Weg mit der Karriereleiter:
Universitäten in der KriseGeorge Caffentzis (aus: ZEROWORK, Political Materials, No. 1, December 1975)
Streiks, Sit-ins, Demos? Die vertrauten Bilder der Sechziger schienen sich letztes Jahr an den nordamerikanischen Universitäten zu wiederholen. Aber die neuen Aktionen haben, wie die Massenmedien anmerkten, einen pragmatischen, ökonomischen Ansatz. Nichts mehr mit Spaßguerrilla, keine Schweineblutattentate auf Unirektoren. Stattdessen: studentische »Arbeiterstreiks« in Athens, Ohio; ein Sit-in gegen die Erhöhung der Studiengebühren in Cornell; der erste landesweite Dozentenstreik im Bundesstaat New Jersey; Streiks und Demos gegen Kürzungen der Studienförderung und die Streichung von Dozentenstellen an der New York City University. Von den »politischen« Forderungen der späten sechziger Jahre (Schluß mit der Kooperation der Uni bei der Wehrerfassung und der Forschung zu Kriegszwecken, Abschaffung der Zensuren, keine Beschneidungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, Einrichtung von »alternativen« Vorlesungen, Öffnung der Uni für alle, Schluß mit der Elite-Uni) gingen die Studenten Mitte der siebziger Jahre zu »ökonomischen« Forderungen über: keine Erhöhung der Studiengebühren, keine Ausrichtung der Uni nach »Produktivitätskriterien«, keine Entlassungen, Lohn für die »Lern-Arbeit«. Von der großen Politik zu grauer Ökonomie in nur vier Jahren?
Eine solche Beschreibung der Studenten- und Dozentenbewegung in den USA kann uns sicher nicht zufriedenstellen. Zweifellos gibt es Unterschiede zwischen 1965 und 1975, aber sie lassen sich nicht einfach in das Raster politisch/ökonomisch einordnen, denn diese Unterscheidung mystifiziert unweigerlich jegliche Klassenkampfanalyse in einer kapitalistischen Gesellschaft. In diesem System sind wirtschaftliche Verhältnisse Machtverhältnisse und von daher politisch. Manche mögen jetzt sagen: »Das mag ja alles für den Kapitalismus insgesamt richtig sein, aber an den Unis findet doch kein Klassenkampf statt. Universitäre Bewegungen können höchstens den Kampf der Arbeiterklasse begleiten und unterstützen, aber ...« Hinter diesem Einwand verbirgt sich die Unterscheidung zwischen ökonomischer Basis und ideologischem Überbau. Natürlich gehört die Hochschule in den »ideologischen« Bereich und scheint deshalb der grundsätzlichen Dynamik des Klassenkampfes entzogen. Wir können an dieser Stelle nicht ausdiskutieren, was diesem »Ideologiebereich« so alles zugeordnet wird, aber um einige Bemerkungen zu diesem Thema kommen wir doch nicht herum, denn diese Spaltung in Basis und Überbau kann der Politik im Hochschulbereich störende Grenzen setzen. Die Linke setzt die ökonomische Basis häufig gleich mit entlohnter Arbeit und reserviert die Kategorie »Ideologie« für die nichtentlohnte Arbeit. Für die revolutionäre Organisierung bedeutet das dann, daß der in Lohnarbeit stehende Teil der Bevölkerung als zentraler Machtfaktor aufgefaßt wird, während der Teil, der nichtentlohnte Arbeit leistet, eine zweitrangige und von daher bestenfalls unterstützende Funktion zugewiesen bekommt. Durch diese Gleichsetzung aber akzeptiert die Linke die kapitalistische Spaltung der Arbeiterklasse und übernimmt die grundlegende Illusion (oder Ideologie) des Lohns!!! Der Lohn ist die illusorischste Beziehung zwischen Arbeit und Kapital, weil er die unbezahlte Arbeit versteckt, d.h. den Teil der Arbeitszeit, den sich das Kapital ohne Gegenleistung aneignet. Sicherlich hat die Linke die Bedeutung der nichtentlohnten Arbeit innerhalb der Fabrik thematisiert, aber die außerhalb der Fabrik ohne Lohn geleistete Arbeit hat sie niemals miteinbezogen. [1] Das geht so weit, daß heute, in einer Zeit, in der das Kapital zunehmend von der Ausbeutung nichtentlohnter Arbeit außerhalb der Fabriken abhängig ist, die Linke es nicht nur unterläßt, die Macht der Kapitalisten an diesem Punkt in Frage zu stellen, sondern sogar indirekt zur Aufrechterhaltung des Status Quo beiträgt.
Im universitären Bereich eignet sich das Kapital nichtentlohnte Arbeit in zwei Formen an:
1. bei der Entwicklung neuer »Produktivkräfte« durch Forschung, also das, was Marx »die Macht des vergegenständlichten Wissens« nannte.
2. durch die Reproduktion von Arbeitskraft und der damit einhergehenden Reproduktion von verschiedenartigen Hierarchien unter den Arbeitskräften (durch Selektion, Spaltung und soziale Ausgrenzung).
Auf diese Weise eignet sich das Kapital Bildung als kostenlosen Teil seines eigenen Reproduktionszyklus an. Gemäß seiner Stellung als weltweit hochentwickeltste Kapitalfraktion erkannte das US-Kapital schon früh die Bedeutung dieser Art von Arbeit. So wurden bereits im 19. Jahrhundert in ländlichen Gebieten staatliche Colleges errichtet, an denen landwirtschaftliche Forschung betrieben wurde. Im Handels- und Verkehrszentrum New York hingegen schuf man 1847 eine »freie« Universität, die ausschließlich dazu dienen sollte, Büroangestellte und andere Arbeitskräfte für den lokalen Arbeitsmarkt heranzubilden. Seit dem 19. Jahrhundert war sich das Kapital also darüber im Klaren, daß die Universität keineswegs nur ein feudales Fossil oder eine ideologische Tretmühle war.
In diesem Artikel möchte ich einen Überblick über die Entwicklung des Klassenkampfes an den nordamerikanischen Universitäten seit 1960 geben. Dabei wird eine Unterteilung in vier Abschnitte vorgenommen, die sich grob an der chronologischen Abfolge orientiert: Kennedys Humankapital-Strategie (1960-65), die Verweigerung der Entwicklung (1965-70), der »fiskalische« Gegenangriff (1970-75), der Lohnkampf und die Linke (1975).
