Wir veröffentlichen diesen Text trotz einiger Vorbehalte, die wir haben. Er ist in der spanischen Zeitschrift etcetera publiziert und von uns übersetzt worden. Er liefert einen sehr guten Abriss der Bewegungen in Bolivien, die im Oktober 2003 zum Sturz des Präsidenten Sánchez de Lozada geführt haben. Allerdings scheint er uns aus einer zu unkritischen Perspektive geschrieben. Die Bewegung in Bolivien ist tatsächlich sehr uneinheitlich und untereinander oft zerstritten. Die im Text beschriebenen »Selbstverwaltungsstrukturen« der indigenen Gemeinden sind derzeit alles andere als in der Lage, die kollektiven Belange dieser Gemeinden zu organisieren und sie sind ebenso wie die »staatlichen« Strukturen oft von Korruption und persönlicher Bevorteilung bestimmt. Das gilt nicht nur für die »Selbstverwaltungsstrukturen« sondern auch für die »Bewegung« selbst, deren »Lideres« (Anführer) nur allzu oft Geschmack an der Macht oder dem Ruhm finden, die sich darin gefallen, gegen Geld öffentlich aufzutreten oder die lieber Seminarrundreisen machen statt sich weiter an der Basis zu organisieren.
Außerdem untertreiben die Autoren die Rolle des Kokains in der Ökonomie der Cocaleros und damit der Bewegung in Bolivien. Uns geht es nicht um die moralische Reinheit (und schon gar nicht die Drogenabstinenz) der sozialen Subjekte. In Bolivien leben wahrscheinlich mehr als 100 000 Familien vom Kokaanbau (nicht 35 000, wie der Text behauptet). Und mehr als die Hälfte dieser Kokabauern produziert die Koka in Chapare, einer Tropenwaldregion östlich von Cochabamba. Die Koka aus Chapare wird in Bolivien selbst als untauglich für den traditionellen Konsum eingeschätzt, ihre Blätter sind zu groß, zu hart und zu bitter. Dennoch ernten sechs Federaciones in Chapare dreimal jährlich und es ist ein offenes Geheimnis, dass die Koka aus Chapare zum allergrößten Teil der Kokain-Produktion dient. Die Parteinahme für die um die Verbesserung ihres Lebens kämpfenden Subjekte macht uns nicht blind gegenüber dem, was sie tun oder verteidigen. Uns geht es nicht um eine Welt ohne Kokain noch um eine Welt von Kokabauern und -konsumenten. Wir suchen in den Bewegungen nach Strukturen, die ein anderes Leben organisieren und die nicht nach bürgerlichen sondern nach gemeinschaftlicheren Prinzipien funktionieren. Wenn diese Strukturen die Strukturen von Leuten sind, die gezwungen sind sich zumindest zum Teil durch die Produktion von Drogen zu reproduzieren, dann ist das eben so. Drogenproduktion wie -handel sind für uns kein moralisches Problem, sondern ein sozioökonomisches.
Darüberhinaus bietet der Test allerdings eine sehr detaillierte Schilderung der Ereignisse vom Oktober 2003 und eine gute Beschreibung der in Bolivien relevanten Teile der sozialen Bewegung.
Bolivien:
Krieg ums Gas oder sozialer Krieg?
[Spanisches Original]
Der Volksaufstand im letzten Oktober, mit dem der damalige Präsident von Bolivien Gonzalo Sánchez de Lozada gestürzt wurde, und der zur Zeit, im Mai 2004, seine Verlängerung im unbefristeten Generalstreik findet, verdient aus verschiedenen Gründen unsere Aufmerksamkeit. Und zwar selbstverständlich allein schon wegen der Tatsache, dass die BolivianerInnen sich getraut haben, mit einem Aufstand von unten eine Regierung zu stürzen, was doch in diesen modernen Zeiten – wie uns die Experten in Sachen Ende der Geschichte versichern – eigentlich völlig unmöglich sein soll. Dass sie dieses interessierte Vorurteil zurechtgerückt haben, verdient schon alleine Dank. Diese Heldentat ist insofern noch bemerkenswerter, da nicht irgendeine Junta von aussterbenden Gorillas gestürzt wurde, sondern eine Regierung, die mit allen legalen Segnungen der parlamentarischen Demokratie gewählt wurde (auch wenn sie sich in der Art, auf die Forderungen der Regierten zu reagieren, nicht wesentlich unterscheidet). Von daher ist es nicht übertrieben zu sagen, dass die bolivianische Revolution begonnen hat, ihren Angriff direkt gegen die Lüge der Demokratie zu richten, die das Herz der heute herrschenden Ideologie bildet.
