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20.07.2016

»Es ist ein Neubeginn der Gesellschaft«

Interview mit einem Mitglied des Grazer Spendenkonvois am 20.2.2016

Wie bist du zum Spendenkonvoi gekommen?

Über meine älteste Tochter. Sie lebt in Winterthur in der Schweiz und hat gesehen, dass sich in Graz Leute zusammentun – privat über Facebook. Sie wollte dort mithelfen, kam mich besuchen und fuhr dann weiter nach Graz – zum Kleidersortieren. Ich bin spontan mitgefahren und habe ihr geholfen. Es war dann nicht Kleidung sortieren, sondern es wurde gleich ein Termin vereinbart, dass man noch am selben Abend nach Heiligenkreuz an die ungarisch-österreichische Grenze fährt.

Was waren eure Tätigkeiten zu Beginn? Und wie hat sich die Sache dann weiterentwickelt?

Wir sind mit ca. 15 Autos mit Sachspenden nach Heiligenkreuz gefahren. Aber das Ziel war: mittels Autokonvoi Leute abzuholen, die von Budapest in Richtung Österreich losmarschiert waren. Und so hat das eigentlich mit dem ganzen Spendenkonvoi angefangen. Zuerst mit Autos, also Leute abholen. Gleichzeitig haben wir Lebensmittel und Sachspenden zu den Hotspots gebracht. Und schön langsam hat man sich eine Infrastruktur aufgebaut. Heute haben wir zwei Lager: eines zum Abgeben von Sachspenden; im anderen werden die Dinge deponiert, die dann zu den verschiedenen Hotspots gehen. Zum Beispiel nach Bregana: Da sind wir um drei Uhr in der Früh angekommen, haben die Zelte aufgebaut und nach einer halben Stunde haben wir schon gekocht – warmes Essen und Tee. Das war so Standard.

Mittlerweile sind wir 1000 Leute in der Facebook-Gruppe und ca. 50 gehören zum harten Kern. Es haben sich drei Schwerpunkte herauskristallisiert: weiter an die Grenzen fahren; Integrationsarbeit machen (z.B. Deutschunterricht, Freizeitgestaltung); Wochenendfahrten organisieren.

Habt ihr auch Leute nach Graz mitgenommen? Wenn ja, hat es da Probleme mit den Behörden gegeben? In Wien waren z.B. Leute von staatlicher Repression betroffen, aber auch an der bayrischen Grenze wurden Leute wegen »Schlepperei« festgenommen.

Das hat dann natürlich ganz schnell aufgehört, dieses Abholen. Denn du warst immer mit einem Fuß im Gefängnis wegen »Schlepperei«. Als dann diese 71 Menschen im LKW auf der Autobahn gestorben sind, ich glaube, ab diesem Zeitpunkt hat das generell aufgehört, dass man Leute mitnimmt. Stattdessen wurde dann wichtig, vor Ort schnell zu helfen und die Leute aufzuklären: a) wo sie sind, und b) was sie machen sollen. Diese »Willkommenskultur« ist ein wesentlicher Faktor; die Leute einfach willkommen heißen, ihnen zeigen: Ihr seid willkommen, wir helfen Euch.

Heute haben wir andere Kriege

Wie war die Situation in Bregana, an der slowenisch-kroatischen Grenze?

Wir kamen hin und es war nichts da. Kein Zelt, ca. 1800 Leute waren im Freien. Wir hatten viele Zelte dabei und haben die dann aufgebaut. Denn das größte Problem in dieser Situation ist nicht Hunger oder Durst, sondern Nässe, Regen, Kälte.

Waren zu dem Zeitpunkt auch schon NGOs oder staatliche Organisationen vor Ort?

Nein. Gar nichts. Das war unsere Stärke, dass wir schnell reagiert haben. Zunächst waren wir nur am Wochenende unterwegs: Freitag, Samstag, Sonntag. Wir haben aber eine gewisse Erfahrung von Ungarn schon mitgebracht und sind dann einfach in dieses »Niemandsland« hineingefahren und hatten das Glück, dass wir ÜbersetzerInnen dabeihatten und vor allem bosnische Frauen. Das war unsere große Stärke: drei bosnische Frauen, die selber den Krieg miterlebt haben. Sie haben uns den ganzen Balkan hinunter die Türen geöffnet, weil sie die Sprache beherrscht haben.