1960 - 1965: Die Humankapital-Strategie
Direkt nach dem 2. Weltkrieg, im Zuge der Entlassung der Arbeiter aus der Armee, führten die den Kriegsveteranen gezahlten, staatlichen Ausbildungszuschüsse zu einer merklichen Erhöhung der Staatsinvestitionen in den Bildungsbereich. Durch diese Gelder entstand zum ersten Mal ein neuer Studententyp, der seinen Lohn explizit für »Lern-Arbeit« als Vorbereitung für den neuen, den Nachkriegserfordernissen angepaßten Arbeitsmarkt, erhielt. Doch dieses Experiment im Bereich Arbeitskräfteplanung war begrenzter Natur, und so blieben die Bundeszuschüsse in den fünfziger Jahren auf dem Niveau von einer Milliarde US-Dollar pro Jahr eingefroren. In den sechziger Jahren aber versiebenfachte der Staat seine Investitionen in den Hochschulbereich, von einer Milliarde im Jahre 1960 auf sieben Milliarden im Jahre 1970. Wieso? Diese abrupte Veränderung im Investitionsverhalten des Staates begann mit der Kennedy-Ära und läßt sich auf die beiden, die fünfziger Jahre beherrschenden Diskussionsthemen zurückführen: Wachstum und Arbeitslosigkeit. In diesen von zyklischen Krisen belasteten Jahren fürchtete man einen wirtschaftlichen Stillstand aufgrund der niedrigen Akkumulationsrate des einheimischen Kapitals. Zudem wuchs gegen Ende des Jahrzehnts die Arbeitslosenrate langsam aber beständig an, besonders unter jenen Arbeitern, deren Jobs durch die Mechanisierung vernichtet wurden. Dies betraf vor allem die Landarbeiter der Südstaaten und die Bergarbeiter der Appalachenregion. Wäre alles nach Wunsch des Kapitals verlaufen, wären diese Arbeiter wieder einmal in die Städte abgewandert und hätten dort den städtischen Fabriken als neue Reservearmee gedient, die durch den höheren Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze, wie zu frühkapitalistischen Zeiten, die Löhne gedrückt hätte. Doch aufgrund der relativen Stärke der Arbeiterklasse griffen die althergebrachten Mechanismen nicht. Zum einen machte es die gewerkschaftliche Organisierung der dynamischen Industrie schwierig, die klassische Arbeitsplatzkonkurrenz zum Senken der Löhne und zur Disziplinierung zu benutzen, zum anderen begannen die zur Reservearmee abgestempelten Arbeiter, sich zu organisieren und forderten in den welfare struggles (Kämpfe für Sozialhilfe) ein Einkommen vom Staat. Diese neue Form des Klassenwiderspruchs wurde von den Wirtschaftstheoretikern des Kapitals mit dem Begriff »strukturelle Arbeitslosigkeit« belegt und man meinte dabei die Arbeiter, die auch bei einem noch so hohen Investitionsniveau keinen Zugang mehr zum Arbeitsmarkt fanden und die von daher selbst in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs nicht mehr als Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Das Vorhandensein einer Reservearmee war von je her Dreh- und Angelpunkt der kapitalistischen Akkumulation, aber die strukturelle Arbeitslosigkeit schien eine neue und etwas mysteriöse Unbeweglichkeit des Arbeitsmarkts mit sich zu bringen, die sich nicht in die Planung des Kapitals einbeziehen ließ. Da sich viele dieser Erwerbslosen gegen Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre in den Städten konzentrierten, entstand eine offensichtliche Gefahr oder, anders ausgedrückt, eine »städtische Krise«.
Was hat nun die Universität mit den Problemen Wachstum und Arbeitslosigkeit zu tun? Das Verbindungsglied in der Strategie des Kapitals war der Begriff des Humankapitals. Zunächst einmal argumentierten die Wirtschaftswissenschaftler in der Zeit der »New Frontier«-Politik Kennedys damit, daß die wesentliche Bedingung für ein Wachstum des Bruttosozialprodukts weder im Bevölkerungswachstum noch in der Erhöhung der Kapitalinvestitionen, sondern im technologischen Fortschritt (der hauptsächlich durch Forschungsprojekte in den Kriegsjahren erzielt worden war) und vor allem in einer verbesserten Ausbildung der »Arbeitskräfteressourcen« liege. So finden sich vor allem in dem einflußreichen Werk des Nationalökonomen Dennison, The source of economic growth in the U.S. and the alternatives before us (Die Quellen des Wirtschaftswachstums in den USA und unsere Alternativen), eine Reihe von fragwürdigen, aber damals oft zitierten statistischen Belegen, die nachweisen sollen, daß sich 40 Prozent der Wachstumsrate zwischen 1929 und 1956 auf ein höheres Ausbildungsniveau zurückführen lassen. Trotz der üblichen wissenschaftlichen Abschwächungen und Einschränkungen waren sich Kennedys Wirtschaftsstrategen im Großen und Ganzen einig: wenn eine höhere Wachstumsrate, d.h. natürlich auch höhere Profitraten und größere Ausbeutung, erreicht werden sollte, so mußte mehr in die Universitäten, sowohl in den Forschungsbereich, wie auch in eine verbesserte Ausbildung des Arbeitskräftepotentials im größeren Maßstab, investiert werden. Das zweite Problem war die strukturelle Arbeitslosigkeit. Wie man vermutete, war dieses Problem darin angelegt, daß der Mangel an Arbeitsqualifikation oder die veralteten Qualifikationen derjenigen, die durch die fortschreitende Mechanisierung »arbeitslos gemacht« worden waren, nicht mit den Anforderungen übereinstimmten, die der Arbeitsmarkt hinsichtlich Kenntnissen und Fähigkeiten stellte, vor allem unter den Bedingungen der Verschiebung der Gewichte von der Landwirtschaft und der Fertigungsindustrie hin zur Beschäftigung im Dienstleistungsbereich. Aus der Perspektive des Kapitals bestand somit die Anforderung an die Arbeitskraft, umzulernen und - noch wichtiger - sich höher zu qualifizieren, wenn massenhafte strukturelle Arbeitslosigkeit in der Zukunft vermieden werden sollte. In einer ziemlich späten Untersuchung dieses Zusammenhangs zieht Killingsworth (1965) die Schlußfolgerungen:
