Wildcat: Migration und kapitalistischer Arbeitsmarkt. Segmentierung - Prekarisierung - Proletarisierung, 1995 [m002hamb.htm]


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Beitrag in der Dokumentation »Migration und Rassismus in europäischen Hafenstädten« des internationalen Kongresses 16.-19.2.1995 in Hamburg, S. 44-49.

Migration und kapitalistischer Arbeitsmarkt

Segmentierung - Prekarisierung - Proletarisierung

Wildcat Redaktion

Thesenpapier für die Arbeitsgruppe, das nur leicht überarbeitet und mit einigen Literaturhinweisen und Aktualisierungen versehen wurde.

1. Die Zuwanderung nach Europa wird zunehmen

Wanderungsbewegungen sind nichts neues. Die Zuwanderung neuer Arbeitskräfte - sei es aus anderen Staaten, sei es aus landwirtschaftlichen Regionen oder aus der Hausarbeit - kann geradezu als Funktionsbedingung kapitalistischer Arbeitsmärkte bezeichnet werden.

Die Bedeutung allein der offiziell registrierten Beschäftigung von Arbeitskräften, die eingewandert sind oder die keinen deutschen Paß haben, hat in den letzten zwanzig Jahren ständig zugenommen und sich in den Jahren 1987 bis 1992 sprunghaft erhöht, ihr Anteil liegt 1993 bei etwa 11 Prozent.

Die wissenschaftlichen Planungsinstitute gehen für die kommenden Jahrzehnte von einem weiterhin hohen »Zuwanderungsbedarf« von jährlich etwa 400 000 Personen für die Kapitalverwertungsinteressen in der BRD aus. [1] Dieser Bedarf an zugewanderten Arbeitskräften könne nur dann gesenkt werden, wenn mehr einheimische Frauen für Erwerbstätigkeit mobilisiert werden könnten. Es geht dem Kapital um die Mobilisierung »neuer« Arbeitskraft, die keinen kollektiven industriellen Erfahrungshintergrund hat und sich leichter veränderten Ausbeutungsbedingungen unterwerfen läßt. So wie das Kapital ständig seine technischen und organisatorischen Grundlagen revolutionieren muß, so braucht es auch die ständig erneute Durchmischung der Klassenverhältnisse.

Die Propagandisten der »Abschottung Europas« und Verfechter einer gesetzlich geregelten Zuwanderung sind sich über die Notwendigkeit der weiteren Zuwanderung einig. Der Streit geht nur um die Art der politischen Steuerung dieses Prozesses und seine Nutzung für eine Umgestaltung der »industriellen Beziehungen« in der BRD.

2. Neue Formen der Zuwanderung seit dem Anwerbestopp 1973

Die Zuwanderung ist seit dem Anwerbestopp nicht zurückgegangen, sondern hat ihre Formen geändert. Sie hat sich beschleunigt, globalisiert, differenziert und regionalisiert (Castles [2]), sie organisiert sich heute in einem höheren Maße selbst an transnationalen Netzen und an eigenen Strukturen innerhalb der Einwanderungsländer.

Der Anwerbestopp beendete eine Phase von Rotationsmigration, die ursprünglich angestrebt war und aufgrund der starken Rückwanderung in den Krisenjahren 1967 und 1975 durchführbar erschien. Nach 1973 wuchs aber die Wohnbevölkerung ohne deutschen Paß stark an. Nun wurden Familiennachzug und Asylrecht zur Einwanderung genutzt, die Zahl der Aus- und Übersiedler beginnt zu steigen. In der Weltwirtschaftskrise 1980-82 kommt es noch einmal zu einer starken Rückwanderung, unterstützt durch staatliche Rückkehrprogramme. Im folgenden Wirtschaftsaufschwung nimmt die Zuwanderung kontinuierlich zu, die Öffnung der osteuropäischen Arbeitsmärkte führt zu neuen Formen der Zu- und Arbeitswanderung.

Die heutige Migration in die BRD und andere Länder ist in einem höheren Maße selbstorganisiert. Den Menschen stehen mehr Möglichkeiten zur Verfügung, selber zu entscheiden, wohin, wie und wielange sie auswandern wollen. [3] Auf den prekarisierten Arbeitsmärkten finden sie leichter Einkommensmöglichkeiten und es hat sich ein »ethnisches Kleingewerbe« herausgebildet, das Menschen aus bestimmten Ländern Arbeits- und Lebensmöglichkeiten bietet. Gleichzeitig hat sich aber auch die Zahl der Herkunftsländer vergrößert und durch Gesetzesänderungen sind die Immigranten heute stärker in rechtliche Kategorien aufgespaltet.

