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19.03.2020

Zuruf aus China:

Kaufte China dem Westen Zeit?

Die Formel, China habe der Welt Zeit gekauft, wird mittlerweile immer stärker von der hiesigen Parteipropaganda verbreitet.

Den Text von Mike Davis finde ich wichtig und größtenteils richtig – aber beim Lesen musste ich bei dieser Stelle schlucken: »Heute in einem Jahr werden wir vielleicht mit Bewunderung auf Chinas Erfolg bei der Eindämmung der Pandemie und mit Schrecken auf das Versagen der USA zurückblicken.«

Warum kann man die Misere in den USA nicht kritisieren, ohne zugleich einen Kniefall vor der gigantomanischen Polizeioperation in China zu machen? Mit dem Lob für »Chinas Erfolg« wird alles in eins geworfen: das Land, die KPCh, Polizei, Bevölkerung und Klasse. Wie kann gerade Mike Davis so etwas schreiben? Niemand muss zwischen »dem Westen« und »China« wählen, auch und erst recht nicht, wenn es um das Coronavirus geht!

Am 13. März erschien in der New York Times der Artikel eines Auslandskorrespondenten in Peking: »China kaufte dem Westen Zeit. Der Westen hat sie verschwendet.« Der Autor will natürlich genauso wie Mike Davis die unzureichenden und falschen Maßnahmen in den USA und Europa kritisieren. Die erste Frage ist dann aber, was sollte »der Westen« tun? Nachdem China vorgelegt hat mit Lockdown und drakonischen Maßnahmen, erscheint alles andere lax und unentschlossen? Ist das Kriterium für Maßnahmen, wie viele Opfer gefordert werden? Muss das Kriterium nicht sein, wie viel Leid durch sie vermieden oder zusätzlich erzeugt wird? Wer ist denn hier das Subjekt?

Die Beispiele, die der NYT-Artikel nennt, sind real und überall in China zuhauf zu sehen: Megaphon im Park mit Warnhinweisen, doppelter (!) Temperaturcheck vor der Ausreise, Bombardierung mit Propaganda … Bei mir in der Straße dudeln allein fünf Plastiklautsprecher von morgens bis abends Hinweise, man solle sich die Hände waschen, selten rausgehen, soziale Kontakte meiden. Aber das ist lächerlich und es hört eh niemand hin. Der Autor schreibt, es sei »nichts Autoritäres daran, am Flughafen die Temperatur zu messen, social distancing durchzusetzen und jedem Covid-19-Betroffenen freie medizinische Versorgung anzubieten.« Fiebermessen an Flughäfen hat bei SARS nur etwa die Hälfte der ansteckenden Reisenden identifiziert, beim Coronavirus dürften es deutlich weniger sein, weil Ansteckungsgefahr auch vor Symptomen auftritt. Aber es geht ja gar nicht ums Fieber messen! (s.u.) Social distancing durchzusetzen ist allerdings autoritär, wenn z.B. Bullen mit dem Vorschlaghammer Mahjong-Tische zertrümmern oder Wohnungstüren von außen zugeschweißt werden. Und die kostenfreie medizinische Versorgung war in Wahrheit nicht so schön, wie es sich auf Papier liest.

Die staatlichen Maßnahmen sollten Angst einjagen. Das Fiebermessen vor meinem Wohnkomplex und am Gemüsemarkt war Teil dieses Horrortheaters. Bei vielen Menschen wird ein vermeintliches, aber nicht vorhandenes Fieber erkannt, sie werden verdächtigt, teils deswegen diskriminiert und vor allem verängstigt. Man hat eh schon vor dem Virus Angst und lebt nun auch noch im Schrecken einer Zwangsisolierung. Schlimm fand ich, wie hilfsbedürftige Kranke zu Gefahrenquellen gemacht wurden. Es gab zahlreiche Formeln, die das auf den Punkt brachten, z.B. »Menschen aus Hubei sind tickende Zeitbomben«, »Wenn Dir dein Leben lieb sind, dann geh nicht unter Menschen«, »Fremde sind verborgene Gefahren«... Die Maßnahmen bauten nirgends auf Kooperation, sie wurden als Polizeioperationen durchgeführt. Patienten und potentiell Erkrankte wurden nur als zu kontrollierende Objekte behandelt: Jemand misst dir Fieber, aber teilt dir nicht das Ergebnis mit, weil es gar nicht darum geht, ob du gesund bist, sondern nur darum, die Auflagen zu erfüllen.