Und dann geht die Geschichte durch die Medien – Rundfunk, Zeitung. Und auf einmal waren alle da: MedizinerInnen aus England, Deutschland, das Rote Kreuz, UNHCR. Diese Aufgabe war damit erledigt und wir sind wieder weg.

Habt ihr euch zu dem Zeitpunkt bewusst dafür entschieden, den Rückzug anzutreten, weil die ganzen NGOs kommen und die Sache übernehmen?

Genau. Man hat gesehen, es läuft, sich zurückgezogen und hat teilweise sogar die Infrastruktur übergeben – ganze Kochmöglichkeiten. In dem Fall an eine kroatische Gruppe.

Waren das auch Freiwillige?

Genauso wie wir: »Volontäre«. Im Großen und Ganzen sind in den sechs Monaten so viele selbstorganisierte Gruppen unterwegs gewesen oder sogar Einzelpersonen. Die sich dann einfach eingeklinkt haben in die ganze Bewegung. Es ist ein Neubeginn der Gesellschaft. Weit weg von Hierarchien. Weit weg von Politik. Bei uns gibt es keine Realpolitik. Es wird gelebt. Und es funktioniert auch, wenn man nicht ganz deppert im Schädel ist (lacht). »Sehen und tun.« Da gibt es keinen Chef.

Wie drückt sich dieser Neubeginn der Gesellschaft für dich aus?

Die Beteiligten in dieser Bewegung lehnen Hierarchien und Obrigkeiten ab – es hat etwas Anarchistisches. Ganz wichtig ist die Eigenverantwortung. Wenn ich einen Vergleich zur Hippie-Bewegung der 1960er Jahre ziehe, wo die individuelle Freiheit im Mittelpunkt stand, ist der große Unterschied diese Eigenverantwortung. Ausschlaggebend war damals auch der Vietnamkrieg. Heute haben wir andere Kriege, und deshalb haben sich auch die Bedingungen geändert, wie Menschen zusammenkommen. Man versucht eigenständig – ohne Vermittlung durch irgendwelche Institutionen – und gemeinsam, auf die Situation zu reagieren und den Menschen zu helfen.

Hat es von internationalen Organisationen Versuche gegeben, z.B. die Infra-struktur in Beschlag zu nehmen – euch quasi zu verdrängen, nachdem ihr die erste Hilfe geleistet habt, um die Situation wieder unter staatliche Kontrolle zu bekommen?

Das hat es gegeben, aber es hat nicht funktioniert. Weil die eigentlich überfordert waren. Vom Personal her und von der ganzen Situation. Deshalb war es eine »gesetzesfreie Zone«, weil sie die Lage nicht in den Griff bekommen haben. Bis heute [20.2.16] nicht.

Wie war der Einsatz in Preševo (serbisch-mazedonische Grenze)?

Preševo war eine ganz eigene Situation – ein ganz heikler Hotspot. Denn da haben sich am Tag bis zu 8000 Menschen an der Registrierungsstelle angestellt. Ich glaube, das war sogar eine der ersten Registrierungsstellen.

Man muss sich die Situation so vorstellen: Die Menschen kommen aus dem Registrierungslager heraus – so gruppenweise 20 bis 50 Flüchtlinge. Und dort war das Problem: Auf die haben Albaner im Alter zwischen 17 und 35 Jahren gewartet, ca. 300 Leute, wie so ein Empfangskomitee. Die haben sich wie die Geier auf die Leute gestürzt und gesagt: »Komm mit mir. Ich bringe dich zum Bus.« Dabei sind die Leute erst einmal herausgekommen und wir haben ihnen etwas zu essen und Tee geben können. Und jetzt holen die Albaner die Flüchtlinge ab, wollen sie zu den Bussen bringen und nehmen dafür fünf Euro pro Person.

Waren das so Mafiastrukturen?

Nein. Das waren einfach arbeitslose Albaner, die gehört haben, dass man da etwas verdienen kann. Viele Menschen in Preševo sind arbeitslos. Und die haben die Leute zu den Bussen gebracht, z.B. hat da ein Arbeitsloser ca. 500 Euro am Tag gemacht.