3. Zuwanderung und Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt

Die Zuwanderung der 50er und 60er Jahre erschien als kontrollierbarer konjunktureller Puffer des Arbeitsmarktes. Die heutige Einwanderung wird vom Kapital für einen weitreichenden strukturellen Umbruch in den Klassenbeziehungen genutzt und beschleunigt diesen. Die neuen Arbeitsbedingungen kann das Kapital nicht einseitig diktieren, es muß an neuen Bedürfnissen und Verhaltensweisen ansetzen können.

Die Gastarbeiteranwerbung fiel in die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und sozialstaatlicher Reformpolitik. Die »Gastarbeiter« sollten als Konjunkturpuffer und zur Besetzung der unattraktiv gewordenen Jobs dienen, während den einheimischen ArbeiterInnen sozialer Aufstieg und Sicherheit versprochen wurde. Diese Politik stieß in den 70er Jahren an Grenzen, als überall der lange totgesagte Klassenkonflikt in den Revolten der FabrikarbeiterInnen [4] und der Jugendlichen wieder aufbrach - die heute viel diskutierte »Krise des Fordismus« begann.

Krise und Arbeitslosigkeit waren die unmittelbaren Antworten darauf. Die legale Zuwanderung von ausländischen ArbeiterInnen wurde gestoppt. Neue kapitalistische Konzepte propagierten den weitgehenden Verzicht auf die bisherige Fabrikarbeiterklasse: High-Tech-Rationalisierung und »menschenleere Fabriken« in den Metropolen, Auslagerung aller arbeitsintensiven Produktion in Länder des Trikonts. »Modernisierung der Volkswirtschaft« hieß das bei der SPD. Das Kapital mußte sich aber bald von der Illusion der »Vollautomatisierung« verabschieden und versuchte die Abpressung von Arbeit zu intensivieren und die Lohnkosten zu senken.

Das Kapital greift verstärkt auf prekäre Arbeitsverhältnisse zurück, die sich mit der Anfang der 80er Jahre heraufgetriebenen Arbeitslosigkeit beschleunigt verbreiten. [5] Voraussetzung für die Prekarisierung sind die Auslagerung von Produktionsteilen und die Zerlegung von Großbetrieben in kleinere Einheiten. In den Zulieferbetrieben und dem anschwellenden Transportsektor können geltende Rechte oder Tarifverträge unterlaufen werden. Durch die Zunahme von Dienstleistungen, die mit der Ausweitung der Warenökonomie verbunden ist (Fastfood, Pflegearbeit, Freizeitindustrie usw.), entstehen Felder für ein neues Kleingewerbe und Billiglohnarbeit.

Der Druck der Arbeitslosigkeit allein erklärt nicht diese Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse. Für die Aufsprengung bisheriger Garantien - die nie für alle ArbeiterInnen gegolten hatten! - war es entscheidend, daß an bestimmten Bedürfnissen bei den Arbeit oder Einkommen Suchenden angeknüpft werden konnte. Es sind vor allem die Bedürfnisse, aus bisherigen Strukturen auszubrechen, die das Kapital nutzen kann.

Die Ablehnung der normierten lebenslangen Arbeit war ein wichtiger Motor der Klassenkämpfe Anfang der 70er Jahre und sie blieb auch nach der politischen Niederlage dieser Bewegungen im Verhalten der einzelnen präsent. Sie bedienten sich der sozialen Garantien, und schufen in dem Maße, wie diese Garantien eingeschränkt wurden, »alternative« Arbeitsverhältnisse, an denen die kapitalistische Reorganisation anknüpfen kann.

Der gesellschaftliche Aufbruch war auch in starkem Maße von den Frauen getragen worden, die ihre traditionelle Rolle in Frage stellten. Um der bisherigen Abhängigkeit zu entkommen, suchen sie verstärkt nach einem eigenständigen Einkommen. Dabei sind sie aber aufgrund der weiter ihnen zufallenden Reproduktionsarbeit und der zugewiesenen Funktionen auf dem Arbeitsmarkt auf Teilzeitarbeit oder flexiblere und schlechter entlohnte Jobs angewiesen. Diese besondere Ausbeutung funktioniert und führt nicht sofort zu Kämpfen, weil diese Jobs als einzige Alternative zur Abhängigkeit vom Mann erscheinen.

