stark gekürzter Ausschnitt eines Artikels aus der Wildcat 101, Winter 2018
Wir wohnen und arbeiten im westlichen Randgebiet Londons, dem sogenannten western corridor, zwischen dem Flughafen Heathrow und den zwei Autobahnen M4 und A40. Neben öden Vorstadtstraßen mit überbelegten Reihenhäusern gibt es hier vor allem Logistik- und Industrieparks. Rund um den Flughafen arbeiten 80 000 Leute, in den Industriegebieten Southalls und Greenfords rund 4000 und in Park Royal 35 000. Wo in den 1960ern und 1970ern Helikopter, Autoteile und Doppeldeckerbusse vernietet wurden, werden jetzt in erster Linie Paletten umgeladen, Gemüse verpackt oder Fertigessen am Band zusammengerührt. Über die Hälfte der in der Neun-Millionen Stadt London täglich konsumierten Nahrungsmittel geht durch den western corridor. Rund 90 Prozent der Arbeiter hier sind MigrantInnen erster oder zweiter Generation.
2016 haben rund 339 000 Leute die Insel verlassen; im Vergleich dazu sind 588 000 neu zugezogen. Die Gesamtmobilität ist deutlich höher, als was die Nettozuwanderung suggeriert. Bei einer Umfrage von 2015 antworteten 40 Prozent aller befragten MigrantInnen, dass sie nur ein bis zwei Jahre in Großbritannien bleiben wollen. Laut Statistiken der Sozialversicherungsbehörde sind im Zeitraum 2010 bis 2014 rund ein Drittel aller EU-MigrantInnen weniger als ein Jahr in Großbritannien geblieben.
Als kleines Kollektiv von fünf, sechs Leuten mit einem Dutzend an unterstützenden FreundInnen sind wir als lokale Zelle auf vier Ebenen aktiv:
Ein Großteil der KollegInnen lebt in der Nähe des Arbeitsplatzes in unfreiwilligen Wohngemeinschaften, oft mehr als eine Person pro Zimmer. Eine Einzimmerwohnung gibt es kaum unter 900 Pfund, ein Doppelzimmer in einer geteilten Wohnung kostet um die 600 – bei einem Mindestlohn von rund 1200 Pfund im Monat.
Das Brexit-Referendum hat großen Einfluss auf die Situation der ArbeitsmigrantInnen. Unsere polnische Nachbarin berichtet von vermehrten Drangsalierungen und Sprüchen. Rumänische KollegInnen fragen sich, wann sie zurückmüssen. Die Ausländerpolizei macht laufend Razzien in den Fabriken… Anscheinend denkt zurzeit jeder Vermieter, Boss oder Behördenfuzzi, migrantische ProletarierInnen seien Freiwild, das man abzocken kann, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Eine polnische Familie wurde von ihrem Vermieter mit »Abschiebung« bedroht, nachdem sie durch Kürzung ihres Wohngelds in Mietverzug geraten waren. Eine punjabische Kollegin wurde von einem Visa-Agenten, der ihr eine kurze Computerausbildung und ein Arbeitsvisum mit Jobgarantie versprach, um 10 000 Pfund geprellt. Ein Küchenarbeiter aus dem Senegal wurde trotz Nachweisen seines Arztes wegen unerlaubter Abwesenheit gefeuert. Einem Bararbeiter aus Ungarn und einem Bauarbeiter aus Kamerun wurde ihr Lohn nicht bezahlt. Das sind einige von Dutzenden von Fällen.
In dieser Situation ist das Soli-Netzwerk unser Finger am Puls. Sobald wir unsere Plakate in der Gegend aufhängen, rufen uns Leute an. Meistens reicht ein wenig Druck aus, um die Bosse zum Einlenken zu bewegen. Wichtiger ist uns aber, dass wir mit den ArbeiterInnen in Kontakt bleiben und durch sie neue Leute kennenlernen. Den Sohn eines sudanesischen Kollegen, dem wir bei einem unfairen Bußgeldbescheid geholfen hatten, trafen wir dann in einem der zentralen Warenlager der Gegend, in dem wir Kontakte suchten. Wir hoffen, dass mit der Zeit ein sichtbares Netzwerk von (migrantischen) ArbeiterInnen entsteht, das es mit den Bossen aufnehmen kann.