Und die Flüchtlinge haben dafür selbst bezahlen müssen?

Ja. Und ich glaube, da waren die Albaner das Problem. Die Militärpolizei hat sie mit Elektroschocker teilweise zurückgedrängt, aber nach einer Stunde waren sie wieder da. Dann wieder Elektroschocker. Und so hin und her. Einmal haben sie sogar die scharfen Hunde herausgelassen. Es war wirklich immer eine explosive Stimmung. Ist klar, wenn ich 500 Euro am Tag verdienen kann, dann greife ich auch zur Schusswaffe, wenn jemand mir »meine« Leute, mein Geld wegnimmt.

Danach warst du auf Lesbos. Wo genau dort? Und nur auf Lesbos?

Ich war nur auf Lesbos, und zwar vom 18. Dezember 2015 bis zum 12. Februar 2016. Lesbos ist eine der größten griechischen Inseln, die Hauptstadt ist Mitilini. In dem kleinen Ort Moria befindet sich das offizielle Camp. Zur Türkei ist die kürzeste Strecke ca. 10 Kilometer. An der türkischen Küste – ca. drei Autostunden von Izmir entfernt – gibt es eine relativ gute Übergangsstelle, wo sehr viele Leute übersetzen.

Wie viele Leute waren da?

Wenn es voll war 2000 bis 3000. Und es ist auch jeden Tag gewachsen, und die Infrastruktur ist immer besser geworden. Am Anfang hat man kleine Zelte gehabt, sehr viele, 100 bis 150. UNHCR hat dann große Hauszelte aufgebaut.

Hat es Situationen gegeben, wo die Freiwilligen und die Organisationen nebeneinanderher gearbeitet haben? Oder haben die sich untereinander gut koordinieren können?

Teils, teils. Also im Großen und Ganzen war es getrennt. Da waren die offiziellen bezahlten NGOs und auf der anderen Seite die freiwilligen HelferInnen. Und es gab auch zwei Camps. Ein Freiwilligen-Camp und ein offizielles Camp, wo die Registrierung stattgefunden hat. Man hat sich gegenseitig nicht weh getan. Man hat sich geduldet. Wir haben dann teilweise auch im offiziellen Camp mitgeholfen.

Das Camp ist ständig gewachsen. Als ich weggegangen bin, gab es schon eine ganz ordentliche Infrastruktur. Alles hat ohne Bürokratie funktioniert. Es gab ein bisschen eine Hierarchie im Sinne von Anmelden, wenn man als »VolontärIn« arbeiten will. Angefangen von Müll einsammeln bis Tee ausschenken oder kochen. Jede/r hat sich da irgendwo einbringen können.

Helfersyndrom

Die Flüchtenden werden an den Küsten von HelferInnen empfangen, und da hat es oft eine Überreaktion von den HelferInnen gegeben. Die Boote kommen an und jetzt wollen alle den Menschen im Boot helfen. Ich sage immer »Helfersyndrom«. Eine ganz eigenartige Situation … in einem Fall kommt eine Mutter mit Baby und eine Ärztin läuft hin und stülpt dem Kind eine Mütze über den Kopf. Die Mutter hat die Haube natürlich heruntergerissen. Das gibt es auch, dieses unbeholfene Helfen und Überreaktionen. Hat die Ärztin dann aber eingesehen.

Wer kommt auf Lesbos an? Sind es noch immer viele Ärzte und AkademikerInnen?

Inzwischen sind nicht mehr so viele gut ausgebildete Menschen unterwegs, und eher mehr Familien. Familien mit Kindern (auch Kleinkinder) und auch sehr viele Junge. Die Ankunft von älteren Menschen hält sich in Grenzen.

Und wie war die Situation bei den Registrierungsstellen?

Es gab drei Registrierungsstellen, jeweils eine für Menschen aus Afghanistan, Syrien und Irak.

Die Situation muss man sich so vorstellen: Da stehen 500 bis 1000 Menschen und die wollen alle gleichzeitig irgendwo hinein. Was passiert dann? Es wird gedrückt. Es gibt Gedränge und Unruhe. Und wir sind mitten drin und versuchen Polizeiaufgaben zu übernehmen. Denn sie waren einfach immer überfordert und haben es nicht geschafft, Ordnung hineinzubringen.

