H.I.J.O.S.
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H.I.J.O.S.: den Tätern keine Ruhe lassen


Als erste gingen die Mütter auf die Straße, um die Freilassung ihrer Kinder zu verlangen, die von den Militärs in Argentinien entführt worden waren. Am 30. April 1977, mitten in der Diktatur, trafen sich die Madres zum ersten Mal auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires. Sie demonstrieren dort weiterhin jeden Donnerstag vor dem Regierungspalast, um Aufklärung über das Schicksal der 30 000 Verschwundenen der Diktatur und die Bestrafung der Täter zu fordern. Als nächste organisierten sich die Abuelas, die Großmütter, und machten sich auf die Suche nach ihren verschwundenen Enkeln. Mehr als 500 Kinder von Verschwundenen, die mit verhaftet oder während der Haft geboren worden waren, wurden ihren Familien geraubt und Militärs oder anderen Helfershelfern der Diktatur zur Adoption übergeben. Die meisten kennen ihre wahre Identität bis heute nicht. Seit 1995 organisieren sich nun auch die Hijos, die Nachkommen, um gegen die staatlich verordnete Straffreiheit vorzugehen.

Escrache!

Sie nennen sich H.I.J.O.S. 1 - »Nachkommen für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Verschweigen« - und haben einer neuen Aktionsform den Weg gebahnt, den Escraches. Dieses Wort stammt aus dem Lunfardo, der Sprache der ImmigrantInnen, der Unterklassen und des Tango am Río de la Plata. Escrache bedeutet »ans Licht bringen«. Solange sie nicht von einem Escrache heimgesucht werden, können die meisten Mörder in Uniform unerkannt, unbehelligt und angenehm in Argentinien leben. Die anfängliche Strafverfolgung der Diktaturverbrechen nach 1983 wurde auf Druck der Militärs mit dem 'Schlußpunktgesetz' und dem 'Gesetz über den Befehlsnotstand' schnell wieder beendet. Fast zwanzig Jahre nach dem Ende der Diktatur müssen Militärs und andere Verantwortliche nun aber damit rechnen, doch noch für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Die Escraches finden dort statt, wo der Täter lebt. Eine Demonstration zieht durch den Stadtteil bis vor sein Haus, das mit roten Farbbeuteln markiert wird - als Symbol für die begangenen Bluttaten. Mit einer Rede wird sein persönlicher Beitrag zur Unterdrückung bekannt gegeben. Dann zieht die Demo weiter und beendet die Aktion mit Musik und Tanz auf der Straße. Zurück bleiben Hinweise auf dem Bürgersteig oder an der Haustüre: »Hier wohnt ein Völkermörder / Folterer«.

Das erste Escrache von H.I.J.O.S. richtete sich gegen den Arzt Jorge Magnaco, der während der Diktatur in dem geheimen Folterzentrum ESMA 2 in Buenos Aires für Geburten zuständig war. Als eine ehemalige Gefangene zur Behandlung ins Krankenhaus Mitre ging, musste sie feststellen, dass derselbe Arzt dort wieder als Geburtshelfer arbeitete. Sie teilte dies H.I.J.O.S. mit, die den Skandal an die Öffentlichkeit brachten, indem sie vier Wochen lang jeden Freitag von dem Krankenhaus zur Wohnung des Diktaturarztes demonstrierten. Mit Erfolg: Magnaco wurde entlassen, und die Wohnungsbaugesellschaft legte ihm nahe, sich eine andere Wohnung zu suchen.