»Automation und der Wandel in den Grundstrukturen der Verbraucherwünsche (d.h. wachsende Nachfrage nach »Dienstleistungen«; G.C.) haben dazu geführt, daß die Bedeutung von Investitionen in Menschen als Faktoren wirtschaftlichen Wachstums stark angewachsen ist. Vermehrte Investitionen in Produktionsstätten und Ausrüstungen ohne ein deutlich verstärktes Wachstum unserer Investitionen in Menschen - das wird mit Sicherheit auf eine wachsende Überzahl an Unterentwickelten bei den Arbeitskräften hinauszulaufen, die doch zur Planung und Errichtung der modernen Produktionsstätten wie auch zur Arbeit in ihnen benötigt werden.« [2]»Investitionen in Menschen«, »Arbeitskräfteplanung« und schließlich »Humankapital« - eine vielsagende Formel, die nun wirklich die kapitalistische Version des noch deutlicheren Begriffs von Marx darstellt: variables Kapital. Entscheidend ist nämlich hier nicht die menschliche Gestalt des Kapitals. (Da wird nur sentimentale Resteverwertung betrieben.) Entscheidend ist hier die Fähigkeit des Kapitals, Wert zu vergrößern, und zwar in variablem Ausmaß. Die Formel drückt das kapitalistische Eingeständnis aus, daß die schlichte Planung der Größenordnung des konstanten Kapitals nicht automatisch zu angemessenen Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse führt. Die Arbeiterklasse trottet nicht einfach den Investitionen nach Art und Größenordnung hinterher, wie dies keynesianische Annahme gewesen war. Die Arbeiterklasse selbst muß geplant werden. Also wurden die Investitionen ins Hochschulsystem im Kongress durchgepaukt, als Teil einer umfassenderen Strategie des Umgangs mit diesem neuen Aspekt des Klassenkampfs. Vom Klassenstandpunkt aus betrachtet: das Investieren ins »Humankapital« kam auf, als das Kapital sich offen auf den Gesamtkreislauf der kapitalistischen Gesellschaft einstellen mußte, wo Arbeitskraft produziert, qualifiziert und reproduziert wird. Bei diesem Versuch, das soziale Kapital in seinem konstanten wie in seinem variablen Teil zu planen, mußten früher »unproduktive« Beziehungen und Einrichtungen der kapitalistischen Gesellschaft als produktiv anerkannt werden. Die keynesianische Einbeziehung der Gewerkschaften in den Produktionsprozeß war nur ein Baustein in der Integration des gesamten Reproduktionszyklus der Arbeitskraft, der nicht mehr länger dem Zufall, den »Marktmechanismen« oder dem Propagandabereich überlassen werden konnte. Folgerichtig erhielt die (für das Kapital) »kostenlose« und (für die Arbeiterklasse) »nichtentlohnte« Arbeit den Status des Sozialkapitals.
Wenn man aber die Arbeiterklasse durch die Öffnung der Unis restrukturierte, welches wäre dann das zur Spaltung der Klasse notwendige Mittel? Hier schienen die bereits vorhandenen Ausgrenzungs- und Spaltungsmechanismen der Universität hervorragend ins Konzept zu passen. Die Investitionsstrategie wirkt zwar im Nachhinein reichlich undurchdacht, da sie im Endeffekt den Hochschulen satte Summen zukommen ließ, ohne daß der Aufwand in irgendeinem Verhältnis zum Ergebnis gestanden hätte, doch zu jener Zeit ging man zweifellos davon aus, daß das inneruniversitäre Selektionssystem mit seinen Klausuren, Prüfungen, Noten und Zwangsexmatrikulationen durchaus in der Lage sei, die arbeitsmarktorientierte Einordnung in verschiedene Berufssparten und den dazugehörigen Hierarchien vorzunehmen. Durch die traditionelle Macht der Dozenten bei dieser Einteilung nach Arbeitsdisziplin (durch die Vergabe benoteter Scheine) und die Konkurrenz der Studenten um ihre jeweilige Position innerhalb der vorhandenen Schichtung, die sie fast automatisch in bestimmte Bereiche des Arbeitsmarktes führt, hielten viele die Universität für geradezu prädestiniert, diese Auswahlfunktion zu erfüllen. Obwohl sich also die Hochschule in dieser Zeit von einer Uni- zu einer Multiversität wandelte (die Studentenzahl stieg von 2 auf 6 Millionen zwischen 1960 und 1970), hatte sie doch nur die Aufgabe, die jungen Arbeiter auf ihrem Weg in den Arbeitsmarkt zu erfassen und zu spalten.
1965-1970 Die Verweigerung der Entwicklung
Genau diese, eben angesprochene Funktion der Sammlung, Spaltung und Selektion konnte die Universität von 1965 bis 1970 nicht erfüllen. Der damals weitverbreiteten Form des Widerstands in der Arbeiterklasse (der Arbeitsverweigerung) wurde durch eine Ausweitung des verfügbaren Humankapitals nicht entgegengewirkt, sondern sie wurde in die Hochschulen hineingetragen. Immer wieder trafen die Universitätsverwaltungen, die die »neue Arbeiterklasse« organisatorisch erfassen und integrieren sollten, bei den Studienanfängern auf Widerstand gegen ihre Pläne. Die neuen Studenten benutzten - Ironie des Schicksals - das aus den Investitionsfonds stammende Geld, das sie in lukratives Humankapital verwandeln sollte, dazu, diese »Entwicklung« zu blockieren. Den Beamten in den Förderungsausschüssen, die Gelder bereitstellen sollten für die »Lern-Arbeit«, wurde der Joint unter die Nase gehalten; die Professoren, die die »Begabten« unterrichten und disziplinieren sollten, wurden in »Diskussionsgruppen« verbannt oder einfach ignoriert usw. Seine offensichtlichste Niederlage bei dem Versuch, die Studentenschaft den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen, erfuhr das Universitätssystem, als es mit großangelegten Tests und der Selektion nach Notendurchschnitt versuchte, Studenten, die bei den Tests schlecht abschnitten, zur Einberufung nach Vietnam »auszusortieren«. Dies geschah im Frühjahr 1966 und ließ überdeutlich werden, daß die Universität mit der Militärbehörde zusammenarbeitete. Sicher, wären diese Anstrengungen erfolgreich gewesen, so wäre die Studentenbewegung zerfallen, denn dann hätten die Zensuren über die Teilnahme am Krieg entschieden. Doch so wurde dieser Schritt zum größten Fehler, den der Staat machen konnte. Er provozierte damit massiveren Widerstand gegen das gesamte Benotungssystem, als es die ideologischen Kampagnen der Linken jemals vermocht hätten. Jetzt, da die 6 den Tod im vietnamesischen Dschungel bedeuten konnte, wurde es überflüssig, die »Gemeinsamkeit aller Studenten« zu beschwören, um die Bewertungskriterien in Frage zu stellen. Die Funktion der Zensuren in der sozialen Abfolge Schule/Militär/Beruf wurde für alle ersichtlich und der Kampf dagegen weitete sich im ganzen Land aus. Diesmal verlor sich die Bewegung nicht wieder in Endlosdiskussionen, wie nach den ersten Aktionen von Berkeley. Auf das erste Sit-in an der Universität von Chicago gegen die Komplizenschaft von Univerwaltungen und Einberufungsbehörde folgte ein Dutzend weiterer Aktionen an anderen Hochschulen und im Herbst kam es wieder zu Sit-ins, Streiks und Unruhen auf anderen Campus-Geländen. Noch vor Ende des Jahres mußte die Johnson-Regierung einlenken - allerdings erst, nachdem sich die Studentenbewegung in einer Art Netzwerk bundesweit organisiert hatte. Dadurch wurde es vor allem für das Kapital offenkundig, daß das Universitätssystem in seinem ersten großen Test, der »Bereitstellung der Wehrpflichtigen«, völlig versagt hatte. Aus eben diesem Grund wurden gegen Ende der sechziger Jahre all die soziologischen Studien über die »Aktivisten« mit dem ganzen dazugehörigen Psychoschrott erstellt, und deshalb setzte auch zu dieser Zeit die frenetische Suche nach »alternativen Strukturen« im Universitätssystem ein, die von Seiten der großen, finanzkräftigen Stiftungen und Regierungsstellen betrieben wurde.