Eine ähnliche und die in den letzten Jahren wichtigste Rolle spielt die neue Form der Immigration. Die Zugewanderten waren und sind bereit, sich auf andere Bedingungen einzulassen, da sie ihre Lebensmöglichkeiten hier zunächst im Vergleich zur Situation in ihren Herkunftsländern beurteilen. Sie schaffen damit ein spezifische Angebot an Arbeitskraft, das Kostensenkung durch Auslagerung und Fremdfirmen möglich macht. Sie übernehmen Jobs im Dienstleistungsbereich oder in der Landwirtschaft, die von einheimischen Arbeitskräften verweigert werden. Durch sie wurde es auch erst möglich, Branchen wie die Textilindustrie, die auf Marktnähe angewiesen sind, die aber aus Kostengründen in Billiglohnländer abgewandert waren, wieder in die Metropolen zurückzuholen. [6]

4. Segmentierung, Prekarisierung oder Proletarisierung - wo stehen wir heute?

Begriffe wie Prekarisierung und Segmentierung werden meistens so verstanden, daß eine Abkopplung verschiedener Arbeitsmärkte dauerhaft möglich ist. Die heutigen Spaltungsprozesse, die auch Segmentierungen entlang von »Ethnie«, Geschlecht, Alter oder Qualifikation beinhalten, dienen dem Kapital aber zu einem frontalen Angriff auf die bisherigen Garantien und industriellen Beziehungen.

Die neuen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt sind mit verschiedenen begrifflichen Konzepten betrachtet worden. Der Begriff der »Prekarisierung« oder der »atypischen Arbeitsverhältnisse« orientiert sich am Bild des »gesicherten« sogenannten »Normalarbeitsverhältnisses«. In der Wirklichkeit hat es solch ein gesichertes und als normal zu bezeichnendes Arbeitsverhältnis nie gegeben. Es war höchstens das Orientierungsziel einer reformerischen Politik und es geriet auch innerhalb der Arbeiterklasse in die Krise, bevor es normal werden konnte. Angesichts der schnellen Ausweitung neuer Arbeitsformen wurde es in der gewerkschaftlichen Diskussion als eine Art Verteidigungslinie erneut beschworen, nachdem zuvor das Elend dieser Normalarbeit z.B. in den Humanisierungsdebatten der 70er Jahre in der Schußlinie gestanden hatte. Heute ist es noch fraglicher geworden, von Normalarbeit zu sprechen. Denn Kriterien wie die tarifliche Absicherung sagen über die Qualität des Arbeitsverhältnisses immer weniger aus, wenn im Rahmen von Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen Flexibilisierungs- und Lohnsenkungsmöglichkeiten zunehmen. Beschäftigungssicherungsverträge wie bei der IGM, geringere Einstiegslöhne in der Chemie oder der Mobilitätszwang bei VW weisen in diese Richtung.

Ebenso verhält es sich mit den Segmentierungstheorien, die in den 80er Jahren breit diskutiert wurden und der Realität zu entsprechen schienen: eine Spaltung des Arbeitsmarktes in einen gesicherten und einen ungesicherten Bereich, in Stamm- und Randbelegschaft. Segmentierung bedeutet dabei vor allem, daß es fast keinen Austausch zwischen diesen Bereichen gibt, ein Wechsel vom einen in das andere Segment kaum vorkommt, und daß der zentrale, garantierte Bereich von den Abwertungsprozessen in den sekundären Arbeitsmärkten verschont bleibt.

Tatsächliche Segmentierung bedeutet daher nicht unbedingt eine politische Spaltung und Schwächung der Position in einem Segment, da zwischen ihnen keine Konkurrenz stattfindet. Keine kroatische Spargelstecherin konkurriert mit einem einheimischen Arbeitslosen. [7] Die immer wieder unternommenen Versuche, einheimische Arbeitslose zur Erntearbeit oder ähnlichen Jobs zu verpflichten, sind bisher am Widerstand der Betroffenen und der Weigerung der Bauern gescheitert.

In den aktuellen Strategien versucht das Kapital, diese Abschottungen aufzubrechen. Die in einem Bereich veränderten Bedingungen sollen auf andere Bereiche zurückschlagen. In der Krisenregion Ostdeutschland erprobte Verschärfungen werden in den Westen zurückimportiert und einheimische Arbeitskräfte sollen dieselben Zumutungen akzeptieren sollen, wie es die zugewanderten tun. Dazu werden bisher stabile Segmentierungen aufgebrochen, Arbeitsbedingungen und Löhne weiter aufgefächert, bis hin zu neuen Sweatshops, dem »Trikont in den Metropolen«. Die unter 2. angesprochene Differenzierung der Einwanderung wird genutzt, um die Bedingungen weiter aufzufächern.

Im Unterschied zur Segmentierung soll die allgemeine Konkurrenz unter den ArbeiterInnen vertieft werden. Lohn und Garantien sollen sich weniger auf bestimmte Gruppen, sondern auf den aktuellen »Marktwert«, d.h. die Leistungsfähigkeit der Arbeitskraft beziehen. Für die Montageindustrie wird eine derartige Intensivierung der Arbeit vorgeschlagen, daß nur ArbeiterInnen unter 40 mithalten können. Danach sei ein Wechsel auf prekäre Arbeitsmärkte erforderlich, flankiert von einer staatlichen Mindestsicherung. [8] Die Durchsetzung der »schlanken Produktion« führt bereits zu solchen Verhältnissen.

