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Dietmar Dath

Muß man sich verkaufen?
Statt Sozialkitsch: Beverly Silvers Analyse der Arbeiterbewegung

in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.2005, Nr. 174 / Seite 39

In Philologie, Religion und anderen schöngeistigen Bezirken kannte sich Friedrich Nietzsche besser aus als auf dem Arbeitsmarkt. Gerade deshalb haben sich seine verstreuten Bemerkungen zum gesamtgesellschaftlichen Geschäftsklima des liberalen neunzehnten Jahrhunderts oft erstaunlich gut gehalten, denn sie verzeichnen aufrichtig verwundert, was dem Laien ins Auge sprang: "Man will leben und muß sich verkaufen, aber man verachtet den, der diese Not ausnützt und sich den Arbeiter kauft. Es ist seltsam, daß die Unterwerfung unter mächtige, furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei weitem nicht so peinlich empfunden wird, als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante Personen, wie es alle Größen der Industrie sind."

Daß der gewitzte Mythologe des Willens zur Macht sich diesen Befund im Folgenden aus allerlei Rassen- und Traditionsverlusten erklärt, die das Ansehen jener Industriekapitäne gegenüber dem alten Adel beschädigten, ist eine verzeihliche Schwärmerschwäche. Die banale Wahrheit aber sieht so aus, daß alle erblichen Herrscherklassen der vorbürgerlichen Zeit ideologisch davon profitieren konnten, daß ihre Herrschaft tatsächlich natürlich war - nämlich der Tatsache geschuldet, daß im Überlebenskampf der Menschenhorde mit den Elementen irgendjemand die Koordinationsgewalt ausüben mußte. Die tyrannische Umwelt erheischte den tyrannischen Herrn und Priester. In der Befreiung von derlei kreatürlicher Not, welche die große Industrie mit sich brachte, schien daher erstmals in der Evolution für eine Spezies die Möglichkeit auf, sich statt unterm Befehl des genetisch programmierten Instinkts lieber über die allen gemeinsame Produktion und Konsumtion zu vergesellschaften. Die Autorität war in die Maschine gefahren, das Herrscherwort von den physikalischen Leitgesetzen der Technik abgelöst. Warum also sich nicht per Abstimmung oder auf ähnlich fabrikeffektiv vernunftgeleitete Weise koordinieren statt über Besitz und Befehl, warum nicht rechtlich und politisch in Gemeineigentum überführen, was längst tendenziell von allen betrieben wird und alle bedient? Einmal in diese Richtung gedacht, "und der Socialismus beginnt" (Nietzsche).

Was nach dem Ende der totalen Abhängigkeit des Menschen von den Wechselfällen der Jahreszeiten und anderen Naturumständen das Reich der Freiheit indes nach wie vor vom Reich der Notwendigkeit unterscheidet, ist die gesellschaftliche Wirklichkeit. Daran zu erinnern, daß das so ist, aber nicht so sein muß, weil man ja auch versuchen könnte, die Freiheit auf Kosten der Notwendigkeit zu vergrößern, ist in unserer Gesellschaft aber nicht etwa, wie man unschuldig glauben könnte, die Aufgabe von philosophischen Talkshows und gewerkschaftlichen Motivationsseminaren, sondern immer noch diejenige von "Menschen, die sich dagegen wehren, zu Waren gemacht oder als solche behandelt zu werden", schreibt Beverly J. Silver.

Sie ist Professorin für Soziologie an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore und traut jenen sich wehrenden Menschen jenseits der öligen Modernisierungsdidaktik des realsozialistischen Proletkults noch immer den Kraftakt zu, als Subjekte der Geschichte das, was heute noch Schicksal ist, in Politik zu verwandeln. Deshalb beobachtet Silver sie "bei der Zwangsarbeit in rhodesischen Bergwerken, am Fließband von Ford oder in einer Maschinenhalle in Ungarn", während sich die offizielle Soziologie der reichen Nationen der Welt längst mit erheblich aparteren Fragen auseinandersetzt, etwa denen der Nachwuchsstatistik oder der Rentnerschwemme. Von denen glaubt sie in gewollter Naivität - oder will das glauben machen -, sie hätten rein gar nichts mit dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, Ware und Geld, Industrie, Wertschöpfung und Wertvernichtung zu tun und vor allem nichts mit dem Stand der Arbeitsproduktivität. Wer das pragmatische Gewurstel und kurzsichtige Ventilieren von mittels social engineering zu lösenden Spezialproblemen, das unsere Gesellschaftswissenschaften mit dem durchschnittlichen Provinzstadtrat in irgendeinem liberalen Staat verbindet, für eine Beleidigung des menschlichen Geistes erachtet, ist bei Beverly J. Silver gut aufgehoben.

Ihr Forschungsvorhaben nennt sich, ein bißchen modisch spezialisierungsbeflissen, "labor studies". Das Wort bedeutet aber glücklicherweise nicht viel weniger, als was sich Marx, Weber oder Schumpeter unter Gesellschaftsanalyse ganz allgemein vorzustellen pflegten. Silvers soeben dank unbezahlter Überstunden eines Übersetzungs- und Editionskollektivs um die Zeitschrift "Wildcat" (www.wildcat-www.de) auf deutsch erschienenes Hauptwerk "Forces of Labor" ist kein Manifest, sondern eine von klaren politischen Vorstellungen und nachvollziehbaren Begriffsverkettungen angeleitete verständliche Untersuchung wirkmächtiger sozialer Phänomene der Gegenwart, die auch das unbewaffnete Auge wiedererkennen kann. Die Autorin entfaltet bei ihrer geschichtlichen Darlegung der verschiedenen aufeinanderfolgenden Formen des Widerstands gegen das moderne kapitalistische Regime der Lohnarbeit und seiner staatlich verwalteten Supplemente eine Idee von "Fortschritt", die nicht normativ-ideologisch, sondern praktisch gedacht ist: Je weniger die Menschen bei der Herstellung ihres Lebens dazu gezwungen werden können, etwas zu tun, was sie nicht von selbst einsehen, sondern als Gehorsamsleistung verstehen müssen, desto besser ist die Welt eingerichtet.