In der ersten Zeit folgten die Escraches Schlag auf Schlag. Etwa alle zwei Wochen zogen die H.I.J.O.S. aus, um einen Völkermörder oder Kindesentführer öffentlich zu verurteilen. Inzwischen finden weniger Aktionen statt, denn H.I.J.O.S. legen mehr Wert auf die Vorbereitung im Stadtteil. Oft vergehen Monate zwischen der ersten Kontaktaufnahme und dem eigentlichen Escrache, das gemeinsam mit Gruppen und Organisationen aus dem Stadtteil vorbereitet wird. Flugblätter und Wandparolen informieren vorab über den enttarnten Täter, sodass am Tag des Escrache schon allgemein bekannt ist, worum es geht. Es ist Ziel der Escraches, dass die NachbarInnen selbst die Aktion aufgreifen und die soziale Ächtung der Täter im Alltag weitertreiben: dass die Bäckerin ihm keine Brötchen mehr verkauft und er im Kiosk nicht mehr bedient wird, dass in Fenstern und Läden Plakate mit seinem Bild aufgehängt werden, und dass er sich nicht mehr unbehelligt auf der Straße bewegen kann, weil plötzlich alle wissen, welche finstere Vergangenheit dieser 'nette Nachbar' hat. An die Stelle der juristischen Verurteilung tritt die moralische und soziale. Da der Staat sich weigert, die Mörder in Uniform in den Knast zu stecken, machen ihnen nun die Leute das Leben »draußen« so unmöglich, dass ihnen der Knast als einziger Ort bleibt, an dem sie noch Ruhe hätten.

Für die Escraches werden immer wieder neue Ideen entwickelt, je nach der Situation im Stadtteil und den Vorschlägen der NachbarInnen. Eine Gruppe von Künstlerinnen weist mit verfremdeten Straßenschildern auf Wohnorte von Tätern hin und auf ehemalige Folterzentren in der Stadt, die sich z.B. hinter den Fassaden von Autowerkstätten verbargen. Theater-, Straßenkunst- und Musikgruppen sorgen dafür, dass die Escraches nie zu Latschdemos werden. Und am Ende wird jeweils auf der Straße gefeiert: »Die Straße gehört uns, nicht den Völkermördern, die haben hier nichts mehr verloren, die gehören in den Knast, wir wollen sie nicht mehr auf der Straße rumlaufen sehen«.

Nicht nur bekannte und bislang unbekannte Militärs, die 'kleinen Rädchen' der Diktatur werden mit Escraches geoutet, sondern auch zivile Helfershelfer und Nutznießer: Ärzte, die an Kindesentführungen beteiligt waren; Anwälte, die Papiere gefälscht und Händler, die sich an den Sachen der Verschwundenen bereichert haben; Kirchenvertreter, die den Verbrechen ihren Segen gaben, oder Politiker, die unter dem Schutz der Militärs die heutige Wirtschaftspolitik gegen die Arbeiterkämpfe der 70er Jahre durchgesetzt haben. Unter der Diktatur begann die Phase des sogenannten Neoliberalismus in Argentinien, mit Privatisierungen und Entlassungen, mit der Bereicherung von wenigen und einer Verarmung der Mehrheit, die inzwischen dramatische Ausmaße angenommen hat.





30 000 Gründe, weiter zu kämpfen

Die Geschichte von H.I.J.O.S. beginnt Ostern 1995 mit einem Zeltlager, bei dem sich siebzig Nachkommen von Verschwundenen treffen. Im Oktober desselben Jahres findet das erste landesweite Treffen von H.I.J.O.S. statt, mit 350 TeilnehmerInnen aus 14 Provinzen. Die neu gegründete Organisation wächst schnell und stößt sofort auf großes Medieninteresse, denn durch die öffentlichen Aussagen des pensionierten Militärs Scilingo ist das Thema der 30 000 Verschwundenen gerade wieder aktuell. Scilingo hat nicht nur die systematische Folter und Ermordung von Linken während der Diktatur zugegeben, sondern auch die Praxis der Todesflüge beschrieben. Die Gefangenen wurden betäubt in Flugzeuge verfrachtet und von dort aus lebendig über dem Río de la Plata ins Meer abgeworfen.

Im folgenden Jahr, am 24. März 1996, jährt sich zum zwanzigsten Mal der Militärputsch. H.I.J.O.S. rufen für 3.10 Uhr morgens, den exakten Zeitpunkt des Putsches, zu einem Fackelmarsch von der Plaza de Mayo zum Justizpalast auf. Zehntausend Menschen folgen dem Aufruf. Mit einer so großen Beteiligung hatte niemand gerechnet. Nach dieser Kundgebung bekommen mehrere Mitglieder der Organisation anonyme telefonische Drohungen, werden von Autos ohne Nummernschilder verfolgt und bedroht. Nachdem sie sich offiziell beschwert haben, kommt es zu einem Treffen mit dem Innenminister. Sein Angebot, ihnen Polizeischutz zu geben, lehnen H.I.J.O.S. ab, denn sie sind sich sicher, dass die Drohungen genau von dorther kommen, aus dem Polizeiapparat, der immer noch derselbe ist, der ihre Eltern umgebracht hat.

