohstoffländern« wie Bolivien, Südafrika, Brasilien erstmal weiter. Die Staaten und die Unternehmer tun sich schwer, Sparmaßnahmen gegen die Leute durchzusetzen.
Mit einer massiven Infrastrukturblase (vor allem in China) hat das Kapital den letzten Kriseneinbruch abgemildert (Stahl- und Betonproduktion, Bau von Straßen, Städten, Flughäfen…). Den Ablauf der Bauarbeiterstreiks in Brasilien 2012-2014 kann man nun ausführlich im Artikel von Jörg Nowak in SozialGeschichte.online nachlesen.
Zu China haben wir drei Artikel im neuen Heft. Hier stecken Schwerindustrie, Bergbau und die gesamte Baubranche massiv in der Krise. Die Rohstoffimporte sind seit 13 Monaten in Folge niedriger als im Vorjahr. Inzwischen werden auch die »Hoffnungsindustrien« wie die Automatisierungstechnik massiv zurückgefahren. Trotzdem hat sich die Anzahl der Kämpfe noch ausgeweitet. Allerdings müssen sich auch hier viele mit ausstehenden Löhnen, Abbau von Arbeitsplätzen oder dem Durchsetzen von Abfindungen auseinandersetzen. Trotzdem treiben sie das Kapital weiter voran: In Myanmar, einem der neuen Produktionsstandorte, auf denen die Hoffnungen des Kapitals ruhen, wurde nach Streiks ein Mindestlohn eingeführt; in Vietnam haben die USA im Handelsabkommen TPP die Zulassung freier Gewerkschaften festgeschrieben – in der Hoffnung, so die »Seuche« der wilden Streiks in den Griff zu bekommen…
Die zentrale Achse bei der Konstituierung der Weltarbeiterklasse ist migrantische Arbeit. Nicht nur in China und Indien tragen WanderarbeiterInnen die Hauptlast der kapitalistischen Akkumulation, auch in Europa arbeiten MigrantInnen häufig zu Niedriglöhnen. In Italien stellen sie in der Landwirtschaft und der Logistik 90 Prozent der Arbeitskraft. (dazu einige Artikel im Heft)
Immanuel Ness Southern Insurgency: The Coming of the Global Working Class Wildcat: Workers' Movements and Global Capitalism Pluto Press 2015; 22 Euro
Immanuel Ness hält »die einstmals starke Arbeiterbewegung in Europa und Nordamerika« für besiegt. Es gebe zwar eine Neuzusammensetzung als Dienstleistungs- und Handelsarbeitskraft, aber neue progressive Kämpfe seien kaum zu erwarten. Zum einen wegen der Arbeitsbedingungen in diesen Sektoren, aber auch aus politisch-ideologischen Gründen, denn trotz aller Angriffe der letzten Jahrzehnte gehe es den ArbeiterInnen in diesen Ländern doch weitaus besser als den Arbeiterklassen im globalen Süden, und sie profitierten direkt von den dort hergestellten billigen Konsumgütern. Im Süden hingegen entwickle sich »der Aufstand«, weil dort in den letzten Jahrzehnten eine neue Industriearbeiterklasse entstanden ist. Noch nie habe es weltweit so viele IndustriearbeiterInnen gegeben – und über 80 Prozent von ihnen würden im »globalen Süden« ausgebeutet. Die massenhaften Kämpfe dieser ArbeiterInnen würden von der westlichen Linken kaum wahrgenommen, die stattdessen über Prekarisierung, affektive Arbeit und unentlohnte Arbeit diskutiert.
Ähnlich der alten Arbeiterbewegung im Westen, aber auch in Lateinamerika, stünden wieder migrantische ArbeiterInnen im Zentrum, wobei die meisten Binnenmigranten seien.
Dann werden in drei Länderstudien (Südafrika, China, Indien) die Kämpfe und Streiks seit 2010 beschrieben. Für Indien ist Ness' Bilanz am nüchternsten: Streiks in Gurgaon hätten die Spaltungen angegriffen – aber die kleinen Arbeiterkomitees seien von der Repression erdrückt worden, die offiziellen Gewerkschaften abseits geblieben. Südafrika: die »Tripartite Alliance« sei zerbrochen, mit der AMCU eine wichtige neue Gewerkschaft entstanden, auch die Metallarbeitergewerkschaft NUMSA habe sich unter dem Druck der Ereignisse nach Marikana wieder radikalisiert. In China sei es seit 2008 zu einem Aufschwung der Kämpfe gekommen, immer wieder setzten Streiks Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen durch. In der Generation der »neuen Arbeiteraktivisten« habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man sich auch ohne (neue) Gewerkschaft und/oder Partei durchsetzen kann.
In der Einleitung sprach Ness davon, dass diese Streiks wichtige Fragen aufwerfen. Viele davon stellt er durch seinen Fokus auf die Rolle von Gewerkschaften allerdings gar nicht: Wie wurden die Streiks organisiert, was sind die Auswirkungen auf die Gesellschaften, in denen sie stattfinden, wie können die Kämpfe zusammenkommen… Ness lässt zwar immer mal wieder als Perspektive die IWW aufblitzen, die One Big Union – diskutiert aber auch das nicht. Letztlich vermittelt Ness bewusst oder unbewusst, dass eine nationale Arbeiterklasse kämpft, und Schritt für Schritt ihre Situation verbessert. Die realen Veränderungen bekommt er nicht in den Blick: neue Formen von Massenarbeit, Prozesse von Reindustrialisierung… Und um seine These von der Industriearbeiterklasse im Süden stark zu machen, übertreibt er einfach: An einer Stelle behauptet er gar, in Europa und Nordamerika würden keine Autos mehr gebaut. Die Abschnitte zu den Streiks hätten genauer sein können, nicht unbedingt kritischer, aber fragender, offener. Stattdessen sind die drei Länderbeispiele in die Zwangsjacke eines recht geschlossenen Theoriegebäudes gepackt worden, und die Frage nach der »globalen Arbeiterklasse« geht am Schluss etwas unter.