Die neuen Konzepte gehen über die Aufspaltung in gesicherte Stamm- und prekäre Randbelegschaft hinaus. An die Stelle von Zentren und Großfabriken sollen Netze von flexibler Produktion treten (die »fraktale Fabrik«) und an die Stelle von sozialen Garantien die bloße Orientierung an der individuellen Leistungsfähigkeit. Das Kapital zielt auf eine grundlegende Wende im Ausbeutungsgrad, weswegen es den Druck auf die gesamte Arbeiterklasse erhöhen muß. In diesem Sinne bedeutet die rapide Umstrukturierung und Neuzusammensetzung eine neue Form von Proletarisierung: das häßliche Gesicht der Lohnarbeit wird wieder sichtbar. Sie bietet keine Garantien, sondern ist Unterwerfung unter das Kapitalkommando und prinzipiell prekär.

5. Weltmarktarbeitskraft in der Bauwirtschaft

In der Bauwirtschaft wird heute offen die Ausbeutung von Arbeitskraft zu Weltmarktpreisen gefordert. Vor dem Hintergrund von Konflikten und neuen Kämpfen streiten die verschiedenen Fraktionen des Kapitals um die wirksamsten Formen der Regulierung dieser Arbeitskraft.

Beispielhaft wollen wir die neuen Entwicklungen am Bausektor [9] darstellen, der schon immer stark von Wanderarbeit und prekären Arbeitsverhältnissen geprägt war und an dem sich aktuell eine zugespitzte politische Diskussion entwickelt hat. Arbeit auf dem Bau hat keinen festen Ort und ist stark saisonabhängig, sie erfordert daher immer die Mobilität der Arbeitskräfte. Durch Reformpolitik wurde versucht, diese Arbeitsmärkte durch Garantien wie das Schlechtwettergeld zu festigen. Mit seiner Einführung Ende der 50er Jahre sollte der Bauarbeit ihr prekärer und proletarischer Charakter genommen werden. [10] Der chronische Arbeitskräftemangel konnte dadurch aber nicht überwunden werden, es bedurfte ständig erneuter Zuwanderung für diese dreckige und schwere Arbeit.

Auch in der Baubranche setzen die ersten Angriffe des Kapitals auf die sozialen Garantien in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ein. Die bisherigen Bedingungen wurden durch den Einsatz von Leiharbeit und Subunternehmern untergraben, die Löhne werden in Fragen gestellt. 1982 verbietet der Staat die Leiharbeit auf dem Bau, was die Ausweitung dieser nun »illegalen« Arbeit nicht verhindert. Die Unternehmer versuchen in den 80er Jahren, Lohnbestandteile wie das Weihnachtsgeld zu streichen, kommen nach einigen gewerkschaftlichen Mobilisierungen damit aber noch nicht durch. Aber der Arbeitsdruck wird z.B. durch Akkordvorgaben verschärft.

Mit der sprunghaften Neuzusammensetzung der Arbeitskraft auf dem Bau, werden die sozialstaatlichen Garantien wie das Schlechtwettergeld in Frage gestellt. Sie werden nicht mehr gebraucht für die Absicherung des Arbeitszwangs, die zugewanderte und rotierende Arbeitskraft kann auf die Reproduktionssicherung in ihren Herkunftsländern verwiesen werden. Als Illegale, Scheinselbständige oder Werkvertragsarbeiter fallen sie sowieso aus der sozialstaatlichen Sicherung heraus.