Diese hektische Aktivität auf Seiten des Kapitals war durchaus gerechtfertigt, denn der Bereich, der für die Stimulierung der Akkumulation als primär angesehen wurde, war 1970 weitgehend außer Kontrolle geraten. Statistische Erhebungen über die »Krise der Universitäten« dokumentieren nicht nur weitverbreitete Aktionen gegen die Zusammenarbeit von Uni und Militär, sondern auch gegen die Arbeitsbedingungen an den Hochschulen (also gegen die Qualität des Mensa-Essens, gegen die repressive Sexualmoral, Wohnraummangel und Arbeitsüberlastung) sowie Proteste gegen die Rassentrennung, die über Zulassungsbeschränkungen und Förderungspraktiken weiterhin aufrechterhalten wurde. Zudem erwies sich die Organisationsform der Studenten als effektiv und - für den Staat - undurchschaubar, denn sie glich in ihrer Struktur weder einer Partei noch einer Gewerkschaft. Gleichzeitig verlor die offizielle »Nationale Studentenvereinigung« jeglichen Anspruch darauf, mit dem Staat oder einzelnen Universitätsleitungen im Namen der Studenten zu verhandeln, als bekannt wurde, daß sie mit der CIA kooperierte. Und auch der SDS [3] schien, allen basisdemokratischen Phrasen zum Trotz, oftmals nur die Lorbeeren der einzelnen, unabhängigen Kämpfe einzustreichen (»Immer, wenn irgendjemand irgendetwas tat, behaupteten wir, es sei der SDS gewesen«). Tatsächlich suchte die Studentenbewegung 1969 und 1970, als sich der SDS bereits aufgelöst hatte, deutlicher den Kontakt zu anderen Kämpfen der Arbeiterklasse in den Ghettos, der Armee und den Gefängnissen. Der Studentenstreik von 1970 signalisierte also nicht nur das Versagen des Hochschulsystems in seiner Funktion als Produktionsstätte für Humankapital, sondern seinen völligen Zusammenbruch angesichts einer immer besser koordinierten Bewegung, die sich nicht mehr nur an den Schwachstellen, den bereits als unruhig bekannten Colleges, artikulierte, denn dieser Streik erfaßte fast alle Hochschulen des Landes.
»Mehr als die Hälfte aller Colleges und Hochschulen (1350) verzeichneten Anfang der siebziger Jahre Protestdemonstrationen, an denen sich fast 60 Prozent der gesamten Studentenschaft - etwa 4 350 000 Menschen - beteiligten und zwar in jeder Art von Bildungsinstitution in jedem Bundesstaat. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es an 73 Campus-Geländen (das waren nur vier Prozent aller Schulen, darunter aber ein Drittel der größten Universitäten des Landes), und an 26 Orten kam es zu ernsten und längeranhaltenden Unruhen, die durch brutale Konfrontationen zwischen Studenten und Polizei, durch Tränengaseinsatz, Glasbruch, Brände, Schlagstockeinsatz, Verletzte und Verhaftete gekennzeichnet waren. Insgesamt wurden in der Zeit vom 1. bis zum 15. Mai 1970 1800 Menschen bei Unruhen verhaftet.« [4]Die Morde an den Studenten an der Kent State und der Jackson State Universität zeigten, wie sehr sich die Kämpfe bereits ausgeweitet hatten, denn diese Unis hatten bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gestanden. Das System der Benotung ließ sich nirgendwo halten und es hatte den Anschein, als könne der Universitätsbetrieb nur noch durch die bewaffnete Intervention des Staates aufrechterhalten werden. Statt der Aussicht auf einen gutbezahlten Job hielt nun das Gewehr eines auch nicht hundertprozentig zuverlässigen Soldaten die Studenten in Schach. Die Morde gingen bis in die Sommermonate hinein weiter, und zwar in den verschiedenen »Jugendghettos« rund um die Universitäten (Mord an Rick Dowell und Harry Rice in Lawrence, Kansas). Im Herbst kehrten viele wieder an die Uni zurück, den Kopf voller Aktionsvorschläge und Ideen und es passierte - nichts. Während McGoverns Wahlkampagne 1972 »verschwand« ein großer Teil der Studentenbewegung einfach und die vielbeschworene »Wiederkehr der fünfziger Jahre« setzte allerorts ein. Wie konnte das geschehen? Um die Frage zu beantworten, müssen wir die Struktur der Studentenbewegung in dieser Zeit des Widerstands gegen die Regierungsstrategie und die Antwort des Kapitals darauf betrachten.