Mal abgesehen von den Parolen der verschiedenen Organisationen, sind die Arbeiter und Bauern in Bolivien nicht nur gegen eine bestimmte Regierung aufgestanden, sondern gegen die gesamte etablierte politische, soziale und ökonomische Ordnung. Die Frage, die von der internationalen Presse als Motiv des Aufstands beschrieben wird – der Export des Erdgases auf Rechnung und zugunsten von ausländischen Unternehmen, in erster Linie der spanischen REPSOL – war im Prinzip nur der Anlass, der das Zusammenkommen verschiedener Oppositionsbewegungen begünstigt hat. Der Skandal, der den Funken überspringen ließ, war allerdings kein geringer Anlass: das Energiegesetz (Ley de Hidrocarburos), das die Regierung Sánchez de Lozada auf Diktat des IWF erlassen hat, überlässt die fossilen Brennstoffe des Landes praktisch gratis den Multis, die sie «entdeckt« haben, wobei der bolivianische Staat nur 18% Steuern auf den Wert des Rohgases bekommt, das dann in Chile, Argentinien oder Brasilien raffiniert und weiterverarbeitet wird, um schließlich wieder an Bolivien verkauft zu werden, zu Weltmarktpreisen. Die Geheimniskrämerei, die ungeheure Korruption und die offene Verletzung von Landesgesetzen, unter denen der Verkauf vereinbart wurde, was von oppositionellen Abgeordeten an die Öffentlichkeit gebracht wurde, haben selbst bei den wohlwollendsten Demokraten Empörung hervorgerufen. Zur allgemeinen Empörung kam noch das Gift des patriotischen Ressentiments hinzu, wegen der besonderen Gegebenheit, dass der Gasexport über die Pazifikküste laufen sollte, die der chilenische Staat im Eroberungskrieg 1879 Bolivien abgenommen hatte.
Aber all das hätte offenbar kaum mehr als wohlformulierte Protestnoten von Politikern und Journalisten zur Folge gehabt, wenn die Situation nicht aus anderen Gründen reif für eine Explosion gewesen wäre. Und damit meine ich nicht den Umstand, den die sogenannten Kommunikationsmedien meist als Erklärung anführen: die erdrückende Armut, in der die Mehrheit der BolivianerInnen lebt. Tatsächlich beruht der Ruf des ‘ärmsten Landes des Kontinents’, den diese Andenrepublik genießt, vor allem auf den Wunderwerken der Statistik, denen zufolge der ärmste Hüttenbewohner von Mexiko oder Sâo Paolo dank seiner – rein theoretischen – Teilnahme am höheren Bruttosozialprodukt über ein Pro-Kopf-Einkommen in Dollar verfügt, das das der bolivianischen Bauern um ein mehrfaches übersteigt – während diese selbst einen Großteil von dem produzieren, was sie konsumieren (Güter, die keine Waren sind, und deshalb nicht in der Statistik auftauchen).
Die bekannte materielle Armut, unter der in Bolivien gelitten wird, ist tatsächlich nicht schlimmer als in irgendeinem anderen Teil Lateinamerikas; und wenn die Verschlechterung der Lebensbedingungen im letzten Jahrzehnt in diesem Land auf einen heftigeren und effizienteren Widerstand gestoßen ist, als an anderen Orten, dann liegt das weniger an dem Ausmaß der Armut als am hartnäckigen Fortbestehen von gemeinschaftlichen Traditionen der Selbstorganisation, die es ermöglichen, gegen jede neue Zumutung von Seiten der Macht mit Entschlossenheit und Würde Widerstand zu leisten – eben weil hier (auch ohne großes Bewusstsein) schon immer Widerstand gegen die grundsätzliche und ständige Zumutung geleistet wurde, die die Unterordnung sämtlicher gesellschaftlicher Verhältnisse unter Staat und Markt bedeutet.