Den ansässigen Arbeitern werden damit soziale Garantien geraubt und gleichzeitig wird ihnen ein »Schutz ihrer Arbeitsplätze« durch rassistische Propaganda und Razzien gegen Illegale angeboten, woran sich auch die Gewerkschaft beteiligt. Tatsächlich dienen die Razzien nur der Kontrolle der zugewanderten Arbeitskraft, halten sie rechtlos und verhindern Kämpfe. Unter Druck gerät aber auch das klein- und mittelständige Baukapital, da es seine Baupreise nicht mehr halten kann. Zusammen mit den Gewerkschaften fordert es die staatliche Absicherung von Tariflöhnen im Baubereich, was vom Arbeitsministerium mit dem Vorschlag der europäischen Entsenderichtlinie aufgegriffen wird. Andere Kapitalfraktion wehren sich dagegen mit dem Hinweis, daß dieses Modell einer nationalen Absicherung von Kapital und Arbeitskraft passé sei: »Stellen Sie sich vor, unser deutscher Textilgroßhandel dürfte nur noch Hemden in den Verkehr bringen, die im Ausland zum deutschen Tariflohnniveau genäht wurden. Mit Entrüstung würden wir vergleichbare Ansinnen zurückweisen. Aber genau diese Forderung erhebt nun die Bauwirtschaft mit ihrer Gewerkschaft.« (FAZ 24.1.95) So offen ist die Forderung, hierzulande ArbeiterInnen zu beliebig niedrigen Weltmarktlöhnen ausbeuten zu dürfen, bisher selten ausgesprochen worden. [11] Dieselbe politische Fraktion, die propagandistisch eine harte Linie der nationalen Abschottung vertritt, wird im Streit um die Entsenderichtlinien zum Verfechter von »Grenzen auf« für die billigste Arbeitskraft, die zu bekommen ist. Der Vergleich zwischen freiem Welthandel mit Waren und mit Arbeitskraft scheint ihre rassistische Abschottungspropaganda ad absurdum zu führen. Tatsächlich wird aber hier der tiefere, für das Kapital funktionale Sinn des staatlichen Rassismus deutlich. Er garantiert, daß diese zugewanderte Arbeitskraft sich nicht sofort an den hiesigen Lebensbedingungen orientiert und sie einfordert. Was bei der besonderen Ware Arbeitskraft nur fiktiv möglich ist, nämlich die Ware von ihrem Besitzer zu trennen, soll durch die Illegalisierung gewaltsam erreicht werden: in Polen leben, in Deutschland arbeiten.

Aber auch den Verfechtern der Entsenderichtlinie geht es um die Verschärfung der Ausbeutung. Anfang Januar '95 kündigte der Berliner Senat einen Alleingang bei der Sicherung des tariflichen Lohnniveaus auf dem Bau an, falls es zu keiner nationalen oder europäischen Regelung kommen sollte. Im gleichen Atemzug warnt er die Bauindustrie davor, die Baupreise zu erhöhen. Das ist nichts anderes als die staatliche Aufforderung, endlich auch die ansässigen Bauarbeiter so unter Druck zu setzten und ihnen soviel am Lohn zu nehmen, daß ihre Arbeitskraft auf dem Weltmarkt für Bauarbeit konkurrenzfähig wird. Ein nationales Zurück hinter die neoliberale Öffnung der Grenzen für Waren soll es nicht geben. Über das Ziel einer massiven Arbeitsintensivierung sind sich beide Seiten einig, der Streit geht nur darum, wie die Arbeiterklasse am wirksamsten angegriffen, gespalten und kontrolliert werden kann - nur über die Konkurrenz oder durch staatliche und gewerkschaftliche Regulierung. [12]

6. Der Nationalismus der Gewerkschaft

Die Gewerkschaften stehen der neuen Zuwanderung defensiv gegenüber und halten an einer nationalen Sozialpartnerschaft fest, die die Abschottung der Arbeitsmärkte erfordert. Dies beruht nicht auf einer besonderen staatlichen Einbindung der Gewerkschaften oder der politischen Gesinnung der Führung, sondern liegt in dem begründet, was Gewerkschaft wesentlich ist.

Die IG BSE beteiligt sich unübersehbar an der Propaganda gegen die durch den Staat als »illegal« definierten Arbeiter. Auf der politischen Ebene vertreten die Gewerkschaften eine restriktive Handhabung der Zuwanderung, wie z.B. in der Diskussion um die Abschaffung des Asylrechts in der BRD. [13] Zuwanderung soll nur soweit erfolgen, wie die Arbeitsplätze und Garantien der ansässigen Arbeitskraft dadurch nicht bedroht werden. Schon vor dem ersten Weltkrieg, als die Stellung der Gewerkschaften noch nicht rechtlich gesichert war, forderten die Gewerkschaften in Krisenzeiten die Zurückweisung der zugewanderten ArbeiterInnen und die Bevorzugung der Ansässigen. [14] Gewerkschaften unternehmen in der Regel keine besonderen Anstrengungen, die Zugewanderten zu organisieren. Erst in dem Maße, wie sie ansässig werden und eigene Kämpfe entwickeln, entdecken die Gewerkschaften hier ein Organisierungspotential.

Diese empirischen Beobachtungen sind nicht zufällig und erklären sich nicht aus einem besonderen Charakter der Gewerkschaften in Deutschland oder ihrer politischen Orientierung. [15] Gewerkschaften organisieren die Interessen der ArbeiterInnen als VerkäuferInnen von Arbeitskraft. Der Marktpreis dieser wie jeder Ware kann um so effektiver hoch gehalten werden, je geschützter der jeweilige Markt gegen Konkurrenten ist. Im Falle des Arbeitsmarktes bedeutet dies, daß Zutrittsbarrieren existieren, die z.B. an der Ausbildung, am Geschlecht oder an der Nationalität festgemacht werden. Daher beziehen sich Gewerkschaften positiv auf solche Barrieren, die sich auch innerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen wieder. In Ländern, die selber Auswanderungsländer sind, wird dieser positive Bezug auf Nationalität nicht akut und erlaubt daher ein »internationalistisches« Auftreten, strukturell ist er aber genauso vorhanden.

