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19.09.2016

aus: Wildcat 100, Sommer 2016

Mehr Postmoderne als Kommunismus. Anmerkungen zur »Kommunisierung«

Gilles Dauvé: From Crisis to Communisation
voraussichtlich August 2016 | PM Press | ca. 192 Seiten | ca. 16 Euro

In den letzten 20 Jahren haben wir immer wieder was von Gilles Dauvé übersetzt und veröffentlicht; eine Auswahl gibt es weiter unten. Vielleicht entwickelt sich im Gefolge dieser Buchbesprechung eine Diskussion über Kommunisierung und eine erneute Auseinandersetzung mit diesen Texten.

2011 schrieben Karl Nesic und Gilles Dauvé den Text Communisation, danach lösten sie sich als Troploin auf. Die Gründe für diesen Schritt finden sich in What Next? Ausschlaggebend war für Nesic unter anderem das Steckenbleiben in der Communisation-Diskussion. Dauvé machte allein weiter und legte 2015 Eclipse and Re-Emergence of the Communist Movement zum dritten Mal in knapp 45 Jahren neu auf. Sein neues Buch From crisis to communisation ist eine erweiterte und überarbeitete Neuauflage des Textes Communisation.

»In den letzten Jahren ist Kommunisierung zu einem radikalen In-Wort geworden, dessen Popularität sich weit über den Kreis der bedauerlicherweise ›communisers‹ gennanten VertreterInnen erstreckt. 1 [...] Der Begriff ist dehnbar geworden und zum Sammelbegriff für eine breite Palette von Einstellungen und Theorien – mit substanziellen und wichtigen Unterschieden. [...] Viele Kommunisierungs-TheoretikerInnen tun so, als hätten sie ein für alle Mal die Lösung gefunden und stellen die heutige Zeit als eine Periode dar, in der die proletarische Bewegung nur ein Ziel hat bzw. haben kann: Kommunismus.« Mit diesem Eingangs-Statement benennt Gilles Dauvé die Probleme. Tatsächlich kann man in der Fülle von Texten mit unterschiedlichen Positionen, die sich alle auf Kommunisierung beziehen, schnell den Überblick verlieren.

Gegen das Mixen von Theoriefragmenten

Kommunisierung meint Vergemeinschaftung (franz. »communisation«, engl. »communization«). Als theoretische Strömung ist diese im Frankreich der 1970er Jahre entstanden, ausgehend von der Einsicht, dass es kein Übergangsstadium (»Diktatur des Proletariats«) vom Kapitalismus zur freien Gesellschaft braucht. Um das bestehende System zu zerstören, muss die Reproduktion der Klassenverhältnisse überwunden werden, das Proletariat muss sich selbst abschaffen, alle existierenden kapitalistischen Bedingungen und Beziehungen müssen in kommunistische umgewandelt werden. Kommunismus ist nicht ein Ziel am Ende des revolutionären Weges, sondern durch die Kommunisierung – die praktizierten kommunistischen Maßnahmen – kommt es zur unmittelbaren Produktion des Kommunismus. Die Forderung nach der Vergemeinschaftung eines jeden Aspekts des menschlichen Lebens und aller menschlichen Beziehungen ist sympathisch – gerade in Zeiten, wo es für die radikale Linke en vogue ist, alles schön voneinander zu trennen. Aber Dauvé betont in seiner Kritik, dass »Kommunisierung« ein Konzept ist, entstanden in einer bestimmten historischen Phase. In den aktuellen Krisen müsse dieses »Konzept« weiterentwickelt werden. Wie kann aus den globalen Kämpfen der letzten beiden Jahrzehnte Kommunismus entstehen? Damit grenzt er sich scharf von Gruppen wie Théorie Communiste, Endnotes, Das Unsichtbare Komitee usw. ab, die aus dem Begriff eine geschlossene Theorie machen.