Die Erhebung im Oktober war kein Aufstand von amorfen Massen von Hungernden, sondern eine von Versammlungen, Bauerngemeinden, Nachbarschaftsräten und Streikkomitees gut organisierte Bewegung. Sie waren in der Lage, auf eigene Initiative die Kämpfe landauf landab zu koordinieren und schließlich die gewerkschaftlichen und politischen Führungen mitzureißen. «Kein Anführer und keine politische Partei hat diesen Volksaufstand angeführt… Es waren die bolivianischen Arbeiter, die den Mörder Goni (Gonzalo Sánchez de Lozada) von unten mit Fußtritten aus dem Amt vertrieben haben. Niemand kann sich als Person oder Partei die Führerschaft in diesem Konflikt zuschreiben«, gab Jaime Solares, der Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes COB (Central Obrera Boliviana) Ende Oktober zu; und auch wenn ein solches Amt als Gewerkschaftsführer nicht gerade eine gute Empfehlung in Sachen Arbeiterautonomie ist, so hat er hier doch die reine Wahrheit gesagt.
Tod und Wiederauferstehung der Bergarbeiterbewegung:
ein Sieg für das Kapital – aber ein bitterer.
Die seit den 40er Jahren organisierte Gewerkschaftsbewegung der Bergarbeiter war der Kern der Volksmilizen, die in der Revolution von 1952 für Demokratie und nationale Entwicklung gekämpft und das allgemeine Wahlrecht, die Landreform und die Verstaatlichung von Bergwerken und anderen Rohstoffen durchgesetzt haben. Mehr als dreißig Jahre lang konnten die in der COB organisierten Bergarbeiter die jeweiligen zivilen oder Militärregierungen in Schach halten, egal ob sie von links oder rechts kamen; und wegen der Enttäuschung über den ‘revolutionären’ Nationalismus, dessen progressive Ambitionen immer mehr ins Hintertreffen gerieten, näherten sie sich der marxistischen Linken, vor allem den Trotzkisten an.
Ende der 80er Jahre kam die Partei MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario – Nationalrevolutionäre Bewegung), die sich inzwischen schon jeglicher revolutionärer oder auch nur nationalistischer Ambitionen entledigt hatte, wieder an die Macht, um die vorherigen Errungenschaften rückgängig zu machen, indem sie die damals verstaatlichten Unternehmen wieder privatisierte. Dies war die erste Präsidentschaft von Gonzalo Sánchez de Lozada. Bei den Bergwerken ist das Privatisierungsprojekt mit massivem Widerstand der Arbeiter konfrontiert. Die Regierung greift zu drastischen Maßnahmen und verfügt die Schließung der staatlichen Bergwerke wegen mangelnder Rentabilität aufgrund des Verfalls des Zinnpreises auf dem Weltmarkt. Einige Bergwerke gehen später in private Hände über (die ertragreichsten in die Hände des Präsidenten selbst).
Von den mehr als 50 000 entlassenen Bergarbeitern organisieren sich viele in Kooperativen, um die kärglichen Reste des Metalls aus den Bergwerken zu holen. Andere wechseln Wohnort und Beruf, und widmen sich der Landwirtschaft und anderen Beschäftigungen. Das war das Ende der stärksten und kämpferischsten Arbeiterbewegung Lateinamerikas. Aber dieser Sieg der Macht war gleichzeitig der Anfang ihrer Niederlage: die Bergarbeiter, die sich in alle vier Winde verstreuten, nahmen die Samen der Rebellion überall mit hin und verbreiteten überall ihre erprobten Waffen: die gewerkschaftliche Organisierung und das Dynamit.
Die Cocaleros.