Im Nachhinein wird deutlich, daß die größte Schwäche der Studentenbewegung inhaltlicher Art war: sie war unfähig, die Einkommensfrage ganz allgemein zu thematisieren. Und sie war unfähig, an Lohnkämpfe in anderen Gesellschaftsbereichen anzuknüpfen. Sicher gab es einzelne Kämpfe, die durchaus erfolgreich waren (so führte der Angriff auf das Notensystem zu einer »Noteninflation«, die noch heute anhält; die Revolte gegen autoritäre Strukturen und Bürokratie haben zu einer deutlichen Verkürzung des studentischen Arbeitstages und weniger Streß geführt; die Arbeitsbedingungen wurden verbessert und bestimmte Formen der hierarchischen Spaltung abgeschafft usw.). Aber diese Kämpfe standen in nur mittelbarer und versteckter Beziehung zur Lohnfrage und machten es so einfacher, die Universitäten zu restrukturieren. Um diese inhaltliche Begrenztheit der Bewegung zu verdeutlichen, ist es zweckmäßig, die Entwicklung des SDS von seinem »Port Huron Statement« 1962 bis zu seinem letzten Nationaltreffen 1969 zu betrachten. Am Anfang wie am Ende seiner Aktivitäten sah der SDS die Studenten als nur am Rande wirkende Kraft an: die Studenten waren immer auf der Suche nach den »Arbeitern«, entweder um sie zu führen oder um sich von ihnen führen zu lassen. In der Tat wirkte der SDS wie die Jugendorganisation einer nicht-existenten sozialistischen Partei in ihrer Anfangsphase. Die frühen Versuche, in Newark Nachbarschaftskomitees zu organisieren oder die Bürgerrechtsaktionen liegen durchaus auf einer Linie mit der von Johnson und Kennedy proklamierten schwerpunktmäßigen Förderung des Humankapitals. Jedenfalls betrachtete der SDS die Universität immer nur als Kaderrekrutierungsstätte und die Studenten als Helfer der »Unterdrückten«. Gegen Ende seines Bestehens drehten sich die Diskussionen um die Frage: »Wer ist die Arbeiterklasse und wo ist ihre Revolution?« Die einen antworteten mit Baran und Sweezy: in der dritten Welt. Und die andere Seite meinte: in der unmittelbaren Produktionssphäre. Die Logik beider Seiten führt an der Universität vorbei und aus ihr heraus: die eine in den Untergrund und die andere in die Fabriken, mit den bekannten Konsequenzen. Sie übersahen immer, daß der Kampf gegen das Kapital genau an der Stelle geführt werden konnte, an der sie standen. Zudem schloß sich die SDS-Führung, selbst in der Zeit, als der Name der Organisation symbolisch für die Kämpfe der Studentenbewegung an der Hochschule stand, den Forderungen oft nur zögernd an. So gingen z.B. die Proteste gegen Rekrutierung (anti-ranking protest) auf örtliche Initiativen zurück, die auf eigene Faust handelten und nur halbherzige Unterstützung vom SDS erhielten. Doch die Kämpfe konnten sicherlich nur dann einen systemsprengenden Charakter annehmen, wenn ihnen eine objektive Analyse der Funktion der Studenten in der kapitalistischen Arbeitsteilung zugrundegelegen hätte. Und nur wenn man explizit auf die Beziehung zwischen Lohn und Arbeit eingegangen wäre, hätte man sich den Restrukturierungsplänen entgegenstellen können. Doch dieser nächste Schritt kam nicht zustande und von daher konnte die Bewegung, die zum Scheitern der Humankapital-Strategie von Kennedy beitrug, der nächsten Offensive des Kapitals nichts entgegensetzen.
1970-1975 Der »fiskalische« Gegenangriff
Angesichts des Widerstands gegen seine Humankapital-Strategie beschränkte sich das Kapital nicht auf die Wahl einer anderen Taktik, sondern entwickelte eine völlig neue Strategie, und die vorherigen Überlegungen zu »Wachstum und Arbeitslosigkeit« wurden hinfällig. Nun ging es darum, die Kontrolle über die Arbeiterklasse durch einen direkteren Zwang zur Arbeit wiederzugewinnen. Die Nixon-Regierung erkannte klar, welcher grundlegende Fehler in der alten Investitionspolitik gemacht worden war: die Wechselwirkung zwischen Globalinvestitionen und Output war viel zu weit gefaßt worden. Man hatte sich auf ein Universitätssystem gestützt, das die Studentenbewegung nicht in den Griff bekam. Der Strategiewechsel fand sein Echo in den Aufsätzen einer Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern, die erklärten, daß Dennisons statistische Belege unbrauchbar seien, und daß der Bildungs- und Forschungsbereich niemals einen wesentlichen prozentualen Anteil am Bruttosozialprodukt haben könne. Zur gleichen Zeit deutete die Rezession von 1970 bereits an, daß die neuen Hochschulabgänger ebenfalls von struktureller Arbeitslosgikeit betroffen waren. Die ermordeten Studenten waren noch kaum begraben, da hatte sich die Situation schon völlig verändert.
Nachdem die Entwicklung in der Sackgasse gelandet war, wurde es notwendig, eine neue Strategie zu entwickeln. Ihr erster Schritt war die »Finanzkrise« der Hochschulen. Die roten Zahlen in den Büchern spiegelten nicht mangelnde Mathematikkenntnisse wieder, sondern die Unfähigkeit, mit dem Klassenkampf fertig zu werden. Die Universitäten, die 1970 und 1971 finanzielle Probleme hatten, waren auch die »Schwachstellen« in der alten Entwicklungsstrategie gewesen. Man gab sich gar keine Mühe, diesen Zusammenhang zu verschleiern. So setzte z.B. Earl Fl. Cheit in seinem Buch The New Depression in Higher Education (Die neue Krise des Hochschulwesens) Politik und Ökonomie gleich. 1971 untersuchte er 41 Colleges und Unis und unterteilte sie in solche »ohne finanzielle Probleme«, Hochschulen mit »leichten Finanzproblemen« und solche (Schande über sie!) »mit ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten«. Interessant sind die von ihm nach Wichtigkeit aufgelisteten Qualitäten, die die Unis ohne Finanzprobleme auszeichnen:
1. kaum von Unruhen betroffen
2. gute Ausrichtung des Unterrichts auf das Ausbildungsziel
3. weitgehende Unterstützung durch die Kommune
4. begrenzte Vergabe von Studienbeihilfen
5. genau abgegrenztes Studienpensum, kontrolliertes Wachstum
6. geringere Aufwendungen für die einzelnen Fakultäten
7. Effektivität
Der Schluß liegt auf der Hand: überleben werden diejenigen Unis, die den Angriffen der Studentenbewegung Paroli bieten, die schnell die Polizei rufen, die die Fakultäten strengstens kontrollieren und sich kompromißlos gegen jegliche Lohnforderung stellen. Also: greift durch, dann ist auch euer Haushalt ausgeglichen. Wenn nicht ... Das war natürlich, wenn auch verspätet, Wasser auf die Mühlen derjenigen Landes- und Bundespolitiker, die bereits erklärt hatten: »Kürzt den Kids die Gelder, bis sie wieder in die Schule gehen wollen!« (wie der Vorsitzende des Haushaltsausschusses von Michigan 1970, in der Hitze des Gefechts, meinte). Doch zunächst mußte reiner Tisch gemacht werden. Den zaudernden Verwaltungsbeamten, die in dem »Bericht über die Studentenunruhen« ausführlichst beschrieben werden, mußte die angebrachte Selbstkritik verordnet werden. Die Rache war sicherlich süß - offensichtlich genug war sie jedenfalls. Doch war auch klar, daß man es nicht einfach bei der Beseitigung einiger unentschlossener Unirektoren und einer Handvoll »Unruhestifter« belassen und dann zur Tagesordnung übergehen konnte. Es galt vielmehr, während dieser Krise eine völlig neue Beziehung zwischen Staatsinvestitionen, Universitätssystem und Arbeitsmarkt herzustellen, die Hand in Hand gehen mußte mit den Restrukturierungsplänen des in der Krise befindlichen Kapitals. Denn die alte Struktur hatte sich als unfähig erwiesen, die Kontrolle über die Reproduktion von Arbeitskraft zu sichern.