Im letzten Kapitel (»A veritable Split«) fasst Dauvé die Auseinandersetzung mit diesen Gruppen zusammen. Er kritisiert das »2-Phasen-Modell« von TC-SIC 2, die nach eigener Aussage ihre theoretische Basis »auf eine Einschätzung gründen, die Théorie Communiste Ende der 1970er Jahre machten: die Krise der Arbeiterbewegung und die sie begleitende Umstrukturierung der kapitalistischen Klassenbeziehung haben zu einer Situation geführt, wo es keine anerkannte Arbeiteridentität, die gegen das Kapital gewendet werden kann, mehr gibt« 3. Diese Periodisierung unterteilt die kapitalistische Geschichte in zwei unterschiedliche Phasen: In der ersten Phase war die »reformistische Klassen-Aktion« unvermeidbar, in der zweiten wird sie unmöglich. Denn nun kann sich das Verhältnis Kapital-Lohnarbeit nicht länger selbst reproduzieren. Sie gehen explizit davon aus, dass die Arbeiterklasse das Kapital nur angreifen kann, wenn sie eine Identität als Arbeiterklasse hat. Dauvés Kommentar: »Das hat mehr mit der Postmoderne als mit kommunistischer Theorie zu tun.« (S.180; Everything Must Go!). Dem können wir nur zustimmen.
Dauvé arbeitet heraus, dass TC-SIC das Proletariat von der Arbeit und dadurch in letzter Konsequenz die Revolution von der Klasse entkoppeln. Außerdem werden von Ihnen bestimmte Aspekte (Unmittelbarkeit) hervorgehoben und andere (Klasse) heruntergespielt. »[...] das Mixen von alten Referenzen (Kapital, Wert, Arbeit ...) mit neuen (Communisation, Identität, Gender ...) liefert für eine ganze Reihe von kritischen SpezialistInnen das geeignete Material.« (S. 181; Everything Must Go!).

Back to the roots

Laut Dauvé war das Konzept Kommunisierung bei seiner Entstehung von mehreren Strömungen inspiriert: Die Form (Ablehnung aller Vermittlung durch Parlament, Partei oder Gewerkschaft) stamme von der »holländisch-deutschen Linken« – so nennt er die Rätekommunisten. Der Inhalt (Ent-Akkumulation – dis-accumulation) komme von der »italienischen Linken« – so nennt er die Bordigisten. Der Prozess/Ablauf (Transformation aller Aspekte des täglichen Lebens, Ausdehnung der Arbeiterverwaltung in verallgemeinerte Selbstverwaltung) stamme von der Situationistischen Internationale – nennen wir sie »französische Linke«.

Gegenüber den restlichen »KommunisiererInnen« führt Dauvé zwei wichtige Punkte an, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen: das Verhältnis Kapital-Lohnarbeit sowie die Produktion von Wert seien nach wie vor »zentral«. Bei der Frage nach Vergemeinschaftung gehe es um das Verhalten und die gesellschaftlichen Beziehungen des Proletariats – welches das revolutionäre Subjekt darstellt. Für den revolutionären Durchbruch brauche es Solidarität und die Aufhebung der Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit. Solidarität entstehe nicht aus einer (äußerlichen) moralischen Verpflichtung, sondern aus praktischen Handlungen und Wechselbeziehungen, aus der Abschaffung der Arbeit: »Die revolutionäre Aktion wird nicht durch die beste oder gerechteste Art der Güterverteilung angetrieben, sondern durch die menschlichen Verbindungen und die daraus entstehenden Aktionen. Bei Vergemeinschaftung setzt sich die Tätigkeit gegenüber ihrem produktiven Resultat durch, da dieses Resultat von den Impulsen und Verbindungen abhängt, die die Aufständischen in der Lage sind, untereinander zu schaffen.«

Kapitalismus, Realsozialismus und kommunistische Doktrinen gingen alle vom Primat aus, lebenswichtige Bedürfnisse befriedigen zu müssen. Natürlich wird ein Mensch ohne Essen verhungern. Trotzdem wird die Frage nach der Produktion der Grundnahrungsmittel zum falschen Ausgangspunkt, wenn dabei vergessen wird, dass die menschliche Existenz eine gesellschaftliche ist. Wir essen nicht zuerst, um uns dann im zweiten Schritt der Gesellschaft anzuschließen. Ihren Bedürfnissen – Hunger, Errichten von Behausungen usw. – begegnen Menschen in Verbindung mit anderen. »Was das aufständische Proletariat motiviert (auch den hungrigen Teil), ist nicht das Bedürfnis, sich selbst zu ernähren, sondern sich mit anderen ProletarierInnen zu assoziieren, welches – neben anderen Effekten – ihm ermöglichen wird zu essen. Der Notwendigkeit, Nahrungsmittel zu produzieren, z.B. Karotten anzubauen, wird mittels gesellschaftlichen Beziehungen – welche neben anderen Aktivitäten auch zum Anbau von Gemüse führen – begegnet werden.« Lebensnotwendigkeiten haben keinen Vorrang vor gesellschaftlichen Verbindungen.