Der bekannteste Abkömmling der Bergarbeiterbewegung ist die Bewegung der Coca-Produzenten in der Tropenregion Chapare, die von der Kampagne zur Zerstörung der Pflanzungen bedroht ist, die die amerikanische Botschaft, in ihrer Eigenschaft als faktische Regierung des Landes, unter dem Vorwand der ‘Drogenbekämpfung’ durchsetzt. Bekanntermaßen ist der größte Teil der bolivianischen Coca-Produktion für den Binnenmarkt bestimmt, für die traditionelle und gesunde Gewohnheit, Coca zu kauen oder als Tee zu trinken. Nur ein kleiner Teil wird zum chemischen Derivat Kokain weiterverarbeitet. Diese Industrie ist von rechten und militärischen Mafias beherrscht, an deren Verteidigung die Coca-Bauern nicht das geringste Interesse haben. Der Coca-Anbau ist kein lukratives Geschäft, aber zumindest weniger ruinös als der Anbau von ‘alternativen’ Produkten, die mit der Ausrottung der Pflanzungen vorgeschlagen werden, wobei damit nicht wirklich der Drogenhandel angegriffen wird, sondern eine Form traditioneller Landwirtschaft, die innerhalb einer Volkswirtschaft, die auf unverschämte Weise von ausländischen Interessen ausgeplündert wird, als nicht zu unterschätzender Faktor von wirtschaftlicher Unabhängigkeit weiterbesteht, und den Lebensunterhalt von 35 000 Familien sichert.
Die politische Organisation, in der sich die meisten AktivistInnen der Cocaleros zusammengeschlossen haben, ist die MAS (Movimiento al Socialismo – Bewegung zum Sozialismus), eine mehr oder weniger direkte Fortsetzung der alten Kommunistischen Partei. Sie ist stärkste Kraft in den meisten Gemeinden des Chapare, wo sie nicht nur den Widerstand der Bauern organisiert, sondern auch beachtliche Infrastrukturmaßnahmen durchsetzt (Schulen und Straßen). Bei den letzten Präsidentschaftswahlen erreichte ihr Kandidat, der Cocalero-Anführer Evo Morales, den zweiten Platz nach Sánchez de Lozada, womit die MAS zur zweitstärksten politischen Kraft im Land wird, mit immer stärkerer Verankerung in den Mittelschichten und immer moderateren politischen Positionen.
Die Bauern-Gemeinden.
Aber die unmittelbaren Vorläufer der Oktoberereignisse müssen am anderen Ende des Landes gesucht werden, bei den Aymara-Bauern in der Region des Titicaca-Sees, die schon 2000 und 2001 heftig gegen das Militär gekämpft haben. Sie verfügen über eine eigene gewerkschaftliche Organisation, die Confederación Sindical <0x00DA>nica de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB – Einheitsgewerkschaft der Landarbeiter in Bolivien), aber ihre eigentliche Basis liegt in den ayllus, den traditionellen Agrargemeinschaften.
Obwohl mit der Agrarreform 1953 den Bauern das Land in Form individueller Parzellen als Privateigentum zurückgegeben wurde, mit dem Ziel, die Landbevölkerung in die Marktwirtschaft zu integrieren, lebt die Gemeinschaftstradition trotzdem weiter, beim Bebauen von Gemeinschaftsland, in der gegenseitigen Nachbarschaftshilfe (aynis), in der Kollektivarbeit an öffentlichen Einrichtungen (Schulen, Wege, Brunnen, Bewässerungsgräben, Krankenversorgung), und vor allem bei der Entscheidungsfindung in öffentlichen Versammlungen, die jedes Jahr ihre ‘Autoritäten’ wählen (die jederzeit abberufen werden können und strikt an das Mandat und die ständige Kontrolle durch die Versammlung gebunden sind), die mallkus oder Chefs und die Bürgermeister, die den Auftrag haben, die kollektive Feldarbeit anzuleiten, die Gemeinschaft nach außen zu repräsentieren und die Justiz nach dem Gewohnheitsrecht der indigenen Bauern auszuüben.
Die Gemeinschaften genügen sich demnach in ihrer Politik und Wirtschaft selbst: sie brauchen keine Lektionen in Kommunismus von irgendeiner Partei, und noch weniger brauchen sie Lektionen in Demokratie von der sogenannten westlichen Zivilisation, die sie kolonisiert. Die Indigene Bewegung Pachakuti (Movimiento Indígena Pachakuti – MIP) unter Führung des Generalsekretärs der CSUTCB, Felipe Quispe, mit dem Beinamen El Mallku, tritt für einen ‘gemeinschaftlichen Sozialismus’ ein, auf der Basis des Zusammenschlusses der Ayllus, der Agrargemeinschaften. Der Rückbezug auf vorkapitalistische Traditionen bedeutet hier keine prinzipielle Feindschaft gegenüber moderner Technologie: eine der lautesten Forderungen der Bauernbewegung war die Verteilung von Traktoren in den Gemeinschaften.