Ist es wirklich so, dass z.B. in Griechenland der Staat überfordert ist? Oder ist es ein Szenario, das bewusst herbeigeführt wurde?

Einerseits ist der Wille nicht vorhanden. Andererseits ist es auch auf die Hierarchie, die Befehlsstruktur, den Menschen, der mit der Situation überfordert ist, zurückzuführen.

Haben die Bullen und Frontex versucht, die Freiwilligen an der Arbeit zu hindern?

Gelegentlich, aber das war nicht das Problem. Die offiziellen Institutionen haben die Situation nie in den Griff bekommen. Keine Chance.

Man ist schon permanent der Gefahr ausgesetzt gewesen, dass man ins Gefängnis muss. Wir sind immer wieder im Küstenabschnitt unterwegs gewesen und haben die Westen eingesammelt – für die Bodenisolierung der Zelte.

Die Schwimmwesten?

Ja. Mein Auto war voll mit diesen Rettungswesten, die wir an den Küsten eingesammelt haben. Auf dem Weg zum Camp kannst du natürlich aufgehalten werden. Und das Problem ist dann, was machst du mit den Westen, wenn dich jemand fragt? »Ja, ich isoliere die Zeltböden damit. Ja, was denn sonst?« (lacht). Und dann kommt wahrscheinlich die Frage: »Willst du sie vielleicht in die Türkei bringen und wieder verkaufen?« Dann hast du die Scheiße am Hals.

Und wie sehen die Einheimischen die Situation? Ist es für sie ein Problem? Helfen sie?

Im Juli [2015] sind ungefähr 100 bis 150 Boote pro Tag angekommen. Pro Tag! In den letzten drei Monaten waren es durchschnittlich noch 15 Boote pro Tag.

Juni, Juli, August bei einer Hitze von 35 bis 40 Grad und die Flüchtenden sind oft ganz im Norden der Insel angekommen. Da waren keine HelferInnen da, nur Einheimische. Und die Flüchtlinge haben dann einen weiten Weg nach Moria gehabt. Zwischen 50 und 70 Kilometern bei 40 Grad. Und dort sind keine Wälder oder Beschattung. Teilweise sind die Einheimischen dann mit den Autos losgefahren und haben den Leuten etwas zu trinken gegeben. So sind die Einheimischen sensibilisiert worden und haben geholfen.

Als ich auf Lesbos war, gab es eine gewisse Art von Normalität. Man hat nichts mehr gesehen, man hat nichts mehr gehört. Weil da waren die Camps, und da waren die Küstenabschnitte. Die Flüchtlinge sind teilweise in der Früh oder am Abend angekommen. Am Tag eher selten.

Ich habe das Gefühl, die Einheimischen nehmen das sehr gelassen. Ist zur Normalität geworden. Einerseits weil sie daran verdienen – tausende von HelferInnen brauchen Zimmer. Im Winter, wo kein Tourismus ist, haben die auf einmal Einnahmen für Übernachtungen und Essen. Und natürlich die ganzen Taxis und Busunternehmen. Oder der Schwarzmarkt, wo Motoren verkauft werden. Teilweise von Menschen, die organisiert sind und die aus Schlauchbooten die Motoren herausschneiden und vielleicht sogar wieder in die Türkei bringen. Weiß man nicht.

Im November haben die Länder entlang der Balkan-Route angefangen, die Unterscheidung zwischen »Wirtschafts-« und »Kriegsflüchtlingen« durchzusetzen – ab diesem Zeitpunkt durften nur noch Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak weiterreisen. Hat es da auf Lesbos Konflikte zwischen einzelnen Flüchtlingsgruppen gegeben?

Es gab ein paar kleinere Unruhen, aber minimal.

Konflikte zwischen Gruppen, die nicht weiterreisen durften, und Gruppen, die weiterreisen durften?

Ich glaube, das haben sie dann schon kapiert, dass das in dieser Situation nicht unbedingt das Wahre ist. Das Einzige, wo manchmal Unmut entstanden ist… Das hat nichts mit den Nationen zu tun gehabt, sondern das war eher so dieses Warten – drei Tage lang, wenn du Pech gehabt hast. Und die Polizei hat es nie geschafft, Ordnung hineinzubringen. Das war ein permanenter Unruheherd.