Gleichzeitig werden durch solche Maßnahmen kaum Kranke gefunden (und es wäre ein leichtes Spiel, die Kontrollen auszutricksen). Von einem rationalen Standpunkt aus betrachtet sind sie Hokuspokus, so als würde ich mir Holzklötze als Schutz vor dem Virus an die Stirn binden oder wie Mike Pence zu Gott beten (Holzklötze hätten noch den Vorteil, mich ständig an das Virus zu erinnern und daran, mir nicht mit den Fingern ins Gesicht zu fassen – auf ähnliche Weise wirkt das Tragen von Masken als stete Ermahnung zur Vorsicht).

Die Hinweise auf Maßnahmen, die man von China lernen könnte, sind also ziemlich mau. Was der Autor empfiehlt, ist entweder Quarantäne-Theater, Show oder tatsächlich autoritär. Die Übernahme von Behandlungskosten ist der einzige sinnvolle Hinweis; zudem hätte der Autor die Verschärfung des Kündigungsschutzes und Mieterlässe während der Epidemie aufzählen können!

Nur Maßnahmen, die auf gegenseitigem Vertrauen aufbauen (darauf, dass es ein gemeinsames Interesse an Gesundheit gibt, dass Menschen Leid vermeiden, bei Krankheit medizinische Hilfe suchen etc.), können effektiv sein. Ich bin doch selber an Kooperation bei der Erkennung und Eindämmung der Krankheit interessiert. Wenn ich mich eigenverantwortlich isoliere oder social distancing betreibe (was ich viel leichter finde als gedacht), reduziere ich die Ansteckungsgefahr genauso wie mit Zwangsisolation, kann aber immer noch selber entscheiden, ob ich mal kurz an die frische Luft gehe, meine Medikamente für chronische Erkrankungen von der Apotheke hole oder meiner Oma im Haushalt helfe. All solche unverzichtbaren Kleinigkeiten werden durch die Zwangsmaßnahmen zu teilweise unlösbaren Problemen, wovon die gar nicht so wenigen Selbstmorde in dem Zusammenhang Zeugnis ablegen.

Hier noch ein interessanter Link; ein Interview, in dem es unter anderem um den Gegensatz von staatlichem Lockdown und der Hilfsbereitschaft von Helferinnen und Helfer aus der Bevölkerung geht.

Zeitlicher Hergang

Am 17. November wird der erste Fall bekannt; Ende Dezember gibt es klare Hinweise für Übertragbarkeit, insgesamt sind es wohl 266 Fälle, aber bei der WHO werden nur 27 gemeldet; am 7. Januar gibt Xi Anweisungen zur Virusbekämpfung auf der internen Sitzung des Ständigen Ausschusses des Politbüros; noch am 14. Januar meldet die WHO unter Berufung auf Untersuchungen aus China, dass es keine Beweise für die Übertragbarkeit gäbe; obwohl es möglicherweise schon ca. 500 infizierte Ärzte und Pfleger gibt; am 18. Januar organisiert die Stadtregierung von Wuhan ein Neujahrsessen mit mehreren Zehntausend Teilnehmern – zwei Tage später wird bekannt gemacht, dass es Übertragungen von Mensch zu Mensch gibt; nun ist es erstmals erlaubt, öffentlich darüber zu sprechen. Trotzdem haben vor dem Lockdown von Wuhan ca. fünf Millionen Menschen die Stadt verlassen. Mir geht es weniger um die Diskussion »früher oder später«, und mehr um die Art der Reaktion! Trotzdem: mehrere Studien haben festgestellt, dass 66 Prozent weniger Menschen infiziert worden wären, wenn »China« nur eine Woche früher gehandelt hätte. Und wenn sie die Informationen der Ärzte im Dezember ernst genommen hätten, anstatt diese zu disziplinieren, hätte man das Virus wahrscheinlich auf Wuhan eindämmen können.

Nachdem die KPCh also die Sache kolossal verkackt hat, haben unzählige Freiwillige unter Inkaufnahme möglicher Infektion und Hunderte Millionen Chinesen entweder durch zwangsweise Freiheitsberaubung (verschlossene, verbarrikadierte oder zugeschweißte Wohnungstüren) oder selbst auferlegtes Social distancing bzw. Zuhausebleiben, alles getan, was sie konnten und viel geopfert, um sich selbst und andere vor weiterer Erkrankung zu schützen.