Da die Bauerngemeinschaften mit ihren Versammlungen und gewählten Autoritäten in Bolivien weder offizielle Anerkennung, noch juristischen Status haben, und da sie andererseits in den meisten Aymara-Gemeinden mehr oder weniger konfliktträchtig mit Bürgermeistern und anderen offiziellen Autoritäten zusammenleben, die von oben von der Regierung ernannt wurden, entsteht de facto eine Situation von Doppelmacht, die vielleicht nicht der unmittelbare Zünder der Explosion im Oktober war, aber mindestens der Sprengstoff, der sie ermöglicht hat.
Die Rebellion der Bauern:
Sorata und Warisata.
Die Proteste begannen, als die staatliche Justiz einige Bauernführer in der Provinz Omasuyos (Departamento La Paz) einknasten ließ, die sie ohne wirkliche Begründung des gewaltsamen Todes von zwei Personen beschuldigte, die diese nach traditionellem Aymararecht als Viehdiebe verurteilt hatten – und ich sage ‘ohne wirkliche Begründung’, weil weder Todesstrafe noch Blutrache zum üblichen Vorgehen der indigenen Justiz gehören. Es handelte sich also um einen klaren Angriff auf die interne Selbstverwaltung der Gemeinschaften, und diese haben den Angriff sofort als solchen verstanden: im ganzen Norden des Altiplano (Andenhochebene) verbreiten sich die Proteste, Mobilisierungen und Hungerstreiks der örtlichen Autoritäten; dreitausend Bauern marschieren auf La Paz, zum Regierungssitz, um die Freilassung der Verhafteten zu fordern.
Genau in diesem kritischen Augenblick wird der Skandal des Erdgasexports bekannt. Die ersten, die dagegen demonstrieren, sind die Witwen und Töchter der Veteranen des Chacokrieges 1932-35, die empört sind über eine solche Vergeudung des nationalen Eigentums, das ihre Toten so mühsam erobert haben. Es folgen Mobilisierungen von Universitäten und Oppositionsparteien, die mehrfach La Paz lahm legen. Schließlich macht sich die Bauernbewegung die Forderung nach dem Gas zu eigen und ruft zur Blockade der Landstraßen auf dem Altiplano auf, die Mitte September 2003 beginnt.
Am 20. September schickt die Regierung Truppen von Armee und Polizei, um eine Gruppe von Touristen zu befreien, die durch die Blockade im Andenort Sorata, im Osten des Titicaca-Sees festsitzen. Entlang des Weges werden die Soldaten von den Bewohnern mit Steinen empfangen, und sie können sich nur mit massivem Einsatz von Schusswaffen, Flugzeugen und Hubschraubern den Weg nach Sorata bahnen. Die Bauern, die mit Gewehren und Dynamit bewaffnet sind, geben den Widerstand nicht auf. In der Ortschaft Warisata sterben ein Soldat und fünf Bewohner in einem Schusswechsel zwischen Aufständischen und den Spezialeinheiten der Armee.
Der Aufstand in El Alto und der Generalstreik im Oktober.
Die Straßenblockaden breiten sich aus. Am 28. September ruft der Gewerkschaftsdachverband COB, der seine lange interne Krise mittlerweile überwinden konnte, zum unbefristeten Generalstreik und zu Straßenblockaden auf Landesebene auf. Er fordert die Verstaatlichung des Erdgas und den Rücktritt des Präsidenten. Der Anführer der MAS, Evo Morales, ist gegen den Streik und die Blockaden, und weist auf die Gefahr eines rechten Militärputsches hin. Er ändert seine Meinung erst, als die Bewegung schon voll im Gange ist, was aber die Regierung nicht daran hindert, ihm die unverdiente Ehre zukommen zu lassen, ihn als Anstifter der Revolte darzustellen.