Sehen, lernen, tun

Die schlimmste Situation gab es am Hafen, wo die Fähren auslaufen. Wenn das Wetter einmal nicht mitgespielt hat oder gestreikt wurde, dann sind keine Fähren gefahren. Dann hast du auf einmal 1000 bis 2000 Menschen, die gleichzeitig wegwollen. Die haben natürlich alle schon ein Ticket und müssen, bis die nächste Fähre ablegt, großteils im Freien übernachten.

Da gab es einmal eine Situation, wo ich kurz vor dem Abgrund gestanden bin. Vier Leute von uns sind zwischen die Massen gegangen und haben Polizeiaufgaben übernommen, haben einfach versucht, mit abzusperren und Ordnung hineinzubringen. Zu Beginn stehst du 10 bis 15 Meter von der Hafenkante entfernt und tausende Menschen um dich herum. Nicht geordnet. Und die drängen immer mehr und plötzlich bist du nur mehr vier Meter vom Abgrund entfernt. Und dann drehst du langsam durch, weil du Angst hast hinunterzufallen. Du kannst zwar schwimmen, aber es fallen ca. 100 Leute auf dich drauf. Familien, Kinder. Es ist zum Glück nichts passiert. Aber bis heute kann ich es nicht nachvollziehen, warum da die Polizei nicht geschaut hat. Keine Ahnung.

Wie sieht die Situation für Leute aus, wo es dann heißt: »Ihr dürft nicht weiter!« Aus welchem Grund auch immer. Was machen die dann?

Ich habe ihnen nie falsche Hoffnungen gemacht. Ich habe ihnen gesagt, sie können versuchen, irgendwo illegal über die Grenze zu gehen. Aber sie müssen damit rechnen, dass sie irgendwann eingefangen werden. Fünf Grenzen, das ist unmöglich.

Sie können sich auch Registrierungspapiere kaufen, haben aber keine »Fingerprints«. Ab dem Augenblick, wo sie das Papier haben, bekommen sie das Ticket für die Fähre. Das können sie sich vorher auch irgendwie besorgen. Das ist, glaube ich, nicht das Problem. Spätestens an der mazedonischen Grenze werden sie dann aufgehalten, weil sie nicht im Computersystem drinnen sind. In dem Augenblick, wo die Leute »Fingerprints« haben, sind sie registriert. Und jetzt haben die Flüchtenden die Registrierungspapiere und sind aber nicht im System. Nützt ja nichts.

Die Leute stranden also auf Lesbos oder in Athen, und dann stellt sich eben die Frage: Bleiben die dann dort? Oder gehen sie dann zurück?

Nein, sie bleiben dort und kommen, wenn sie Pech haben, in Abschiebehaft. Sie können nur illegal untertauchen, z.B. in Athen.

Versuchen Leute, auch auf Lesbos irgendwo unterzukommen?

Ja, vereinzelt. Es gibt sogar SyrerInnen, die dort bleiben. Zum Beispiel ein Koch, der sehr viel mitorganisiert hat in unserem Camp, der hat gesagt, er bleibt hier auf Lesbos.

Wie stellen sich die Flüchtlinge die Situation in Europa vor? Haben sie Pläne? Zum Beispiel, dass sie Geld verdienen und nach Hause schicken wollen? Oder, dass sie sich in Europa ein neues Leben aufbauen oder bis der Krieg vorbei ist abwarten wollen, um dann zurückzugehen? Gibt es Zeit für solche Gespräche? Erzählen die Leute gleich von sich aus?

Ja, man hat ja 24 Stunden Zeit – bzw. irgendwann schläft man auch. Wir sind durch unsere gelben Warnwesten immer Infopoint für jede/n. Wenn du willst, hast du rund um die Uhr Kontakt. Und dann gibt es auch immer wieder Situationen, wo eben Freundschaften entstehen. Oft gibt es auch SyrerInnen, die Deutsch können. Familien, die man dann immer wieder trifft. Die dann auch, weil sie Zeit haben, helfen. Und die laufen dir dann immer wieder über den Weg. Dann kennt man schon teilweise die Geschichten – z.B. was passiert ist auf der Überfahrt. Und sie erzählen natürlich auch Wünsche …

Natürlich sind die meisten traumatisiert. Der Hauptgrund ist einfach: weg, weg, weg. Bevor ich dort in der Hölle bleibe, riskiere ich diese Fahrt über das Mittelmeer. Wobei die Schwierigkeit der Überfahrt muss man auch relativieren, denn wenn das Wetter passt, ist »überhaupt nichts« dabei. Es ist nur dann ein Problem, wenn es richtig zu stürmen anfängt.