Mehr als eine Menschenrechtsorganisation

Die GründerInnen von H.I.J.O.S. sind im Schnitt zwanzig Jahre alt. Sie sind Nachkommen von Verschwundenen, Gefangenen und Exilierten. Auch in anderen Ländern, in Barcelona, Madrid, Paris, Montevideo, Mexico-City und Caracas bilden sich H.I.J.O.S.-Gruppen. Die Suche nach den damals geraubten Kindern und die Aufdeckung der wahren Identitäten sind wichtige Ziele der Organisation. Aber 'Betroffenheit' ist keine Bedingung, um Mitglied zu werden. Mitmachen können alle, die sich mit den 'Neun Punkten' einverstanden erklären (siehe Kasten), unabhängig von ihrem Alter oder familiären Beziehungen zu Opfern der Diktatur.

 

Neun Punkte: Grundsätze von H.I.J.O.S.
  • Die Völkermörder, ihre Komplizen, Nutznießer und Anstifter müssen vor Gericht gestellt und bestraft werden.
  • Tatsächliche Außerkraftsetzung der Straffreiheitsgesetze und Auflösung des Repressionsapparates.
  • Aufklärung der Identität unserer geraubten Geschwister.
  • Unabhängigkeit von allen Institutionen oder politischen Parteien.
  • Horizontale Organisierung und Bereitschaft zum Konsens.
  • Wiederherstellung der sozialen und solidarischen Zusammenhänge, die die Diktatur zerstört hat.
  • Nein zur sogenannten »Theorie von den zwei Dämonen«, die den Widerstand mit dem Staatsterrorismus gleichsetzt.
  • Wir beziehen uns auf den Kampf unserer Eltern und ihrer GenossInnen für ein gerechtes und solidarisches Land, für ein Land ohne Elend und Ausschluss, und wollen diesen Kampf weiterführen.
  • Freiheit für die politischen Gefangenen; Schluss mit der Verfolgung von sozialen KämpferInnen.

Wir vergessen nichts, wir verzeihen nichts, wir versöhnen uns nicht!

 

H.I.J.O.S. sind mehr als eine Menschenrechtsorganisation. Für sie sind die Verschwundenen nicht nur Opfer, sondern in erster Linie Militante und Revolutionäre. Sie beziehen sich auf die Kämpfe ihrer Eltern, auf die antikapitalistischen Kämpfe der 70er Jahre, und wollen diesen Faden wieder aufnehmen. Eine Diskussion darüber wird in Argentinien durch die verbreitete Theorie von den zwei Dämonen blockiert. Danach hat damals ein 'Schmutziger Krieg' zwischen Militärs und Guerilla stattgefunden, mit 'Fehlern und Exzessen' auf beiden Seiten. Der Widerstand der Linken wird so auf eine Stufe mit dem Terrorismus des Staates gestellt. Und mit dem NIE WIEDER zur Diktatur kann der Antikapitalismus dann praktischerweise gleich mit entsorgt werden. Denn Nie wieder Militärs bedeutet nach dieser Sichtweise ja auch: Nie wieder Militante.





Nie wieder »Halt dich raus«

Um solchen Geschichtsfälschungen und dem verbreiteten Nichtwissen etwas entgegenzusetzen, organisieren H.I.J.O.S. Diskussionen an Schulen. Durch ihre direkten Aktionen sind sie zu einem Bezugspunkt für Jugendliche geworden. Sie zeigen praktisch, dass man nicht auf die Institutionen warten muss, sondern selbst was machen kann. Während die Madres vor dem Regierungspalast demonstrieren und vom Staat fordern, dass er Gerechtigkeit walten lässt, gehen die Hij@s in die Stadtteile, um die Gerechtigkeit mit den Leuten selbst in die Hand zu nehmen (was nicht heißen soll, dass Madres sich nicht auch an Escraches beteiligen). H.I.J.O.S. lehnen Abhängigkeiten und Hierarchien ab. Sie finanzieren sich selbst (am liebsten mit Fiestas), und die basisdemokratische, horizontale Organisierung ist für sie nicht irgendeine Methode, sondern politisches Prinzip. In Buenos Aires teilen sie ihr Lokal mit der Motorradkurier-Gewerkschaft SIMeCa 3, der derzeit einzigen unabhängigen Gewerkschaft in Argentinien, die ohne Vorsitzende, Funktionäre und Bürokraten funktioniert. Eingeweiht wurde dieses Lokal Ende 2000 mit einem Straßenfest, bei dem Manu Chao unangekündigt auftauchte und spielte.