Währenddessen setzen die Bauernführer ihren Hungerstreik in El Alto fort, der armen Vorstadt, die sich oberhalb von La Paz erstreckt, am Rande des Altiplano, an derselben Stelle, von wo aus die aufständischen Aymara von Julián Apasa die Stadt 1781 belagerten. Eine unendliche Vorstadt von niedrigen Häusern und Lehmmauern aus grauen Ziegeln, zwischen breiten Erdwegen, die sich am Horizont der Ebene verlieren – die Aymarastadt El Alto wird zur Hauptstadt der Revolte.
Am 8. Oktober erklären die Nachbarschaftskommitees (juntas vecinales) den unbefristeten Bürgerstreik; ab dem nächsten Tag kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Polizei und der Armee, die Panzer und Hubschrauber auffährt. Tausende von BewohnerInnen gehen auf die Straßen und bauen Barrikaden, zusammen mit Bergarbeitern und Bauern, die von überall her dazukommen; mit Steinen, Molotov-Cocktails und Dynamitstangen gelingt es ihnen, die Staatskräfte zurückzuschlagen. Bei Einbruch der Nacht des 10. Oktober ist El Alto in der Hand des bewaffneten aufständischen Volkes.
Die strategische Position konnte für die Aufständischen nicht günstiger sein. Von El Alto aus lässt sich der Flughafen kontrollieren, die zentrale Verteilstelle für Brennstoffe und die meisten Landstraßen, die La Paz mit dem Rest des Landes verbinden. Die Bauern aus der Umgebung machen die Belagerung komplett, indem sie die übrigen Zugangswege zur Regierungshauptstadt blockieren. Eine Gruppe von Bergarbeitern versucht, das Kraftwerk von Milluni am Fuß der Anden zu besetzen.
Die Militärs befürchten, dass ihnen der Sprit für ihre Fahrzeuge und Flugzeuge ausgehen könnte, und versuchen mit verzweifelter Gewalt und immer größerer Brutalität die Herrschaft über die Aufstandszone zurückzugewinnen. Die Bewohner von El Alto leisten heldenhaften Widerstand und verhindern die Durchfahrt eines Konvois von Tanklastern, der von Polizei und Armee eskortiert wird. Die Militärs ziehen sich mit Rückzugsgefechten in ihre Kasernen zurück, während die Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei sich die ganze Nacht lang hinziehen. Am nächsten Tag, am Sonntag, den 12. Oktober, gelingt ihnen der Durchbruch, wobei sie mit Gewehren und Maschinengewehren von Hubschraubern aus schießen. 25 Aufständische werden auf der Brücke des Río Seco eingekreist und sterben im Kugelhagel. Als der Tanklaster-Konvoi, begleitet von den MG-Salven der Armee, schließlich auf die Autobahn nach La Paz gelangt, gibt es bereits mehr als vierzig Tote.
Der militärische Sieg der Regierungskräfte verwandelt sich unmittelbar in eine politische und moralische Niederlage. Fast alle empören sich über die willkürlichen Massaker, die die Entschlossenheit der Aufständischen noch anfachen. Am Montag, den 13. Oktober schließt sich die Bevölkerung von La Paz endlich dem Protest an. Die juntas vecinales rufen zu einer Demonstration zur Unterstützung für El Alto und als Protest gegen die Massaker auf, während die BewohnerInnen von El Alto mit dem Schrei ‘Jetzt erst recht: Bürgerkrieg!’ in die Stadt hinunterziehen.
An diesem Montag weiten sich die Auseinandersetzungen mit der Polizei auf die ganze Stadt aus, während sich die Proteste, Demonstrationen, Streiks und Straßenblockaden im Rest des Landes verbreiten: Cochabamba, Santa Cruz, Potosí, Sucre… Die USA, die Organisation Amerikanischer Staaten OAS, die Armee und Unternehmerverbände erklären ihre Unterstützung für den verfassungsgemäßen Präsidenten Sánchez de Lozada, der von der ‘Gewalt’ der Opposition redet und von einem subversiven Komplott, das Terroristen und Drogenhändler angezettelt hätten, um die bolivianische Demokratie zu zerstören. Aber selbst bei den Mittelschichten gibt es nur noch wenige, die diese immer realitätsferneren Reden des Mandatsträgers ernst nehmen. Journalisten, Intellektuelle und Künstler schließen sich der Forderung nach seinem Rücktritt an. Selbst der Vizepräsident, der Historiker Carlos Mesa, kritisiert die militärische Repression und distanziert sich öffentlich von Sánchez de Lozada, ohne allerdings von seinem Amt zurückzutreten, womit er sich als möglicher Ersatzmann für eine bald nötige Kompromisslösung ins Spiel bringt.