Dabei müssen wir uns auch mit anderen – religiösen oder nationalen – Netzwerken auseinandersetzen. In proletarischen Vierteln wie Southall spielen Moscheen oder Tempel eine wichtige Rolle in der alltäglichen materiellen und ideologischen Reproduktion der lokalen Klasse, und das über ihre unmittelbare Klientel hinaus. Viele arbeitslos gewordene osteuropäische ArbeiterInnen gehen zum Beispiel zu Sikh-Tempeln, um dort Essen zu bekommen. Nach dem Grenfell-Feuerunglück war Muslim Aid die erste karitative Organisation, die Opfer unterstützte, während der Staat sich tagelang nicht blicken ließ. Diese community organisations spielen eine zwiespältige Rolle, die bearded broz (bärtige Brüder), eine Organisation aufstrebender muslimischer Männer, organisierten z.B. während des MüllarbeiterInnenstreiks in Birmingham im Herbst 2017 ihre eigene lokale Müllabfuhr. Mit dem Argument, der Streik würde die ärmeren (pakistanischen) Viertel am härtesten treffen, unterliefen sie praktisch – wenn auch nur in kleinem Ausmaß – eine der wichtigsten Auseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst.
Bakkavor ist ein multinationaler Konzern der Nahrungsmittelbranche, dessen Besitzer tief in die isländische Finanzblase eingebunden waren. In Großbritannien liefert Bakkavor Fertigessen an die großen Supermarktketten. In unserer Gegend betreibt die Firma vier Großfabriken und ein Warenlager mit insgesamt rund 4000 ArbeiterInnen. Im Winter 2017 gab es in Südengland eine in den Medien beklagte Humus-Krise, als Bakkavor die Kichererbsenverarbeitung in einer der West-Londoner Fabriken wegen »technischen Versagens« für zwei Tage einstellen und ihre Produkte zurückrufen musste. Die meisten Festangestellten in den Fabriken sind Frauen aus Gujarat oder anderen südasiatischen Regionen, viele von ihnen arbeiten schon 10 oder 20 Jahre für Bakkavor. Unteres und mittleres Management speist sich aus vornehmlich männlichen Angestellten derselben Regionen. Die Englischkenntnisse der Frauen sind meist rudimentär. Überstunden sind gerade unter den Männern gefragt, u.a. auch wegen der jährlichen Einkommensgrenze für Familienzuzug. Rund 30 Prozent der Gesamtproduktion hängt von Überstunden ab. Zudem werden ZeitarbeiterInnen beschäftigt, die vor allem aus Osteuropa kommen. Mangelnde Sprachkenntnisse werden oft sowohl von indischen als auch von osteuropäischen KollegInnen als Unfreundlichkeit empfunden, was durch den enormen Arbeitsdruck und Mobbing durch Vorgesetzte verschärft wird.
Nach einigen Demonstrationen wurde die GMB-Gewerkschaft Ende der 1990er vom Unternehmen in allen West-Londoner Fabriken anerkannt. In einem »Frauenbetrieb« sind die meisten Gewerkschaftsvertreter männlich und Teil des unteren Managements. Die meisten ArbeiterInnen halten die GMB für korrupt, zahlen aber Mitgliedsbeiträge. Vor dem Brexit-Referendum brachten GMB und Bakkavor-Management ein gemeinsames Flugblatt heraus, in dem sie ArbeiterInnen dazu aufriefen, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Der freie Zugang zu den EU-Märkten und der freie Zuzug von Arbeitskräften seien aus unternehmerischer Perspektive überlebenswichtig. Die meisten ArbeiterInnen mit britischer Staatsbürgerschaft werden indischen Migrationshintergrund haben, sie erleben den »freien Zuzug« von Arbeitskräften in erster Linie in der Form von LeiharbeiterInnen. Kurz nach dem Referendum verlor Bakkavor den Kartoffelpüreevertrag mit Tesco, die GMB stimmte Entlassungen und verlängerten Schichten zu, gleichzeitig stieg die Anzahl an LeiharbeiterInnen trotz (bzw. wegen) der Entlassungen an.