Arbeitsmarktbarrieren konnten nie von den Gewerkschaften selbst dauerhaft hergestellt werden. In Zeiten politischer Verfolgung und eines Koalitionsverbots setzen sie zwangsläufig auf eine gewisse Autonomie: eigene Kooperationen, die im Falle von Arbeitslosigkeit oder Streik materielle Hilfe gewähren, eigenständige Versuche, Nichtorganisierte vom Arbeitsmarkt fern zu halten usw.. Aufgrund der fehlenden Anerkennung durch Staat und Unternehmer blieben diese Organisierungen aber stark konjunkturabhängig. Es lag und liegt daher in der Logik gewerkschaftlicher Organisierung, sich auf den Staat als Regulator der nationalen Gesellschaft zu beziehen und von ihm die Rahmenbedingungen wie Koalitionsrecht, Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik zu fordern, die eine dauerhafte und stabile gewerkschaftliche Organisierung erst ermöglichen. Staat und Unternehmer gewähren diese Anerkennung in dem Maße, wie sie auf Vermittlungsformen für den Klassenkonflikt angewiesen sind.

Aufgrund der eigenen Schwäche werden die ArbeiterInnen, deren gesicherten Positionen bedroht sind, in Krisenzeiten diese verstärkte Wendung zum Staat mittragen, solange sie nur von ihrem Interesse als vereinzelte Verkäufer der Ware Arbeitskraft ausgehen. Sobald es zu Konflikten kommt, artikulieren sich aber auch dem entgegenstehende Interessen, in denen der Verkauf der Arbeitskraft nicht nur als Erfolg, sondern auch als die Qual des ständigen Arbeitszwangs gesehen wird. In einigen Konflikten, die sich sowohl gegen die Drohung von Entlassung als auch gegen die mit dieser Drohung erpreßte Arbeitsintensivierung richteten, ist dieser Widerspruch aufgebrochen. In solchen Situationen, in denen eine praktische Kritik an dem Dasein als LohnarbeiterIn aufschimmert, muß es der gewerkschaftlichen Organisation darum gehen, Staat und Kapital die Wirksamkeit und Notwendigkeit gewerkschaftlicher Konfliktregulierung zu demonstrieren, um deren Anerkennung zu behalten.

Die aktuelle Proletarisierung kann daher von den Gewerkschaften nicht aufgegriffen und zu einer entsprechend radikalen Konfliktlinie entwickelt werden, weil der Inhalt dieser Konfrontation zwangsläufig über die Verteidigung der Verkaufsinteressen hinausgeht. [16] Bei dem Versuch, solche Konflikte zu fördern und zu unterstützen, werden wir oft auf die Feindschaft der gewerkschaftlichen Strukturen stoßen. Das schließt nicht die Unterstützung von einzelnen Gruppen in ihnen aus, aber unsere eigenen praktischen Anstrengungen an sie zu binden oder von der Erreichung ihrer Unterstützung abhängig zu machen, wäre fatal. [17]

7. Neue Kämpfe und politische Praxis

Neue Kämpfe entwickeln sich zunächst innerhalb einzelner Arbeitsmärkte. Sie stoßen aber auf Konfrontationslinien, die darüber hinausweisen. Entlang der produktiven Zusammenhänge des Kapitals können sich diese Kämpfe gegenseitig wahrnehmen. Unsere Aufgabe ist es, die verschiedenen Situationen zu untersuchen, dieses Wissen und die Erfahrungen einzelner Kämpfe zirkulieren zu lassen, Verbindung und Netze herzustellen, die über die Abschottung der Arbeitsmärkte oder der Territorien hinausgehen.