Manche wollen studieren. Manche wollen einfach nur einmal ankommen. Und dann später vielleicht wieder zurückgehen. Nach den Gesprächen glaube ich nicht, dass die dableiben werden. Ich meine, die Jungen suchen eben ihr Glück. Oft sind es Söhne, die alleine unterwegs sind, bei denen die Familie zurückgeblieben ist. Und sehr viele Familien, die sich vielleicht auch eine neue Existenz aufbauen wollen.

Europa ist in diesen Krieg involviert, exportiert Waffen usw. Und jetzt kommen sie in das Land, das Mitschuld an dem Krieg hat – und sind mittlerweile nicht einmal mehr willkommen.

Prinzipiell würde ich schon sagen, sie überlegen sich das nicht wirklich. Weil da geht es darum: nur weg. Und dann hängen sie halt fest. Und momentan hängen sie an der syrisch-türkischen Grenze fest. Viele Menschen, mehr die gebildeten, die kennen schon auch die Hintergründe.

Was sind deine nächsten Schritte? Fährst du wieder nach Lesbos?

Zu Ostern werden wir wieder 14 Tage voraussichtlich nach Griechenland fahren. So 10 bis 15 Leute. Nach Lesbos oder Chios oder Samos. Oder vielleicht sogar in die Türkei hinüber. Wir müssen schauen, wo es gerade wirklich dringend ist.

Ich werde vielleicht dann weiterfahren und möchte mich da wirklich weiter engagieren. Ich habe da eine Freundin kennengelernt … Das ist natürlich auch das Positive: Ganz Europa, die ganze Welt ist dort. Ich habe Leute aus Malaysia kennengelernt, mit denen ich noch in Kontakt bin. Mal schauen…

Mein Schluss-Satz: Jede/r, der/die sich ein bisschen engagieren will, soll das »Helfersyndrom« ablegen. Sehen, lernen, tun.

Nachtrag vom 22. Juni 2016

Vier Monate danach haben wir uns nochmal mit W. getroffen. Seitdem ist viel passiert: Im Mai war er im Flüchtlingslager Idomeni; das Spenden-Annahmelager wurde abgerissen; der Spendenkonvoi ist seit kurzem ein Verein. Mit dem Dichtmachen der Balkan-Route und der Räumung der Hotspots steht aktuell die Integrationsarbeit im Zentrum. Vor Ort geben HelferInnen Deutschkurse und es werden unterschiedliche Freizeitaktivitäten angeboten – vom Lauftreff bis zu Kletterkursen. HelferInnen des Konvois sind auch in Flüchtlingslagern in Griechenland tätig. Es wird sich aber nicht nur um Flüchtlinge gekümmert, z.B. werden auch Familien in Not in Bosnien mit Sachspenden unterstützt.

W. selbst kam erst letzte Woche aus Malaysia zurück, wo er seine neuen Kontakte besucht hat. Er will weiter Menschen helfen und versucht nun, bei Ärzte ohne Grenzen unterzukommen. Aus Protest an der Flüchtlingspolitik der EU ist die Organisation dem »Humanitären Weltgipfel« der UNO ferngeblieben und nimmt in Zukunft auch kein Geld mehr von der EU und ihren Mitgliedsstaaten an. Natürlich wollten wir wissen, warum er jetzt diesen Schritt in die Institutionen macht. W. begründet seine Entscheidung damit, dass die NGO Zugang zu den Flüchtlingslagern in Afrika hat und dass er nach sieben Monaten ehrenamtlicher Flüchtlingsarbeit eine Einkommensquelle braucht.

Infos zum Spendenkovoi auf spendenkonvoi.wordpress.com

 
 
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