Wie alle Gewerkschaften rief GMB ihre Mitglieder per Briefpost dazu auf, für Labour zu stimmen. Ende 2016 verteilten GMB-Organizer Flugblätter unter Bakkavor-ArbeiterInnen, in denen sie versprachen, sich für die Labour-Forderung nach 10 Pfund Stundenlohn einzusetzen. Kurz danach liefen bei Bakkavor die regulären Lohnverhandlungen an; die ArbeiterInnen erfuhren von der GMB kaum etwas über deren Fortgang. Erst im Juli 2017 stellten GMB und die Bakkavor-Leitung ihr Lohnabkommen in zehn unterschiedlichen Übersetzungen vor und rieten den GMB-Mitgliedern, es durch Abstimmung anzuerkennen. Damit verbunden war die Einführung von neuen und eindeutig sexistischen Lohngruppen. Die Arbeit an den Fließbändern, wo die meisten Frauen arbeiten und u.a. Samosa und andere Teigwaren falten, wird als unqualifiziert eingestuft, die Entladung von Paletten als angelernt, was in der Fabrik eher ein »Männerjob« ist. Den Frauen wurde 15 Pence pro Stunde Lohnerhöhung angeboten, was ihren Lohn nach 20 Jahren Betriebszugehörigkeit und über einem Jahrzehnt in der Gewerkschaft auf 7,65 Pfund pro Stunde anheben würde – der aktuelle Mindestlohn ist 7,50 Pfund. Die angelernten Lohngruppen – quantitativ eine Minderheit – sollten 8,30 Pfund pro Stunde bekommen. Von den LeiharbeiterInnen war keine Rede.
Den unmittelbaren Reaktionen nach zu urteilen waren fast alle ArbeiterInnen unzufrieden mit dem Abkommen. Seit vier Jahren haben wir unsere Zeitung und Flugblätter zu verschiedenen Themen bei Bakkavor verteilt; nun riefen wir zu Treffen und einem Überstundenboykott auf. Damit ernteten wir lediglich verbale Unterstützung. KollegInnen unter den Staplerfahrern und Reinigungskräften (in erster Linie Männer aus dem Sudan oder Sri Lanka, die als ungelernt eingestuft sind) organisierten ihre eigenen informellen Treffen – dachten aber vor allem darüber nach, wie sie ihre Gruppe in der Hierarchie besserstellen könnten. Bei der Abstimmung wurde eine untere Gewerkschaftsvertreterin von oben angehalten, hinter den Namen aller Mitglieder, die gegen das Abkommen stimmten, einen Haken zu machen. Auch haben Gewerkschaftshäuptlinge Frauen ihrer Sprachgruppe erklärt, dass es bei der Abstimmung in erster Linie um den Rückhalt für die GMB ginge und nicht um den Lohn, und haben ihnen die Abstimmung wortwörtlich aus der Hand genommen. Auf schriftliche Klagen über diese »Unregelmäßigkeiten«, eingereicht beim Regionalbüro der GMB, kamen nur ausweichende Antworten. Offiziell hatten dann 62 Prozent der GMB-Mitglieder für das Abkommen gestimmt.
Kurz danach gab es viele individuelle und zum Teil Gruppenbeschwerden von ArbeiterInnen gegen ihre Einstufung. Während das Management versuchte, diese Beschwerden hinter verschlossenen Türen oft ohne Gewerkschaftsvertretung zu entschärfen, reagierte die GMB offensiver. Sie stellte einen neuen Bakkavor-Organizer ab, der Treffen für jede Fabrik einberief. Mick Dooley ist ein bekannter Linker und ehemaliger Bauarbeiter, der auf eine der berüchtigten Schwarzen Listen der Bauindustrie geraten war und nun hauptberuflich für die GMB arbeitet. Zu einem der Treffen kamen rund 60 von insgesamt 600 ArbeiterInnen. Dooley erklärte, dass er selbst das Lohnabkommen beschissen findet und dagegen gestimmt hätte. Er riet den ArbeiterInnen, in Bezug auf Eingruppierungen individuelle Beschwerden zusammen mit ihren gewerkschaftlichen VertreterInnen einzureichen. Individuelle Beschwerden würden durch größere Anzahl im Vergleich zu kollektiven Beschwerden mehr Druck auf die Geschäftsleitung ausüben. Als Vollzeit-Gewerkschafter und jemand, der Schwierigkeiten hat, in der Muttersprache der ArbeiterInnen zu kommunizieren, ist Dooley von »kämpferischen« oder zumindest zuverlässigen Gewerkschaftsvertretern abhängig. Er will keine (chaotischen) Massenversammlungen, sondern Kerne von soliden Gewerkschaftern, die »Einfluss ausüben« können.