Die »Haushaltskrise« hatte jedoch nicht nur Strafcharakter, wie z.B. eine Bankrotterklärung, sondern sie mündete in einen Neuaufbau, bei dem die Macht des Geldes mit der Unmittelbarkeit einer Naturgewalt zu wirken schien. Während der durch die Haushaltskrise ausgelösten Panik wurde der Charakter der Zuschuß- und Förderungsprogramme deutlich verändert: statt unspezifische Zuschüsse zum Bau von Universitätsgebäuden oder an Ausbildungsförderungsfonds zu vergeben, wurde nun den einzelnen Universitäten Rechenschaftspflicht über die Verwendung bewilligter Gelder auferlegt, und die Vergabe von Studienbeihilfen wurde eingeschränkt. Parallel dazu wurde die Planungshoheit der einzelnen Universitäten beschnitten, wie dies für Zeiten größerer Restrukturierungsanstrengungen typisch ist. Nach den »Studentenunruhen« schreibt Frank Newton in H.E.W.:
»Der Trend zur stärkeren Kontrolle wurde durch die weithin vertretene Ansicht, es sei Sache der Behörden, Verantwortungsbewußtsein in der Gesellschaft durchzusetzen, noch verstärkt. Es gibt jedoch zwei sehr verschiedene Wege, dieses Verantwortungsbewußtsein herbeizuführen: eine Strategie besteht in der Stärkung der zentralen Kontrollinstanzen, die das System rationalisieren und ordnen sollen. Die andere stärkt die Anreize zur Selbstregulierung, indem man mehr Information vermittelt, die Wahlmöglichkeiten der Studenten und die Flexibilität der Bildungsinstitutionen in Hinsicht auf die Verwirklichung dieser Präferenzen erhöht. Die Entscheidung der Behörden, die Universitäten direkter zu kontrollieren, entspringt zum Teil ihrer Frustration angesichts der Komplexität der Bildungsproblematik und der Schwierigkeit, bei Colleges und Universitäten die zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Aufgabe notwendige Kooperationsbereitschaft herzustellen.«Mit anderen Worten: die alte Universitätsstruktur mußte weichen und an ihrer Stelle sollten universitätsübergreifende Kontrollgremien die Gesamtplanung übernehmen. Gleichzeitig mußte allerdings auch ein feinmaschiges Netz zur Disziplinierung der Studenten geknüpft werden, das sich nicht auf das alte Benotungs- und Selektionssystem stützen konnte. Dies sind die beiden Strategien, die Herr Newton vorschlägt, wobei er ein Konzept faschistoider Verwaltungskontrolle mit einer Art Sozialismus für die Studenten mischt, und die Fakultäten im Endeffekt einem sozialdemokratischen, produktivitätssteigerndem Reformprogramm unterzogen werden.
Die Bemerkung über die »Erhöhung der Anreize zur Selbstregulierung« weist auf eine neue Beziehung zwischen dem Bildungssektor und dem Arbeitsmarkt hin: die grobe Arbeitskräfteplanung der sechziger Jahre mußte wegen der allgemeinen Akkumulationsprobleme, die durch weltweite Lohnkämpfe verursacht worden waren, fallengelassen werden. Nun wollte das Kapital eine »Revolution der reduzierten Ansprüche« durchsetzen. Aus diesem Grund sollten es Bundesregierung und Universitäten von nun an unterlassen, »die weitverbreitete Ansicht zu verstärken, es bestehe eine direkte Beziehung zwischen dem Ausbildungsniveau und der Wahrscheinlichkeit des beruflichen Aufstiegs und, daraus folgend, einem höheren sozialen Status und besserem Einkommen.« Alle Berechnungen, die darauf abzielten, die Profitrate der Universität zu ermitteln (Wie macht sich jedes Jahr, das ich an der Uni verbracht habe, im späteren Leben jährlich bezahlt?), wurden nach unten korrigiert oder ganz verworfen. Dies bedeutete natürlich nicht, daß damit die Uni völlig überflüssig geworden wäre, aber sie wird nun in den Arbeitsmarkt integriert. Die mit der Berufsausbildung verbrachte Zeit wird zum integralen Bestandteil der »Karriereleiter« und die Universität steht am unteren Ende dieser Leiter. Sie gilt damit nicht mehr als der Ort, an dem das Arbeitskräftepotential eine höherwertige Bildung erfährt, um dann auf einen sich ständig verändernden, aber auf jeden Fall höher dotierten Arbeitsmarkt losgelassen zu werden. Das charakteristischste Merkmal der Universität in den »ruhigen Siebzigern« war von daher auch die »Feudalisierung der Studienfächer«. In einer Zeit unsicherer Arbeitsmarktverhältnisse strömten die Studenten in die Studienzweige, die die höchsten Anforderungen stellten, der betrieblichen Ausbildung am ähnlichsten waren und bezeichnenderweise »praxisorientierte Ausbildung« genannt wurden. Die Disziplinierung der Studenten wird nicht auf die alte, schulmeisterliche Weise, also mittels der Noten, erreicht, sondern indem die Arbeit an der Uni explizit an die entlohnte Arbeit gekoppelt wird. Die neue, berufsorientierte Ausbildung hat sich nicht nur an den Fachhochschulen durchgesetzt, sondern auch im rein universitären Bereich, wo Jura, Medizin, Psychologie und Betriebswirtschaft zu den wichtigsten Studienfächern wurden. Die Berufe, die der sozialen Kontrolle dienen, wurden so selbst zum Mittel der sozialen Kontrolle: der Kontrolle durch Arbeitsplätze, falls es überhaupt welche gab!