Für manche Jugendliche waren die Aktionen von H.I.J.O.S. Anstoß, selbst in der Schule, im Stadtteil oder bei der Arbeit aktiv zu werden. Genau das wollen H.I.J.O.S. erreichen: dass die Leute sich selbst einmischen. Eine der Überlebensweisheiten während der Diktatur, die bis heute nachwirkt, hieß »Halt dich raus«. Soziale und solidarische Zusammenhänge wurden gewaltsam zerschlagen - an ihre Stelle traten Vereinzelung und Schweigen. Bei den Escraches geht es auch darum, diese solidarischen Zusammenhänge wiederherzustellen. Die Treffen in den Stadtteilen im Vorfeld der Escraches können dazu dienen, das zerrissene soziale Netz neu zu knüpfen.

H.I.J.O.S. haben sich 1995 gegründet, in demselben Jahr, in dem die Arbeitslosen in Argentinien angefangen haben, sich als Piqueteros 4 zu organisieren und mit Straßenblockaden das Land lahm zu legen. Seitdem haben sich die Lebensbedingungen für die meisten ArgentinierInnen drastisch verschlechtert. Aber seit dem Aufstand am 19./20. Dezember letzten Jahres haben auch die basisdemokratischen Organisierungsprozesse eine unvorhergesehene Beschleunigung erfahren. Überall sind Stadtteilversammlungen entstanden, und die Aktionsformen von Piqueteros und H.I.J.O.S. haben sich flächendeckend verbreitet. Straßenblockaden und Escraches sind zum Volkssport geworden. 'Que se vayan todos' heißt die Hauptparole, die Politiker sollen alle abhauen, und kein Politiker kann sich mehr vor spontanen Escraches sicher fühlen. Auf der Straße, in der Bank, im Restaurant - wo auch immer sie erkannt werden, werden sie beschimpft und angegriffen. Sogar im Ausland: Aussenminister Ruckauf wurde im Februar wüst beschimpft, als er von Madrid nach Buenos Aires fliegen wollte. Die übrigen Passagiere wollten ihn nicht im Flugzeug dulden. Der Mann hat es verdient, auch im traditionellen Sinn der Escraches. 1975 hat er als Minister das Dekret zur Vernichtung der Subversion unterzeichnet, den damaligen Freibrief für die Militärs, gegen Gewerkschaften und Basisbewegungen vorzugehen, was er bis heute nicht bereut, trotz aller bekannten Folgen. Noch vor kurzem hat er sich stolz darauf bezogen und erklärt, dass er einen solchen Schritt jederzeit wieder tun würde...

(Aus: ila 259 - Oktober 2002)


Fußnoten:

1 Hijos por la identidad y la justicia contra el olvido y el silencio

2 Escuela de Mecánica de la Armada

3 Sindicato Independiente de Mensajeros y Cadetes, Unabhängige Gewerkschaft der Kuriere und Boten. Die motoqueros, die Motorradkuriere, sind durch ihre besondere Rolle im Aufstand vom 19./20. Dezember bekannt geworden. Sie wurden zum Info- und Kurierdienst der Bewegung, haben Wasser, Zitronen und Steine verteilt, Verletzte aus Gefahrenzonen weggebracht und gemeinsam die Bullen angegriffen. Zwei von ihnen wurden erschossen. Seitdem organisieren H.I.J.O.S. und SIMeCa am 20. jedes Monats eine Demonstration zu den fünf Orten im Zentrum von Buenos Aires, an denen DemonstrantInnen erschossen wurden.

4 Von piquete, eigentlich Streikposten, womit in diesem Fall bei den Arbeitslosen die Landstraßenblockaden gemeint sind. Zu den verschiedenen Organisationen und Strömungen der Piqueteros siehe www.wildcat-www.de

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