Die Situation der »Linken« ist heute stärker denn je davon geprägt, daß sie von den konkreten Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten abgeschnitten ist. Es fehlt an direkten Kontakten und Untersuchungsarbeit findet fast nur noch in der institutionalisierten Sozialforschung statt. Diese Untersuchungen sind auch für uns wichtig, aber sie verbinden sich nicht mit einer radikalen politischen Praxis. Viele kleine Konflikte - sei es in den miesesten Schwitzbuden, sei es in den modernisierten Fabriken mit ihrem unerträglichen Arbeitstempo - bleiben getrennt voneinander, enden in Sackgassen. Oft zirkuliert nicht einmal das Wissen über sie, werden die in ihnen gemachten Erfahrungen nicht ausgetauscht. [18]

Um beim Beispiel der Bauwirtschaft zu bleiben: einige dieser kleinen Konflikte haben gezeigt, wie brüchig die ganzen Spaltungslinien im Konfliktfall werden können. Als im Mai letzten Jahres in Berlin britische Bauarbeiter wegen ausstehender Löhne zwei Kräne besetzten und damit die gesamte Baustelle blockierten, übernahm sofort der Generalunternehmer die Verhandlungen, obwohl er formal für diese Arbeiter eines Subunternehmers gar nicht zuständig war. Ähnlich ist die Situation in den neuen Fabrikstrukturen, wo Streiks in kleinen Zulieferklitschen den gesamten Produktionsverbund blockieren können. An Punkten, an denen der Staat den allgemeinen Angriff auf die Arbeitsbedingungen vorantreibt, können Bewegungen explodieren, in denen die vorgegebenen »ethnischen« Spaltungen nicht mehr funktionieren - wie es in der Jugendbewegung Anfang letzten Jahres in Frankreich gegen die Absenkung des Mindestlohns geschehen ist. Für einen kurzen Augenblick war diese Bewegung stark genug, das Projekt der Regierung zu kippen und z.B. die Wiedereinreise zweier algerischer Jugendlicher durchzusetzen, die wegen der Beteiligung an militanten Demos abgeschoben worden waren. [19]

In der Migrationsforschung ist festgestellt worden, daß die neuen Formen der Zuwanderung nicht allein aus dem Wohlstandsgefälle zwischen verschiedenen Ländern erklärt werden können. Entscheidend für die Migration sind Verbindungen und Netze, die vom Kapital im Zuge der Globalisierung der Produktion geschaffen wurden (Sassen, Castles). Sie werden von den Menschen herumgedreht und für ihre Suche nach besseren Lebensbedingungen genutzt. Diese Bewegungen und Netze haben eine wesentliche Bedeutung für revolutionäre Politik, um die Begrenzung auf den nationalen Rahmen überwinden zu können. Die Ein- und Auswanderung von Kampferfahrungen schafft Ansatzpunkte für eine Organisierung entlang der globalen Arbeitsmärkte, für Kämpfe auf dem Terrain, auf dem wir das Kapital auch schlagen können.


Fußnoten:

[1] z.B. Studien des industrienahen Institut der deutschen Wirtschaft von 1993 und 1995.

[2] s. Zehn Thesen zur Einwanderungspolitik, Frankfurter Rundschau vom 12.10.92, abgedruckt im Kongreß-Reader.

[3] Eine beispielhafte Beschreibung der neuen Wanderungsformen findet sich bei: Mirjana Morokvasic, Pendeln statt Auswandern. Das Beispiel der Polen, in: Morokvasic/Rudolph, Wanderungsraum Europa, Berlin 1994.

[4] Zur Rolle der ausländischen ArbeiterInnen in diesen Kämpfen: Eckart Hildebrandt/Werner Olle, Ihr Kampf ist unser Kampf. Ursachen, Verlauf und Perspektiven der Ausländerstreiks 1973 in der BRD, Frankfurt 1975; Hans-Günter Kleff, Vom Bauern zum Industriearbeiter. Zur kollektiven Lebensgeschichte der Arbeitsmigranten aus der Türkei, Ingelheim 1984.

[5] Einen Überblick über die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse geben die Aufsätze in Nr. 9/1993 der WSI-Mitteilungen. Zur Scheinselbständigkeit als prekärer Arbeit s. Udo Mayer/Ulrich Paasch, Ein Schein von Selbständigkeit. Ein-Personen-Unternehmen als neue Form der Abhängigkeit, Köln 1990.; Schöner Schein - eine neue Selbständigkeit zweiter Klasse breitet sich aus in Deutschland, in: Wirtschaftswoche v. 8.7.94.

[6] Siehe dazu die Untersuchungen von »Stichting Opstand« aus Holland (dargestellt in Wildcat Nr. 57, 1991: Illegale ArbeiterInnen organisieren sich) und: Mirjana Morokvasic, Die Kehrseite der Mode, in: Prokla 83, 1991.

[7] Eine Studie des RWI vertritt die These, daß es bei der starken Zuwanderung Ende der 80er Jahre nicht zu »Verdrängungen« auf dem Arbeitsmarkt gekommen ist. S. Arne Gieseck u.a., Wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte der Zuwanderung in die Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte v. 12.2.93.

[8] So explizit formuliert z.B. vom europäischen General-Motors-Chef Hughes in einem Interview, Die Woche v. 7.4.94. Siehe ausführlicher dazu das Editorial von Wildcat Nr. 64/65.

