Vor zehn Jahren hatte die EZB die Währungsunion zunächst mit einem Machtwort vor dem Auseinanderbrechen gerettet und anschließend mit Niedrigzinsen und billionenschweren Wertpapierkaufprogrammen das System stabilisiert. Das hat zu einer sehr schrägen wirtschaftlichen Entwicklung geführt. So ist zum Beispiel der DAX seit 2011 um 290 Prozent gestiegen – das deutsche BIP im gleichen Zeitraum aber nur um etwa 13 Prozent gewachsen. Am 27. Juli erhöhte sie zum ersten Mal seit elf Jahren wieder den Leitzins um 0,5 Prozent – erwartet worden waren 0,25 Prozent. Am 8. September erhöhte die EZB nun die Zinsen erneut um historische 0,75 Prozentpunkte. Das roch nach Panik und zeigte die Machtlosigkeit der Notenbank. Aber warum erhöht sie inmitten eines Energiepreis-Schocks und beginnender Rezession überhaupt den Leitzins? Zur Einordnung bringen wir im folgenden Auszüge aus dem Krisenartikel in der aktuellen Wildcat.
In den USA hat sich die Staatsverschuldung seit 2008 auf knapp 32 Billionen Dollar verdreifacht. Die ausstehenden Anleihen von US-Unternehmen haben sich von 3,4 auf 7,4 Billionen Dollar mehr als verdoppelt. Die Kreditkartenschulden sind zuletzt so stark gestiegen wie in 20 Jahren davor nicht und liegen nun bei 890 Milliarden Dollar; Hypotheken und Autokredite mit eingerechnet, belaufen sich die Schulden amerikanischer Privathaushalte auf über 16 Billionen Dollar. Wenn diese Schuldenberge nicht mehr finanziert werden können, droht das ganze System zu kippen.
Deshalb war es ein Problem, dass die Zinsen sowohl auf Firmenanleihen wie auf US-Staatsanleihen stiegen. Seit Jahresbeginn gibt es eine Verkaufswelle bei Anleihen. Normalerweise steigen die Anleihekurse, wenn Aktien fallen und umgekehrt. Jetzt fielen beide – das gab es noch nie bei US-Wertpapieren seit 1945. Ende April waren die Verluste bei den US-Staatsanleihen so hoch wie seit 1788 nicht mehr, man sprach vom »schlimmsten Bärenmarkt für US-Anleihen in der Geschichte«. Die Fed musste handeln! Bereits im März hatten sie den Leitzins um 0,25 Punkte erhöht – offensichtlich zu wenig. Die zweite Zinsanhebung um 0,5 Prozent Anfang Mai war der größte Zinsschritt seit dem Jahr 2000. Als die Fed Mitte Juni nochmal um 0,75 Prozent erhöhte, roch es nach Panik. Zusammen mit der erneuten Erhöhung um 0,75 Punkte am 27. Juli war es die aggressivste geldpolitische Straffung seit vier Jahrzehnten.
Mit der »weltweit synchronisierten monetären Straffung« riskierten die Notenbanken eine tiefe globale Rezession, meinte der IWF. Aber das sei im Zweifel nötig, denn sie müssten jetzt auf Kurs bleiben, »bis die Inflation gezähmt ist«. Sonst »werden (sich) die Probleme nur verlängern.«
Den Unternehmern geht das Kapital aus, den Proleten geht das Geld aus, weil seit einem Jahr alles teurer wird – und die Notenbanken reagieren, indem sie das Geld noch knapper machen!? Niemand glaubt, dass bei höheren Zinsen die Lebensmittel wieder billiger werden! Die britische Notenbank hat die Zinsen am stärksten erhöht, trotzdem ist die Inflation in Großbritannien jetzt schon zweistellig. In der Geschichte haben Versuche, die Inflation geldpolitisch zu bekämpfen, immer mindestens zu einer Rezession geführt.
Die Fed will die gesellschaftliche Zahlungsfähigkeit drücken, oder wie die FAZ es ausdrückte: die Nachfrage soll »in Einklang mit den gestörten Lieferketten« gebracht werden. [FAZ 19. Mai »Jetzt platzt die Blase«] Powell selber begründete die Maßnahmen damit, man müsse eine »Lohn-Preis-Spirale« sowie »Inflationserwartung« bekämpfen, denn der US-Arbeitsmarkt sei »unhaltbar heiß«. Er will also das Wirtschaftswachstum bremsen, um die Nachfrage nach Arbeitskräften zu drücken und somit die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Das würde die Löhne drücken, so dass am Ende die Preise nicht weiter steigen.