In La Paz wird der Streik fast überall befolgt: zum Transport, der sowieso schon durch den Spritmangel lahm liegt, kommen die Streiks der Lehrer, Metzger, Bäcker, Märkte… Die Streikenden bekommen von überall her Verstärkung: tausende von Bauern aus den nördlichen Provinzen, Coca-Bauern aus den Yungas, bewaffnete Bergarbeiter aus Oruro und Potosí.
Die Regierung sieht sich in die Enge getrieben, ordnet die Beschlagnahmung einiger oppositioneller Zeitungen an und droht, nicht weniger plump, denjenigen mit gerichtlicher Verfolgung, die den Rücktritt des Präsidenten fordern (was mittlerweile schon die Mehrheit im Land tut), während sie gleichzeitig ein Referendum zum Energiegesetz vorschlägt und sich zu Verhandlungen bereit erklärt. Aber es ist schon zu spät: Keiner will mehr mit dem Mörder der BewohnerInnen von El Alto reden. Das gesamte Land ist gegen die Regierung aufgestanden; die Proteste dehnen sich bis in die entferntesten Winkel des Landes aus, von den Ebenen des Chaco an der Grenze zu Paraguay bis zu den undurchdringlichen Tropenurwäldern von Beni, am Amazonas.
Der Belagerungsring um La Paz wird enger. Es gibt keine Transportmittel und die Geschäfte sind geschlossen. Die Lebensmittel werden langsam knapp. Anstelle des üblichen Rummels finden auf den Straßen Treffen, Versammlungen, Demonstrationen und sporadische Auseinandersetzungen mit der Polizei statt, in einer fast unerträglich angespannten Ruhe. In der Nacht von Sonntag, dem 19. Oktober verbreitet sich endlich die Nachricht, dass der Präsident in einem Militärhubschrauber nach Santa Cruz geflohen ist, von wo aus er in einem Flugzeug Richtung Miami startet. Von dort aus erklärt er am nächsten Tag formell seinen Rücktritt. Der Vizepräsident übernimmt die Macht und bittet um einen Waffenstillstand von 90 Tagen, um damit beginnen zu können, die Angelegenheiten des Landes in Ordnung zu bringen. Die Organisationen der Opposition gestehen ihm diesen Gefallen zu. Es kehrt wieder Ruhe ein, zumindest für einen Moment.
Die 90 Tage von Mesa:
Zusammenfassung eines angekündigten Betrugs
Wie vorherzusehen war endet die Waffenstillstandsfrist ohne Ergebnis. Der neue Präsident erweist sich in jeder Beziehung als würdiger Nachfolger des geflohenen Sánchez de Lozada; er setzt die gleiche Politik fort, mit geringfügigen Änderungen (wie den Export des Gases über Argentinien statt über Chile). Die sozialen Bewegungen fangen an, neue Mobilisierungen vorzubereiten. Am 8. April 2004 rufen die COB und die Bauernbewegung des Hochlandes zu einem unbefristeten Generalstreik und Straßenblockaden ab dem 2. Mai auf. Sie fordern die Verstaatlichung von Gas und Öl, die Rücknahme von Energie- und Rentengesetz, und generell ein Ende der neoliberalen Politik.
Währenddessen nähert sich die MAS, die alte Partei der Coca-Bauern, die immer mehr von ihren Mittelschichtsabgeordneten bestimmt wird, einem Konzept von ‘Sozialismus’ an, das das Privateigentum und die institutionelle Ordnung respektiert. Ihre Anführer stellen sich offen gegen die Streiks und Mobilisierungen, sie boykottieren sie und versuchen zu verhindern, dass sich die Basis der von ihnen kontrollierten Gewerkschaften und sozialen Bewegungen daran beteiligt. Wieder berufen sie sich auf die unmittelbare Gefahr eines Staatsstreiches und gehen so weit, die Anführer der COB als ‘Paramilitärs’ und Komplizen des Faschismus zu diffamieren. Zweifellos setzt Morales darauf, die nächsten Präsidentschaftswahlen, die für 2007 geplant sind, zu gewinnen. Das neue Image von Verantwortlichkeit und Mäßigung trägt ihm bereits den Applaus der Presse ein; er muss jetzt nur befürchten, dass er genau damit riskiert, die Unterstützung der Basis von Bauern und Arbeitern zu verlieren, aus deren Wahlstimmen er Kapital schlagen will.