Vor diesem Hintergrund kann man die Frage stellen, ob China oder die KPCh den Menschen in China und im Rest der Welt Zeit gekauft hat. Für mich ist die Antwort klar: Nein, das hat die KPCh nicht. Die arbeitenden, einfachen Menschen in China, die haben sich sehr bemüht, die Ausbreitung zu verlangsamen. Aber auch sie haben nicht »dem Westen Zeit gekauft«. Was in China seit dem 20. Januar geschehen ist, ist nicht geschehen, um »dem Westen« mehr Zeit zu gewähren, sondern als Selbstschutz. Selbstschutz der einfachen Bevölkerung in Eigeninitiative – und Selbstschutz der herrschenden Klasse zur Verteidigung ihrer Privilegien.

Wir sollten nicht von »China« sprechen, sondern müssen klipp und klar zwischen der KPCh und der Bevölkerung unterscheiden. Und dann nochmal zwischen den Lohnabhängigen, Mittelschichten und Superreichen. Der Kommentar aus der NYT ist auch deswegen so abstrus, weil er nur von Ländern bzw. Kultursphären spricht, nach dem Motto, im Epidemiefall gäbe es keine Klassen mehr. Kein Wunder, dass der Autor ernsthaft behauptet, das »enforced social distancing« in China sei nicht autoritär!

Die Katastrophe liegt nicht im Virus, sondern in der Gesamtheit der Maßnahmen seiner Bekämpfung.

Chinas Bilanz in Sachen frühzeitiger Seuchenbekämpfung und Prävention ist bekanntlich beschissen (SARS, Afrikanische Schweinepest). Und im Februar sind »im Westen« viele Artikel erschienen, die geradezu herablassend die Abwesenheit von parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Mehrparteiensystem für die »chinesische Unfähigkeit« verantwortlich machten, Seuchen frühzeitig und transparent zu bekämpfen. Das diente der Verteidigung der (in Wirklichkeit immer eher ungleicher und repressiver werdenden) liberalen Demokratien. Daher kam der Impuls des NYT-Autors und von Mike Davis, darauf hinzuweisen, dass auch außerhalb von China jede Menge Scheiße, Schlamperei und Brutalität im Zusammenhang mit dem Virus stattfindet. Inzwischen hat sich der Wind gedreht und viele Massenmedien loben »China« gerade wegen seines drakonischen Umgangs mit den Menschen – und an der Stelle werden solche Argumente nicht nur abstrus, sondern gefährlich.

Die Staatsführung in China ist ja nicht deshalb so unfähig (bzw. fähig im Vertuschen, Zensieren, Unterdrücken und Ausbeuten), weil sie sich Kommunismus auf die roten Fahnen schreibt und keine freien Wahlen abhält, sondern weil die hierarchische Organisierung der Gesellschaft zum Zweck der Ausbeutung der Vielen zum Wohle von Wenigen höchst irrational und unmenschlich ist und sich nicht ernsthaft um das menschliche Leid kümmert, das sie anrichtet. Die KPCh hat von Mitte Dezember bis zum 20. Januar in Wuhan hunderte Ärzte und Pfleger durch polizeiliche und disziplinarische Mittel davon abgehalten, sich gegenseitig über die erhöhte Ansteckungsgefahr eines neuen Virus zu informieren. Ich stelle mir vor, dass es unter Ärzten und Pflegern so normal und selbstverständlich ist, sich über eine neue Krankheit oder eine Viruswelle zu informieren, wie man sich auf dem Bau vor einer ausgeschlagenen Säge oder einem allzu wackeligen Gerüst warnt.

Die Fähigkeit der KPCh, in Wuhan und anderswo Zensur und Unterdrückung in solchem Ausmaß zu organisieren, ist Ausdruck ihrer Machtkonzentration. Extreme materielle Ungleichheit, Gewalt gegen Untergebene und insbesondere Frauen, eine hohe Rate an Arbeitsunfällen etc. sind die alltäglichen Konsequenzen. Dieses Machtmonopol sollte man mitnichten als »perfektesten Überwachungsstaat« halluzinieren. Im Gegenteil läuft das chaotisch, selbstherrlich und über informelle Beziehungen ab, jedes Rädchen im Getriebe macht seine eigenen Nebengeschäfte und niemand berichtet seinem Vorgesetzten die ganze Wahrheit. Weil die arbeitenden Menschen auch durch Zensur und Versammlungsverbote entmachtet sind und die Organisationseinheiten in China vergleichsweise groß sind, nehmen Unfälle und Katastrophen entsprechend große Ausmaße an.