Wir müssen stattdessen Sachen ausprobieren und an der Oberfläche kratzen. Als IWW haben wir uns im November vor eine Sandwich-Fabrik gestellt, in der wir nur eine flüchtige Bekanntschaft in der Reinigungsabteilung hatten. Die ArbeiterInnen – vor allem Frauen aus Indien und Litauen – überraschten uns: »Ja, wir wollen es mit dem Unternehmen aufnehmen, sie behandeln uns wie Sklaven, lassen uns bis zu 14 Stunden schuften. Wir haben schon einiges versucht: ein Beschwerdebrief, den 120 ArbeiterInnen aller Nationen und Verträge unterschrieben haben; letzte Woche haben zwei Bänder geschlossen die Arbeit niedergelegt; zu zwanzigst sind wir wegen schlechten Arbeitsklamotten ins Büro vom großen Chef; die Mechaniker haben ihren eigenen Beschwerdebrief geschrieben.«
In unserer Abteilung arbeiten rund ein Dutzend MigrantInnen der ersten oder zweiten Generation. Alle KollegInnen, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus am Referendum teilnehmen durften, wählten für Brexit. Nur einer von denen sagte, er sei gegen die EU, weil »all die Ausländer hierherkommen können, um Sozialhilfe zu ziehen« – sein Vater kam in den 1970ern als Flüchtling indischer Abstammung aus Uganda und seine Freundin ist aus Litauen und arbeitet in der Abteilung nebenan. Alle anderen meinten, ihre Nein-Stimme sei ein »Mittelfinger an die Elite«, denn »Remain means remaining the same«. Die KollegInnen bekamen ihre Bestätigung am Tag nach der Abstimmung, als der Fabrik-Leiter in die Abteilung kam und darüber jammerte, dass die Einfuhr von Teilen aus China jetzt sehr viel teurer würde und der Zugang zum europäischen Markt schwieriger. Der Kollege aus Ungarn, der nach zwölf Jahren Aufenthalt die britische Staatsbürgerschaft bekommen hatte, trug auf Arbeit regelmäßig ein T-Shirt mit der Aufschrift »Love Europe – Leave the EU«. Ihm ging es in erster Linie um die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Kriegsgebieten, die jetzt nach Ungarn kommen und »die nationale Sicherheit gefährden«. Wir machten Witze, dass er ja selbst ein Flüchtling ist, und die KollegInnen aus Algerien und dem Libanon gaben ihm Aufklärungsunterricht aus erster Hand zu »Fluchtursachen«. Unterstützung für seine anti-muslimische Haltung bekam er vom Sohn des Gujarati-Flüchtlings aus Uganda, der zwar über die regelmäßigen Tempelbesuche des anderen indischen Kollegen Witze macht und sich selbst in erster Linie über Black Culture (»this music is whitey-shit«, »the police are racist pigs«) definiert, aber als Sohn von Hindus der unberührbaren Chamar-Kaste mit Islamophobie aufgezogen wurde. Die Beiträge des irischen Kollegen, der gegen die britische Elite für den Brexit gestimmt hat, sich aber Sorgen um die Auswirkungen auf den Friedensprozess in Nordirland macht, gaben nochmal eine andere Perspektive auf die Frage von Nation, Religion und Terrorismus. Am Ende einigten wir uns alle darauf, dass »das System am Ende ist«, wobei »das System« für den Kollegen mit pakistanischem Migrationshintergrund und Corbyn-Enthusiasmus in erster Linie eine zionistische Verschwörung ist, der IS ein Konstrukt zur Repression aller Muslime und der faschistische Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox kurz vor dem Brexit-Referendum eine vom Geheimdienst arrangierte Hinrichtung. Unsere Diskussionen drehten sich wortwörtlich um Gott und die Welt, zum Schluss fanden wir uns alle unter billigem Neonlicht in einer zugigen Fabrikhalle wieder, wo sie uns kaum mehr als den Mindestlohn zahlen, um aus chinesischen Kleinteilen schlechte 3D-Drucker zusammenzubauen, die niemand kaufen will.
Wir organisierten Versammlungen mit insgesamt 40 ArbeiterInnen in einem somalischen community centre und luden kolumbianische Reinigungskräfte aus dem Stadtzentrum ein, die gerade einen Streik gegen ihren Boss gewonnen hatten. Nach langer Zeit lag endlich mal wieder etwas in der Luft. Es ging um Ausbeutung, Drangsalierungen und die Frage, wer hier alles sauber und am Laufen hält. Wir brauchen Willen zur Organisation und den Mut, weiter am Lack des Alltags zu kratzen, anstatt auf die politische Bühne zu schielen.