Jetzt, Mitte Mai, nehmen die Straßenblockaden wieder zu, sowie die Streiks und Demonstrationen von LehrerInnen, LKW-Fahrern und GesundheitsarbeiterInnen, die von der Privatisierung des Öffentlichen Dienstes bedroht sind und sich den Mobilisierungen von Bauern und Bergarbeitern anschließen. Von überall her kommen die Delegationen in Patacamaya an, von wo aus sie ab dem 13. zur Demonstration nach La Paz aufbrechen, «für die Wiedererlangung der Rohstoffe, der Würde und der Souveränität«, eine Parole, die die Bauern der östlichen Provinz Santa Cruz bereits in die Praxis umsetzen, indem sie sich darauf vorbereiten, die Ölfelder zu besetzen.
Die Verstaatlichung von Gas und Öl ist, wie ein bolivianischer Journalist sagte, «zur Parole geworden, die die Armen Boliviens bewegt und vereint«. Wir können uns allerdings fragen, ob diese Parole nicht eine zweischneidige Waffe ist, da sie einerseits die verschiedenen sozialen Bewegungen unter einem gemeinsamen Ziel vereint und ihre Mobilisierungsfähigkeit verbreitert, aber sie gleichzeitig dem Einfluss der ‘Entwicklungsfraktionen’ der nationalen Bourgeoisie öffnet (den Kandidaten für zukünftige Führungsposten in den verstaatlichten Industrien) oder gar rechteren faschistischen Fraktionen, indem sie die Aufmerksamkeit von dem weglenkt, was anfänglich der Inhalt des Kampfes war: die Konfrontation zwischen den Bauerngemeinschaften und dem Staat, das heißt zwischen den freien und unabhängigen Versammlungen der ayllus und dem politisch-militärischen Despotismus, der sich auf Wahlen stützt und heute Demokratie genannt wird; zwischen den alten Gebräuchen gemeinschaftlichen Lebens und der herrschenden Ökonomie von Konkurrenz, Zerstörung und Vergeudung; letzten Endes zwischen zwei absolut unverträglichen Arten das Leben und das menschliche Zusammenleben zu verstehen.
Vor einigen Wochen haben sich auf der anderen Seite der Grenze die Aymara-Bauern der peruanischen Ortschaft Ilave (Puno) gegen den Staat erhoben und den von der Regierung eingesetzten Bürgermeister umgebracht, weil er ‘böse und korrupt’ war. Die Geste, die breiten Applaus bei den Bauern bekam, auf beiden Seiten der neokolonialen Grenze, die sie trennt, kommt vielleicht im richtigen Moment, um daran zu erinnern, was der Ursprung und die Ziele dieses Krieges waren.
Die Bauern und Arbeiter von Bolivien haben den Völkern der Welt ein Beispiel gegeben indem sie gegen die Folgen einer wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ordnung aufgestanden sind, die ständig das Leben negiert. Fehlt nur noch, dass alle verstehen, was die aufständischen Bewohner des Altiplano verstanden haben: dass sie mit der Erfahrung in ihren gemeinschaftlichen Versammlungen und Nachbarschaftsvereinigungen, mit ihren alten Gebräuchen von gegenseitiger Hilfe und gemeinsamer respektvoller Benutzung des Bodens, denen die alte und immer noch lebendige Erinnerung daran zugrundeliegt, wie eine Welt ohne Geld und Eigentum aussah (in der deshalb ein Wohlstand für alle möglich war, wie ihn die Entwicklungspolitiker heute noch nicht einmal zu versprechen wagen), dass sie damit schon den Faden in der Hand haben, der es ihnen erlauben wird, aus dem blutigen Labyrinth der herrschenden Unordnung herauszufinden.
Kaypachapi, Mai 2004
L.A.B. / F.E.S.
aus: Etcetera 38, Barcelona, Juni 2004
www.sindominio.net/etcetera