Das alles kommt in den »liberalen Demokratien« genauso vor; in europäischen Ländern wäre es den regierenden Parteien jedoch wahrscheinlich nicht möglich gewesen, die Warnungen von Ärzten und Pflegern so lange und effektiv wie in Wuhan zu unterdrücken. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Versagen bei Seuchenfrüherkennung und -bekämpfung auch in der Vergangenheit und der krassen Ausnutzung von Macht- und Ausbeutungsinstrumenten.

Die Herrschenden verteidigen ihr Klassenprivileg im Ausnahmezustand noch krasser. Die Seuche(nbekämpfung) macht gerade nicht »alle gleich«, sondern verschärft die gesellschaftlichen Ungleichheiten. Arbeiter ohne formelles Arbeitsverhältnis werden viel härter getroffen als solche mit; Staatsangestellte oder gut ausgebildete Angestellte großer Konzerne können oft ohne große Beeinträchtigungen im Home Office weiterarbeiten und müssen sich wenig Sorgen um ihr Monatsgehalt machen; Reiche verlieren vielleicht etwas Vermögen, leben aber in ihren Häusern kaum beeinträchtigt weiter, haben sehr privilegierten Zugang zu Informationen, Vorsorge und Behandlung – und können mit ihren Achtzylindern endlich auf leeren Straßen richtig brettern (kein Witz!).

Auch bei der Quarantäne wird nach der Rückkehr in die Küstenstädte zwischen Wohneigentümer und Mieter unterschieden. Eigentümer dürfen sich in der eigenen Wohnung selbst isolieren, Mieter dürfen nicht zurück und müssen zwei Wochen in Quarantänehotels, für die sie auch noch selbst bezahlen müssen. Diese Aufrechterhaltung bzw. Verschärfung der Ungleichheit zur Sicherung der Herrschaft wäre natürlich Grund für Opposition, aber das war hier jenseits von Symbolik schwierig. Vielleicht klappt das ja in Europa besser!

Entfremdung vom »Westen«

Meine Freunde in Hongkong hielten das Containment in Hubei bereits zu Beginn für Theater und für zum Scheitern verurteilt. Meine Freunde in Festlandchina hingegen halten die Aufgabe strikter Containment-Politik in einigen europäischen Ländern für unverantwortlich und schockierend.

Mein Eindruck ist, dass viele Chinesen die Parteipropaganda, das Selbstlob, die Kritik an anderen Ländern als lasch und unentschlossen ganz gern schlucken, aber sie haben auch keine andere Wahl. Einerseits besteht zwar Misstrauen gegenüber der Regierung (was sich während des Lockdowns in selbstorganisierten Straßensperren und der weiterhin misstrauischen, abwartenden Haltung im Hinblick auf die Wiederaufnahme der Arbeit ausdrückt), andererseits besteht längst Gewöhnung an die Ohnmacht.Viele akzeptieren die offiziellen Medien als Dreiviertelwahrheiten, denn so ganz falsch können sie ja auch nicht sein. Und dazu kommt bei nicht wenigen Stolz, Arroganz und Chauvinismus angesichts der Macht Chinas.

Das alles wird die Entfremdung vom »Westen« oder von den Ausländern stärken. Sie wird – ich glaube gezielt und mehr oder weniger systematisch – auf vielfältige Weise durch große Propaganda und kleine Geschichten gefördert und ist nicht zuletzt durch den sehr begrenzten direkten persönlichen Austausch zwischen Chinesen und Ausländern bedingt.

Der Nationalismus des Auswärtigen Amts peitscht das weiter an. Die Doktrin der jungen Generation von chinesischen Diplomaten scheint zweigleisig, das Recht des Stärkeren einfordern und andererseits den winselnden Hund spielen (»China wird schikaniert, während es doch am Boden liegt«), wenn man fürs Vertuschen der Epidemie kritisiert wird oder wenn die KPCh mal wieder ins Horn des Antiimperialismus blasen will.