Die Notenbanken wollen das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit verschieben – und manövrieren dabei auf einem schmalen Brett: Es soll zu einer starken Rezession, aber nicht zu einem Finanzsystemcrash kommen.
Der »Volcker-Schock« war eindeutig der politisch gewollte Angriff auf die Arbeiterklasse per Rezession. Paul Volcker, Chef der Fed, knüppelte die Zinsrate 1979 von etwa 11 Prozent auf über 20 Prozent und löste damit einen weltweiten Anstieg der Massenarbeitslosigkeit aus, Mexiko ging bankrott, weitere Schwellenländer folgten... (siehe U2 in der Wildcat 105) Seither haben sich die Schulden von Privathaushalten und Staaten laut IWF verdreifacht auf über 150 Prozent des Weltsozialprodukts.
Können aber die Notenbanken diesmal überhaupt so weit gehen, wie sie gehen müssten, um die Arbeitsmärkte in ihrem Sinne »abzukühlen«? (...)
Es ist kaum vorstellbar, dass die Notenbanken die Zinsen so stark anheben können, um die »Nachfrage in Einklang mit dem Arbeitskräftemangel« zu bringen; das System würde kollabieren. Was also auf den ersten Blick wie eine Wiederholung der Geschichte aussieht: die Notenbanken erhöhen die Zinsen, würgen das schwächelnde Wirtschaftswachstum endgültig ab, der Dollar steigt, es kommt zu einer Schwellenländerkrise…. Ist auf den zweiten Blick das Ende von dem, was damals durchgedrückt und in Gang gesetzt wurde. Denn es muss tatsächlich durchgedrückt werden, die Geldverknappung stoppte auch Anfang der 80er Jahre nicht automatisch die Inflation. Dazu musste erst Reagan die streikenden Fluglotsen in Handschellen abführen lassen, die Gewerkschaften zerschlagen; dafür musste der IWF den verschuldeten Ländern seine »Reformen« aufzwingen usw. Aber heute ist der IWF nicht mehr allein auf weiter Flur als Kreditgeber. Und die Fed kann nicht mehr uneingeschränkt auf die Dollarhegemonie rechnen. »Da der US-Dollar inzwischen als weltpolitische Waffe eingesetzt wird, könnte seine Position als wichtigste globale Reservewährung leiden.« (Nouriel Roubini: »Fünf Gründe, warum hohe Inflation bei zugleich schwerer Rezession droht« WiWo 11. August 2022) Das globale Kräfteverhältnis hat sich geändert (Revolten im Süden; Streiks; lying flat gegen »mehr Arbeit«).
(In den USA wird die Inflation durch eine starke Konsumnachfrage getrieben. Europa hingegen leidet nicht unter einer zu starken Nachfrage, sondern unter einem mangelnden Angebot (ausbleibende Öl- und Gaslieferungen). Es macht hier also noch weniger Sinn, die Zinsen zu erhöhen, um die Konjunktur abzuwürgen. Aber:) Die Zinspolitik der Fed übt Druck auf die EZB und die übrigen Zentralbanken aus. Die höheren Zinsen in den USA ziehen Kapital an, der Dollarkurs steigt, der Eurokurs sackt ab, die Importe werden teurer. Die Fed exportiert Inflation und zwingt die von ihr abhängigen Notenbanken ebenfalls zu Zinserhöhungen. Um den Eurokurs zu stützen, muss die EZB Schritt halten. (Auch die letzten beiden Zinserhöhungen der EZB hatten jeweils die Krise verschärft – und wurden kurz danach zurückgenommen.) Höhere Zinsen verteuern erst einmal alles: Mieten, Strom, Gas, Lebensmittel…
Im Euroraum machen es die speziellen Bedingungen dieser »halben Währung« (ohne gemeinschaftlichen Staatshaushalt dahinter) zusätzlich schwierig, die EZB muss Rücksicht auf die Staatsanleihen hoch verschuldeter Länder wie Italien nehmen. (…) Die Zinsen der Staatsanleihen gehen bereits wieder auseinander: Mitte Juni erreichten auch die Bundes-Anleihen ein Acht-Jahres-Hoch von mehr als 1,9 Prozent, Ende Juni wurde eine zehnjährige deutsche Staatsanleihe dann mit 1,7 Prozent verzinst, eine italienische aber mit 3,7 Prozent. Ende Juli stufte die Ratingagentur S&P die Kreditwürdigkeit Italiens auf eine Stufe über Ramschniveau herab.