Das eigentliche Planungsproblem ist (nun ganz ausdrücklich) die »Lernbereitschaft«. Überall wird nun die Frage gestellt: Wie anpassungsfähig sind Sie? Es sei die Aufgabe der Hochschulen »die lernwilligen Individuen und das Bildungssystem einander anzupassen«, meint Lester C. Thurow. [5] Es wird leicht ersichtlich, wie die direkte Verbindung von Staatsinvestitionen-Universitätssystem-Arbeitsmarkt die Studentenbewegung der sechziger Jahre zerstören konnte. Zunächst zieht sich der Staat vom Campus zurück, da es die neue Strategie nicht mehr erforderlich macht, daß er die Integration der Studenten in Armee und Arbeitsmarkt gewährleistet. Als nächstes verliert das herkömmliche Universitätssystem, das sich auf die Zensuren als Disziplinierungsmechanismus stützte, zunehmend an Bedeutung. Drittens läßt die neue Strategie Raum für Experimente bei den Arbeitsbedingungen, so daß nun Unis ohne Mauern, eine freiheitlichere Sexualmoral und, ganz allgemein, mehr »Selbstverwaltung« geduldet werden können. Als viertes wird der offene Rassismus an den Hochschulen abgebaut und die Zulassungspraktiken werden liberalisiert, wobei jedoch das Einkommen den neuen Ausgrenzungsfaktor darstellt. Da die Studenten die Lohnfrage, d.h. die Entlohnung von Lern-Arbeit, nie offen zum Thema machten, konnte das Kapital einerseits Teilforderungen nachgeben und andererseits über die Leistungsanforderungen der Bewegung das Wasser abgraben. Das Kapital ergreift die Initiative, indem es das Lernen als Arbeit begreift und folgerichtig nach seinen eigenen Spielregeln damit verfährt.
1974: Der Lohnkampf
In diesem Jahr wurde deutlich, daß die Studenten erstmals auf die neue Strategie reagierten. Die neuen Proteste an der Uni hatten »ökonomischen« Charakter, da die Forderungen im Zusammenhang mit der »Finanzkrise« aufkamen, z.B. »keine Kürzung des Bildungshaushalts«, »keine Erhöhung der Studiengebühren«, »Verteidigung der Studienförderung« usw. Dabei handelte es sich nicht nur um sporadische Proteste: im Frühjahr 1975 kam es zu einer ganzen Welle von Streiks, Sit-ins und Demonstrationen mit ähnlichen Forderungen, und im Nordosten der USA fand auch eine begrenzte Koordination der Aktionen statt.
Es ist kein Zufall, daß verschiedene linke Gruppierungen in letzter Zeit Flugblätter an den Hochschulen verteilten. Darin werden politische Perspektiven aufgezeigt, wobei der Kampf an der Uni in die allgemeine Krisenstrategie der Linken, also die »Verteidigung der Arbeiterklasse gegen die kriseninduzierten Attacken des Kapitals«, eingebunden wird. Im Unterschied zur früheren Politik des SDS wird nun die Hochschule als wichtige politische Basis anerkannt, und sie gilt von daher als Ort, der verteidigt werden muß. Die gängige Argumentation ist, kurz gesagt, folgende: die staatlichen Hochschulen müssen gegen den finanziellen Würgegriff des Staates verteidigt werden, denn der gegen Ende der sechziger Jahre erkämpfte Eintritt von Arbeiterkindern in die Uni als »arme Studenten« eröffnete zum ersten Mal weitergehende Bildungsmöglichkeiten für die Arbeiterklasse. Da Bildung den Einzelnen aber befähigt, soziale Zusammenhänge und Kausalitäten in ihrer Vielfalt und Komplexität zu erkennen, führt Bildung zu politischem Bewußtsein. So können die staatlichen Universitäten, indem sie das Fundament für eine gebildetere Arbeiterklasse legen, ganz unbeabsichtigt, zu einem größeren politischen Bewußtsein der Arbeiterklasse beitragen, die dann in der Lage ist, sich dem Kampf für den Sozialismus zuzuwenden, anstatt bei rein ökonomischen Forderungen stehenzubleiben. Wenn die Revolution eine Frage des politischen Bewußtseins der Arbeiterklasse ist, so ist die Bildung logischerweise der Schlüssel zur Überwindung dieses Problems.
Dieser politische Ansatz schließt nicht nur die Verteidigung der Universität ein, er enthält auch eine Analyse der neuen Hochschulkrise. In einem Flugblatt, das von einer Gruppe von »sozialistischen« Dozenten der New York City University herausgegeben wurde, findet sich die folgende Argumentation:
»... Die Kapitalisten können nicht ewig damit fortfahren, das Bildungssystem zur Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität zu benutzen, und gleichzeitig erwarten, daß es die bestehenden sozialen Verhältnisse konservieren und absichern hilft. Je höher der Wissensstand, je besser die Ausbildung des Menschen ist, desto schwieriger wird es, die durch Klassengegensatz, Rassismus und Sexismus hervorgerufenen Ungerechtigkeiten, auf die sich die kapitalistische Gesellschaft stützt, aufrechtzuerhalten. Gebildete Arbeiter sind oft gefährliche Arbeiter gewesen, denn sie lernen mehr als sie sollen, ... gebildete Menschen haben oft präzisere Fragen gestellt und bessere Antworten verlangt. Und ein besseres Leben... Zuviele Leute erhalten heute zuviel Bildung, sagt die herrschende Klasse. Und dies ist der Grund dafür, daß sie die Studentenzahlen reduzieren und Studiengebühren einführen wollen. Es ist auch der Grund für die momentane »Krise« des universitären Bildungsbereichs insgesamt. Die Sache ist ihnen einfach aus den Händen geglitten...« [6]Bildung ist also von Natur aus befreiend und die Kapitalisten stecken in einer Zwickmühle, weil »zuviel Bildung« zwar benötigt wird, aber auch zu Unzufriedenheit bei der Arbeiterklasse führt. Die logische Konsequenz: sie schließen die Unis und jagen die Arbeiterklasse zurück in den Sumpf der Unwissenheit.