Streik!

Unter den »communisers« vertritt z.B. Das Unsichtbare Komitee die Position, dass es im aktuellen System keine Teilung in Produktions- und Zirkulationssphäre gebe, sondern alles im Fluss ist. 4 Deshalb sei die Blockade das einzige effektive Kampfmittel. Dauvé hält entgegen: »Es wäre eine Illusion zu denken, man könnte Streiks durch Blockaden ersetzen, aufgrund der Annahme, dass produktive Arbeit unnötig geworden ist. [...] Diese Vorstellung verinnerlicht die Selbstdarstellung des zeitgenössischen Kapitalismus.«
Dauvé will daraus nicht die Schlussfolgerung ableiten, nur bestimmte Teile des Proletariats könnten die Revolution machen. Denn es braucht auch die Massen an Menschen »ohne Reserven«, Semi-ProletarierInnen usw: »Uns geht es darum, was im Zuge der Revolution passieren wird. Keine Revolution kommt ohne Massenstreiks und Blockaden voran, was nur von außerhalb des Arbeitsplatzes wohl nicht erreicht werden kann: ein Universitätsdozent und ein Kraftwerkstechniker haben nicht den gleichen gesellschaftlichen Einfluss. Aber das sagt uns nichts darüber, was jeder von ihnen machen wird, wenn einmal der Aufstand unterwegs ist.« (S. 134-135 Everything Must Go!)

Dauvés Überlegungen sind scharfsinnig – und wie so oft macht er nur den ersten Schritt. Wenn der Streik zentral bleibt, aber nur revolutionär werden kann, wenn die ArbeiterInnen dabei ihre eigene Rolle kritisieren und überwinden – dann wäre doch die wichtigste Aufgabe, solche Kämpfe daraufhin zu untersuchen. Dann wäre doch eine reale Auseinandersetzung mit Klassenzusammensetzung, Arbeitermacht und den Zentren der Mehrwertproduktion angesagt?

Dauvé sieht eine allgemeine Niederlage der ArbeiterInnen seit 1980 durch Intensivierung der Arbeit, steigende Arbeitslosigkeit, Einfrieren von Löhnen, Kürzung der Sozialausgaben usw. Aber heute gebe es mehr systematischen und bewussten Widerstand gegen diese Verschlechterungen als noch vor 20 oder 50 Jahren. Ein Wendepunkt war der UPS-Streik 1997, ein anderer die Proteste migrantischer ArbeiterInnen 2006 in den USA. Seitdem steigt weltweit die Anzahl an Streiks und Riots, womit die Kritik am Kapitalismus wieder ins Zentrum rückt.

Ohne Kritik der Arbeit kommen die Bewegungen nicht voran

Die Bewegungen Ende der 60er Jahre hatten das Thema Selbstorganisierung auf die Tagesordnung gesetzt. Die aktuellen Bewegungen bauen darauf auf. Dauvé: »Die Autonomie, die den Höhepunkt und das Ende der proletarischen Welle im Jahr 1977 darstellte, ist das implizierte Programm des Proletariats des frühen 21. Jahrhunderts – aber sie kommen nicht darüber hinaus. Anstatt diese Grenzen der Autonomie zu thematisieren, wird sie zum Ziel verklärt.«
Die Platzbewegungen wollen sich das Leben wieder aneignen; Produktion und Arbeit sollen nicht mehr zentral sein. Dauvé sieht darin einen möglichen Ausgangspunkt für eine Kritik der Arbeit und Ökonomie, dazu müssten sich diese Bewegungen aber mit Produktion und Arbeit auseinandersetzen! Es geht um die Kritik der Arbeit, dieser kann nicht ausgewichen werden.