Deshalb legte die EZB ein neues Anti-Krisen-Programm auf, das sogenannte Transmission Protection Instrument, TPI, um notfalls Schuldscheine von Staaten aufzukaufen, deren Zinsen als zu hoch erachtet werden.
Die BRD gerät zwischen den Ukrainekrieg und ihre Abhängigkeit von China. Kaum ein Industrieland leidet stärker unter dem Energiepreis-Schock. Und aufgrund eigener wirtschaftlicher Probleme ist China nicht mehr die Vollkasko-Versicherung der deutschen Exportökonomie für Wachstum.
Laut einer Ifo-Studie würde das von den USA geforderte »Friendshoring« in Deutschland zu einem dramatischen wirtschaftlichen Einbruch führen; »die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft könne sich das nicht wirklich leisten.« (Inzwischen warnt auch die DGB-Chefin Fahimi aufgrund der hohen Energiepreise »vor einer Deindustrialisierung in Deutschland«).
Weltweit droht eine Schwellenländerkrise. Viele Länder waren bereits hoch verschuldet; während Corona sind ihre Deviseneinnahmen zurückgegangen; dazu kamen die gewaltig steigenden Energiepreise. Ud jetzt saugt die Fed durch ihre Zinserhöhungen Kapital in die USA und lässt den Dollar steigen! Das verteuert die Einfuhrpreise und ihre in Dollar aufgenommen Schulden. Zudem führt der steigende Dollar zu Kapitalabflüssen, in den Monaten März, April und Mai zogen internationale Investoren nach Daten des Institute of International Finance 17,3 Milliarden Dollar aus den Schwellenländern ab. Einem Bericht der Financial Times vom 10. Juli zufolge wurden in diesem Jahr bereits Staatsanleihen der Schwellenländer im Wert von 50 Milliarden Dollar abgestoßen, »der dramatischste Nettoabfluss seit mindestens 17 Jahren«. Im Vorjahr hatte es in dem gleichen Zeitraum noch Zuflüsse von mehr als 50 Milliarden Dollar gegeben.
Die Situation wird unhaltbar.
Am 19. Mai hatte sich Sri Lanka für zahlungsunfähig erklärt. Das Land steckt in der größten Versorgungs- und Finanzkrise seit seiner Unabhängigkeit 1948. Anfang Juli schickte die Regierung zwei Minister als Bittsteller nach Moskau, Russland solle wieder Touristen schicken – und besonders dringend: Öl. Am 9. Juli stürmten in der Hauptstadt Colombo Demonstranten den Amtssitz des Präsidenten und setzten das Haus des Ministerpräsidenten in Brand. (...)
Am 24. Juli bat die Regierung von Bangladesch – nach Sri Lanka, Nepal und Pakistan – als vierter Staat Südasiens den IWF um Finanzhilfe. Auch Laos steht kurz vor dem Staatsbankrott. Und die Krise ist nicht auf Asien beschränkt; El Salvador ist hoch verschuldet und durch den abstürzenden Bitcoin zusätzlich belastet, Libanon, afrikanische Länder….
Eine Untersuchung der UNCTAD kam zu dem Ergebnis, dass 69 Länder unter allen drei Schocks gleichzeitig leiden, 25 davon in Afrika, 25 in Asien und 19 in Lateinamerika. Die Banker von JP Morgan untersuchten 52 Schwellenländer auf ihre Solvenz und sehen bei mehr als der Hälfte das Risiko von Zahlungsschwierigkeiten, darunter die Malediven, die Bahamas, Belize, Senegal, Ruanda, Grenada und Äthiopien. Der IWF führt bereits mit Pakistan, Ägypten und Tunesien Gespräche über mögliche »Rettungsprogramme«... Ecuador scheint der nächste Kandidat.…
Mitte Juni rief die pakistanische Regierung angesichts eines kaum noch zu bewältigenden Schuldenbergs ihre 220 Millionen Landsleute (fünftgrößter Staat der Welt) dazu auf, weniger Tee zu trinken. Pakistan könne sich selbst den Import der Teeblätter kaum noch leisten. Die pakistanische Rupie hat in den vergangenen zwölf Monaten gegenüber dem US-Dollar ein Drittel an Wert verloren. Die Zinszahlungen für die Staatsschulden machen mehr als 40 Prozent des Staatshaushalts aus. Die Regierung verhandelt derzeit mit dem IWF über die Wiederaufnahme eines milliardenschweren Hilfsprogramms. Als Voraussetzung dafür hat sie die Subventionen auf Benzin streichen müssen, was zu vielen Protesten führt (siehe den Artikel zu den weltweiten Revolten in der neuen Wildcat 110).