Abgesehen davon, daß diese Analyse reichlich idealistisch ist, setzt sie auch nicht am wesentlichen Punkt an. Was an der Uni geleistet wird, ist Arbeit, konkret Lern-Arbeit. Es ist Arbeit zur Vorbereitung auf weitere Arbeit. Ihr hauptsächlicher Inhalt ist die Erziehung zur Selbstdisziplin, in der konkreten Lernsituation wie auch ganz allgemein. Der spezifische Effekt des Studiums ist die Aneignung von gewissen technischen Fähigkeiten, die in bestimmten Berufen unabdingbar sind und zu einer höheren Produktivität führen. Der allgemeine erzieherische Effekt, das Erlernen von Eigenverantwortlichkeit, ist allerdings weitaus wichtiger: was nützt dem Kapital z.B. ein Ingenieur, der chinesisch spricht und Differentialgleichungen lösen kann, aber einfach nie am Arbeitsplatz auftaucht? Es ist von existentieller Bedeutung für das Kapital, daß wir uns programmieren lassen, aber noch wichtiger ist es, daß wir jederzeit umprogrammierbar sind. Von daher legen unsere zukünftigen »Arbeitgeber« bei Vorstellungsgesprächen weniger Wert darauf, wieviel wir wirklich wissen, sondern bemühen sich zu erkunden, wie wir uns in die neue Arbeitssituation einfügen können, also wie »wohlerzogen« wir sind. Das Problem des Kapitals in den sechziger Jahren bestand also nicht darin, daß »Leute, die Managementhandbücher lesen können, genausogut Marx lesen können«, wie unsere sozialistischen Freunde behaupten. Was das Kapital wirklich beunruhigte, war der effektive Widerstand gegen die Lern-Arbeit, die massive Ablehnung der Erziehung in ihrem Sinne. Es gab zuwenig Erziehung, nicht zuviel. Wir lernten nämlich gerade im Kampf gegen diese Erziehung!
Wie dem auch sei: was es dem Kapital leicht macht, Lern-Arbeit zu erzwingen und sie, wenn sie verweigert wird, wieder in Gang zu bringen, ist ihr nichtentlohnter Status, der ihr den Anschein von persönlicher Wahl gibt und den Widerstand dagegen als ebenso individuelles, wenn nicht sogar »psychologisches« Phänomen erscheinen läßt. So leisten die Studenten, obwohl sie sich doch zu bestimmten Zeiten für den fortschrittlichsten Teil der Arbeiterklasse hielten, nichtentlohnte Arbeit wie andere Sektoren der Arbeiterklasse auch. Dieser Status als Nichtentlohnte hat heute schwerwiegende Folgen für die studentische Bewegung und den Klassenkampf insgesamt, denn die Studenten können so als billige Arbeitskräfte außerhalb der Uni eingesetzt werden und drücken damit das Lohnniveau. Außerdem kann das Kapital, eben weil es sich um unbezahlte Arbeit handelt, die Bildungsinstitutionen restrukturieren und Arbeitsintensität und Leistungsanforderungen mit nur geringem finanziellen Aufwand erhöhen: so faßt der ROTC [7], die Werbebehörde der US-Armee, in letzter Zeit wieder Fuß an den Hochschulen, weil er seinen Kadetten 100 Dollar im Monat zahlt - und dies ist nur eines der Beispiele, wie sich die Studentenbewegung für einen Apfel und ein Ei spalten läßt. [8]
Das gegenwärtige Problem der Studentenbewegung besteht nicht darin, eine Allianz zwischen Studenten und Arbeitern aufzubauen, bzw. eine »Verbindung« mit der Arbeiterklasse zu suchen. Studenten sind sowieso Arbeiter. Auch geht es nicht darum, die öffentlichen Universitäten als Ort »sozialistischer« Erziehung und »nichtentfremdeter, ganzheitlicher« Arbeit zu verteidigen, denn der Inhalt des Klassenkampfes ist der Kampf gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft. Vielmehr müssen wir uns den Bestrebungen des Kapitals entgegenstellen, das versucht, die Hochschulen zu kontrollieren, indem es sich die Unentlohntheit der Studenten zunutze macht. Der nichtentlohnten Arbeit können sich die Studenten nur entziehen, indem sie Lohn für Lern-Arbeit fordern. Diese offensive Forderung wirkt den Plänen des Kapitals direkt entgegen, denn sie erschwert es, die Studenten gegen die anderen Arbeiter auszuspielen und die Studenten zu spalten. Das Kapital hat die unbezahlte Lern-Arbeit zum Teil der Karriereleiter, d.h. zur Basis einer erfolgreicheren Ausbeutung, gemacht. Es wird Zeit, dem ein Ende zu setzen.
Fußnoten:
[1] Diese allgemeine Analyse der nichtentlohnten Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft und die Kritik an der Linken haben wir weitgehend aus der Argumentation der »Lohn für die Hausarbeit«-Bewegung übernommen. Hintergrunderläuterungen zur Funktion der Schulen bei der Reproduktion der Arbeitskraft finden sich in dem Buch »The Power of Women and the Subversion of the Community« von Maria Rosa Dalla Costa und Selma James, Falling Wall Press, 1972, S. 23-25 (auf deutsch: »Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft«, Merve Verlag Berlin 1973) und in »Sex, Race and Class«, ebenfalls von Selma James, Falling Wall Press, 1975.
[2] C.C.Killingsworth »The Effects of Automation on Jobs«, in B.R. Cosin, »Education: Structure and Society«, Penguin Books, 1972, S. 94.
[3] Anm.d.Ü.: Students for a Democratic Society.
[4] Kirkpatrick Sale, »SDS«, Random House, 1973, S. 636f.
[5] Lester C. Thurow, »Measuring the Economic Benefits of Education«, in Margaret S.Gordon, »Higher Education and the Labor Market«, McGraw-Hill, 1974, S. 391. In dieser Arbeit, die von der Carnegie Commission on Higher Education in Auftrag gegeben wurde, werden die Grundlagen für einen groþen Teil der kapitalistischen Planung der Bildungspolitik gelegt.
[6] »Crisis at CUNY«, The Newt Davidson Collective, 1974.
[7] Anm.d.Ü.: Reserve Officers Training Corps. »Das ROTC ist eine militärwissenschaftliche Abteilung zur Schulung von Offizieren, die an fast allen amerikanischen Universitäten etabliert ist und für die Studenten am sichtbarsten die Verknüpfung zwischen Universität, Forschung und Kriegswirtschaft repräsentiert. ROTC-Gebäude sind daher bevorzugte Angriffsziele und gingen vor allem nach dem Kambodscha-Einmarsch der USA im Mai 1970 massenweise in Flammen auf.« (Peter M. Michels).
[8] Weite Passagen dieses letzten Kapitels über Lern-Arbeit und die Kritik an der Linken wurden der Broschüre »Wages for Students« entnommen, die von Aktivisten während der Studentenstreiks in Massachussetts und New York im Frühjahr 1975 erstellt und verteilt wurde.