Ein Zeichen für das Kommen einer neuen revolutionären Periode ist laut Dauve das vermehrte Auftreten von Anti-Arbeit-Protesten – dabei riskierten die ArbeiterInnen ihren Job, weil sie sich nicht mehr um das Wohl des Unternehmens kümmern. Diese Proteste würden von kleinen Minderheiten losgetreten und weiten sich dann aus. Die Kämpfe werden nicht nur auf Arbeit ausgetragen, sondern auch dort, wo das Proletariat lebt – Dauve spricht hier von manti-proletarischen Handlungen gesprochen. Wenn Rioters »ihre eigene« Infrastruktur (Schulen, Bibliotheken, usw.) zerstören, sehe es auf den ersten Blick so aus, als würde das keinen Sinn ergeben bzw. sich um rein nihilistische Aktionen handeln. Es gibt aber einen sehr guten Grund dafür: Rioters zerstören u. a. die Infrastruktur, weil sie für das gesellschaftliche System steht – bzw. das Mittel für dessen Reproduktion ist –, das sie angreifen wollen. Die Selbstabschaffung des Proletariats impliziert die Zerstörung der Lebensbedingungen, welche das Proletariat kontrollieren, aber auch schützen.

Die Schienen verlassen

Dauvé schildert zwei Beispiele – die Besetzung einer Druckerei und einen Streik von EisenbahnarbeiterInnen –, die dabei helfen könnten, die Gesellschaft zu kommunisieren. Bei einem isolierten Streik von EisenbahnarbeiterInnen sei es unwahrscheinlich, dass diese über ihre eigenen Bedingungen hinausgehen – weil sie es nicht müssen. Wohingegen ein Generalstreik, Massenunruhen und Riots den normalen Fluss der gesellschaftlichen Reproduktion stoppen. Für die EisenbahnarbeiterInnen z.B. eröffnet diese Ausdehnung der Arbeitsniederlegungen und das Entstehen von Straßen- und Nachbarschaftsinitiativen weitere Möglichkeiten. So könnten sie z. B. andere Streikende und DemonstrantInnen kostenlos von einer zur nächsten Stadt bringen. Bei der Entscheidungsfindung und Durchführung sind ja sie selbst und andere direkt beteiligt. Sie müssen damit beginnen, anders über das Eisenbahnsystem zu denken und anders zu handeln. Denn der Erfolg der Kommunisierung hängt vom Verschwinden sozialer Identitäten und Hierarchien ab.

Dauvé benutzt nach wie vor das »Konzept Kommunisierung«; nur so kann er das grundlegende revolutionäre Rätsel lösen: Wie wird aus dem Arbeiterkampf ein revolutionärer Kampf? Wie können die Klassenkämpfe nicht nur zum Sieg der einen über die andere Klasse führen, sondern zur Abschaffung von beiden? Er ist entsetzt über den Unsinn, den diverse »Kommunisierungs-TheoretikerInnen« mit dem Begriff anstellen. Deshalb dieses Buch.

To be continued

Fußnoten:

[1] Ein aktuelles Beispiel: Joshua Clover: Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings; Verso; London; Mai 2016

[2] Mit TC-SIC meint Dauvé die »internationale kommunistische Diskussionsgruppe« die auch das englischsprachige »internationale Journal für Communisation« heraus bringt.

[3] Sic Journal; vergleiche auch den aktuellen Text von Endnotes (»Unity in separation«).

[4] Unsichtbares Komitee: An unsere Freunde; Edition Nautilus; Hamburg; April 2015

Auf der Website troploin.fr finden sich weitere Texte von Dauvé und Nesic, u.a.:

  • An A to Z of communisation (2015)
  • The Bitter Victory of Councilism (2014)
  • Value, Labour Time & Communism: Re-Reading Marx (2014)
  • What Next? (2012)
  • Communisation (2011)

Von Wildcat übersetzte Texte von Dauvé (großteils online auf wildcat-www.de):

  • Wildcat-Zirkular Nr. 50/51: 1917-1937 – Wenn die Aufstände sterben; Mai/Juni 1999
  • Wildcat-Zirkular Nr. 52/53: Niedergang und Wiederkehr der kommunistischen Bewegung; Juli 1999
  • Wildcat-Zirkular Nr. 65: Lieben die ArbeiterInnen die Arbeit?; Februar 2003
  • Wildcat 76: Wir wollen Nichts! – Gilles Dauvé zum sogenannten Aufruhr in den Banlieues; Frühjahr 2006
  • Wildcat 88, Beilage: ArbeiterInnen verlassen die Fabrik; Winter 2010/2011

 
 
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