[9] Für die Arbeitsgruppe war ein Co-Referat zur Entwicklung im Putzsektor vorgesehen, das ausfiel.

[10] s. Bernd Schütt, Versicherungsagentur oder Kampforganisation. Die Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden in den 50er und 60er Jahren; Jörn Janssen, »Lohn für ein Arbeitsleben«. Tarifpolitische Weichenstellungen im Baugewerbe; in: Arno Klönne u.a. (Hg.), Hand in Hand. Bauarbeit und Gewerkschaften. Eine Sozialgeschichte, Frankfurt 1989.

[11] In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Zweitregister in der Seeschiffahrt vom Januar 1995 wird das Prinzip, Arbeitskräfte entsprechend der Reproduktionskosten in ihrem Herkunftsland zu entlohnen, zum ersten Mal juristisch ausdrücklich anerkannt.

[12] In der Begründung zum Entwurf einer nationalen Entsenderichtlinie, die von Arbeitsminister Blüm im Juli '95 vorgelegt wurde, heißt es: »Zudem wird die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie durch Anwendung ausländischer Bestimmungen in einem ganzen Wirtschaftsbereich untergraben.« Ausführlicher betrachten wir die aktuelle Entwicklung in: Razzien und Entsenderichtlinie auf dem Bau. Staatliche Regulierung oder multinationale Arbeiterpolitik? in: express 8/95.

[13] Trotz anderslautender gewerkschaftlicher Beschlüsse signalisierten die wichtigsten Gewerkschaftsvorstände in der Asyldebatte 92/93 ihre Zustimmung zu der de-facto-Abschaffung des Asylrechts. S. Peter Kühne/Nihat Öztürk, Flüchtlingsdrama und Gewerkschaften, in: Peter Kühne u.a. (Hg.), Gewerkschaften und Zuwanderung. Eine kritische Zwischenbilanz, Köln 1994.

[14] Siehe: Martin Forberg, Ausländerbeschäftigung, Arbeitslosigkeit und gewerkschaftliche Sozialpolitik. Das Beispiel der Freien Gewerkschaften zwischen 1890 und 1914, in: Archiv für Sozialgeschichte 1987.

[15] Selbst die unzweifelhaft als links geltenden United Farm Workers, die durch ihre Boykott-Aktionen Anfang der 70er Jahre auch hier bekannt geworden waren, beteiligten sich eine kurze Zeit an Razzien auf Illegale und lieferten sie den Behörden aus, weil sie sie als Streikbrecher und Lohndrücker betrachteten. Erst die Kritik der erstarkenden Chicano-Bewegung führte zu einer Änderung dieser Politik.

[16] Eines der wenigen historischen Gegenbeispiele sind die IWW zu Anfang dieses Jahrhunderts in den USA, die die Kämpfe des zugewanderten Massenproletariats entwickelten. Sie orientierten sie aber gerade nicht an formaler Organisierung und Anerkennung durch die Unternehmer, sondern an Kampfformen der direkten Aktion.

[17] Wenn von den Gewerkschaften die Arbeitswanderer in erster Linie als Lohndrücker gesehen und ihnen die Fähigkeit zu Kämpfen abgesprochen wird, dann liegt das auch daran, daß nur bestimmte Widerstandsformen wahrgenommen werden. Dies gilt auch für die historische Forschung, die - wie Dirk Hoerder schreibt - Arbeitswanderer aufgrund von Vorurteilen selbst dort als Streikbrecher und Lohndrücker dargestellt hat, wo sie tatsächlich Militanz und Organisationsvermögen zeigten. Dirk Hoerder, Arbeitswanderung und Arbeiterbewußtsein im atlantischen Wirtschaftsraum: Forschungsansätze und -hypothesen, in: Archiv für Sozialgeschichte 1988. Auch heute werden Kampfformen jenseits des gewerkschaftlich organisierten Streiks ausgeblendet.

[18] Daher ist eine Praxis wie die der Berliner BauarbeiterInnen-Gruppe wichtig, die erst einmal die Konflikte festhält, mehrsprachig zirkulieren läßt, Kontakt zu den ArbeiterInnen aufnimmt, Netze in die Herkunftsländer knüpft usw.. Im Juni '95 unterstützten sie den Kampf von italienischen Bauarbeitern in Schmannewitz bei Leipzig um ausstehende Löhne und brachten ihn in die Öffentlichkeit. Siehe die Reportage »Streik auf dem Bau« in: Junge Welt v. 17.6.95.

[19] Siehe: »Das Glück ist immer ein neuer Gedanke«. Die Bewegung im Frühjahr 1994, in: Wildcat Nr. 64/65.


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