Wichtige Adressaten der Parteipropaganda dürften Chinesen im Ausland sein. Für sie wächst damit sicherlich die Entfremdung und Schwierigkeit, sich lokal zu integrieren. Auf sozialen Medien habe ich etliche Postings gelesen, die die Virusbekämpfung in Deutschland oder England diskutieren oder die Heimreise nach China beschreiben (z.B. dieses). Die interessanteren Beispiele sind keineswegs grober Nationalismus, sondern drücken ein tiefes Gefühl der Fremdheit und Unverstandenheit aus. Die Autoren tolerieren andere Herangehensweisen zwar, sehen aber im Grunde doch nur Chinas Regierung in der Lage, entschlossen zu handeln.

Propagandistische Schlammschlacht hat begonnen

Seit einigen Tagen krakeelen »westliche Führer« wie Trump und Pompeo lauthals vom »Wuhan-Virus« oder vom »China-Virus«. Und in China verbreitet die KPCh Gerüchte, die US-Soldaten hätten während der World Military Games im Oktober in Wuhan (man erinnere sich, das chinesische Team wurde wegen offensichtlichem Betrug disqualifiziert) das Virus verbreitet. Hier eine Darstellung der Propaganda der KPCh.

Die Partei prahlt, wie gut »sie« die Krise bewältigt habe, kopiert, klaut und verleibt sich kurzerhand die Leistungen aller Freiwilligen ein, und zensiert jede Kritik. Als Xi Wuhan besuchte, standen Bullen auf den Balkonen der Anwohner, um unliebsame Rufe wie eine Woche zuvor bei der Vizeministerpräsidentin zu verhindern. Es ist völlig egal, wie es gelaufen ist, die KPCh würde jeden noch so katastrophalen Verlauf als Sieg und Ausdruck ihrer Überlegenheit verkaufen. Sie macht das natürlich eiligst, bevor irgendwelche weiteren Details über das Ausmaß der Katastrophe und die wirkliche Zahl der Toten durchsickern. Das ist alles nicht neu; aber durch die wirtschaftliche und politische Macht Chinas, die globale Epidemie und die sich zuspitzenden Blockkonflikte bekommt es für Menschen außerhalb von China eine neue Realität und lässt auch »im Westen« die autoritären Träume von einer »entschlossenen Führung« aufleben.

An der Medien- und Propagandafront werden die Spannungen im chinesisch-amerikanischen Verhältnis, die ihren deutlichsten Ausdruck im Handelskrieg fanden, quasi im Wochentakt verschärft. Im Februar hatte China drei Reporter des Wall Street Journals ausgewiesen, offiziell wegen der Überschrift eines Artikels (»China is the real sick man in Asia«), die Peking als »rassistisch« bezeichnete. Daraufhin hatten die USA Anfang März die zulässige Zahl der im Land tätigen Mitarbeiter pro chinesischem Medienunternehmen auf 100 begrenzt und damit im Ergebnis rund 60 chinesische Journalisten ausgewiesen. In der Nacht zum 18. März gab das chinesische Außenministerium bekannt, dass etwas mehr als ein Dutzend amerikanische JournalistInnen innerhalb von zehn Tagen ihre Pressekarten abgeben müssen und nicht mehr als Journalisten in China arbeiten dürfen. Der amerikanische China-Fachmann Bill Bishop schreibt dazu, er könne sich »nicht an eine gefährlichere Zeit in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen der vergangenen 40 Jahre erinnern«.

Das Ausmaß der Erschütterungen, die mit dem Virus, den Quarantäne-Maßnahmen, Grenzschließungen und der sich entfaltenden Weltwirtschaftskrise über den gesamten Planeten rollen, ist noch nicht abschätzbar. Wahrscheinlich werden sie die Krise 2008/09 in den Schatten stellen, 20 Prozent Arbeitslosigkeit in den USA, in China mehr Jobverluste als 2008 ... Angst und Wut über politische Maßnahmen, die noch stümperhafter und brutaler als sonst sind. Weltweit werden gerade ähnliche Ängste ausgestanden und verbindende Erfahrungen gemacht, die dem in der Krise aufheulenden Nationalismus und Autoritarismus hoffentlich in Kämpfen entgegentreten können.

Gustav aus China

P.S. vom 24.3.: Inzwischen hat Trump aufgehört, vom Wuhan-Virus zu sprechen und das chinesische Regime nimmt Abstand von der Behauptung US-Soldaten hätten das Virus in China verbreitet. Dennoch bleibt die Lage angespannt.

 
 
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