Dadurch, daß diese Idee von Fortschritt bei Silver durch alle historischen Testfälle, Fehlstarts und Niederlagen bei ihrer Verwirklichung hindurch an die Darstellung verschiedener aufeinanderfolgender und aus einander hervorgehender Produktionsverhältnisse gebunden bleibt, statt ein bleiches zivilgesellschaftliches Ideal oder ein frommer kommunitaristischer Herzenswunsch zu sein, fällt es leicht, ihr Buch von anderen zu unterscheiden, mit denen es verglichen werden könnte. Bei "Forces of Labor" liegt etwas anderes vor als bei den vielen schlanken Erbauungsbroschüren und schwerverdaulichen Schwarten über Globalisierung, immaterielle Arbeit oder Postfordismus, die zusammen mit den sympathischen Strohfeuerfesten unzufriedener Metropolenjugendlicher und den weniger sympathischen Medieninterventionen antimoderner Explosivdenker verschiedenster Couleur jene gauklerisch flirrende Renaissance der sogenannten Kapitalismuskritik zum Rauschen gebracht haben, die westlichen und nördlichen Populisten und Volkstribunen den Weg bereitet.

Silvers Ausgangspunkt ist nicht die religiöse Hoffnung auf die endzeitliche Mobilisierung einer vagen und dubiosen "Multitude" (Hardt/Negri) irgendwie Benachteiligter, sondern die realistisch düstere Diagnose, daß zwar einerseits noch niemand etwas anderes und besseres zur Durchsetzung des obengenannten Fortschrittskonzepts erfunden hat als den Widerstand der Produzenten, also die im weitesten Wortsinn "Arbeiterbewegung", diese aber seit ihrer Entstehung Mitte des vorletzten Jahrhunderts nicht mehr so schwer darniederlag wie gerade jetzt. Gewissenhaft zieht Silver die historischen Linien nach, die vermuten lassen, daß das nicht so bleiben wird: "Nach dem Rückschlag der Arbeiterbewegungen am Ende der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts dauerte es kein Jahrzehnt, bis die Arbeiterunruhe wieder zunahm und zu der weltweit anwachsenden Stärke und Militanz der Arbeiterbewegungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts führte." Das kam laut Silver nicht etwa von den Parteibemühungen anleitender Sozialisten, sondern war Ergebnis einer in der kapitalistischen Form der Industrialisierung angelegten Tendenz, die abstrakte Macht der Arbeiter als Gesamtklasse über Wohl und Wehe der Produktion stetig zu erhöhen - eine Tendenz, die sich im zwanzigsten Jahrhundert dann vor allem in riesigen Kriegswirtschaften ausdrückte, so daß denn auch nach jedem Krieg der politische Hebel, an dem Streikende saßen, wieder ein bißchen länger war als zuvor. Die Sozialpartnerschaften der reichen Länder waren ein Ausdruck dieser Tatsache, und daß ein hinreichend langer Hebel gar nicht so oft runtergedrückt werden muß, um damit zu imponieren, erklärt vieles, was Gewerkschaften und Sozialdemokraten in den letzten fünfzig Jahren veranstaltet haben.

Anders als zahlreiche Analytiker des Postindustriellen sieht Silver jene Tendenz jedenfalls nicht als durch die dritte industrielle Revolution gebrochen, sondern vielmehr abermals verstärkt an: "Durch just in time-Produktionssysteme wurde die Produktionsmacht der Arbeiter sogar gesteigert, weil das Kapital anfälliger gegenüber Unterbrechungen des Produktionsflusses geworden ist." Ob es das selber auch weiß, und ob seine Erfahrungen mit der politischen Seite solcher Machtkonstellationen es gewitzigt haben, ist die einzige bei Silver nicht beantwortete Frage, weil sie eben nicht vom Kapital aus denkt und das auch gar nicht will. Das macht aber nichts, denn Fragen wie diese sind ohnehin nur praktisch zu beantworten und gehen die Theorie nur insoweit an, als es zur Theoriegeschichte gehört, daß es einmal ein Modell gab, das zugleich vom Kapital aus gedachte Produktionsanalyse und Revolutionstheorie war - den Marxismus, der sich nach einem schönen Wort von Niklas Luhmann vor allem deshalb nicht wiederholen wird, weil es ihn ja gegeben hat.

Ob "die Arbeiter", also alle nicht von Renten, Almosen, Profiten oder Besitz lebenden Menschen inklusive der "prekären" und "immateriellen" Jobber, die im klassischen Proletenbild nicht vorkommen, wirklich die Sorte politischer Macht haben, die Silver andeutungsweise aus ihrer in "Forces of Labor" überzeugend dargetanen Produktionsmacht herausdeduziert, wird in keiner gelehrten Abhandlung stehen. Es kommt, wenn überhaupt, eher in den Nachrichten und historischen Rückblicken vor; je nachdem, wer die verfaßt und redigiert.

Beverly J. Silver: "Forces of Labor". Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870. Assoziation A, Berlin 2005. 284 S., br., 18,- [Euro].

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