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05.02.2023

aus: Wildcat 101, Winter 2017/18

Nach der grünen eine Welle von Blue Collars

Iran: der Unmut macht sich Luft

In der Wildcat 99 hatten wir die Zunahme von Arbeiterkämpfen im Iran und ihre Hintergründe beschrieben. Auch 2017 gab es mehr als 900 Streiks und Demonstrationen. Wegen nicht gezahlter Löhne sind z. B. die Arbeiter der Zuckerrohrfabriken Haft-Tape (4000) und Hepco (1000) seit Jahren im Aufstand. Nachdem bei einem Bergwerksunglück mehr als vierzig Arbeiter getötet worden waren, wurde Präsident Rouhani kurz vor seiner Wiederwahl von Arbeitern ausgebuht.

Mitte November 2017 machte das Erdbeben im Osten des Landes die unglaubliche Korruption und den Betrug im Baugewerbe deutlich. Der Staat hatte ohne Berücksichtigung der Standards gebaut. Mehr als 500 Menschen kamen ums Leben. Rund 18.000 Wohnungen wurden komplett zerstört, noch immer sind zehntausende von Menschen obdachlos. Dass einige Mullahs den Opfern die Schuld gaben – »Gott bestraft die Menschen wegen ihrer Sünden« –, brachte das Fass zum Überlaufen: In der Messaging-App Telegram wurden die Mullahs mit Rettungshunden verglichen, der Unterschied sei nur, dass Hunde Ehre haben. So etwas war bisher undenkbar!

Nach weiteren Erdbeben in Teheran und anderen Städten gingen immer mehr Menschen nachts auf die Straße. Sie zeigten sich gegenseitig Victory- Zeichen, als hätten sie die Straßen zurückerobert. Ein 50-jähriger, der vormittags Taxi fährt und abends Postbote eine Maklerfirma ist, sagte: »Gestern Nacht haben wir endlich gefeiert. Menschen waren die ganze Nacht draußen, wie im Ausland.« Es gab immer mehr Sit-ins und Demonstrationen. In den sozialen Medien tauchten Videos wie das einer alten Frau auf, die vor einer Bank auf einem Stuhl steht und vor vielen Menschen die Herrschenden beschimpft. Die Bank hatte sie um ihre Ersparnisse gebracht. Schätzungen zufolge haben in den letzten zehn Jahren vier bis fünf Millionen Menschen ihre Ersparnisse verloren. Die iranischen Banken sind verrottet.

Die Bewegung begann am Donnerstag, den 28. Dezember 2017 in der Stadt Maschhad als Protest von Hardlinern gegen die »Reform«-Regierung; dann geriet der Protest außer Kontrolle. In Teheran war nur Tage zuvor eine Kundgebung von Arbeitern für die Freilassung eines hungerstreikenden Führers der Busfahrergewerkschaft mit Verhaftungen und Verletzten beendet worden.

Die Bewegung radikalisierte sich schnell und breitete sich auf fast 100 Städte aus. Die Parole »Nieder mit dem Diktator/Khamenei« wurde vorherrschend. Im Unterschied zur Bewegung 2009, die auf Teheran und einige wenige Großstädte beschränkt blieb, mobilisierte sich diesmal vor allem die Peripherie. 2009 wollte die Mittelklasse an der Globalisierung in der westlichen Welt teilhaben und setzte auf die Reformer. Diesmal drückten die Proteste aus, dass die Menschen im Bestehenden keine Zukunft mehr sehen. Arbeitslose, SlumbewohnerInnen und Arme waren die Taktgeber. Die bisher 26 auf den Straßen und im Knast Getöteten und 90 Prozent der mindestens 3700 Verhafteten sind arme Jugendliche unter 25. Es waren weniger Frauen auf der Straße; denn die meisten Aktionen waren gewalttätiger, fanden nachts und in kleineren Städten statt. Die Revolte war besonders im Westen des Landes stark, wo die ethnischen Minderheiten leben, die etwas mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Die Bewegung ging radikal gegen Symbole des herrschenden Regimes mit seiner Vermischung aus Politik, Religion und Wirtschaft vor. Neben Gebäuden des Staates, der Polizei, der Banken usw. wurden auch Moscheen und heilige Symbole in Brand gesetzt – auch das war neu. Die Protestierenden hatten für einen Augenblick keine Angst mehr. Die Aktionen wurden auf der Straße zwar nur von einigen Hunderttausenden getragen, aber sie hatten breite Unterstützung. Die Slogans und Videos der Proteste werden massenhaft in sozialen Netzwerken weitergeleitet, die Protestierenden konnten sich tatsächlich als Mehrheit fühlen.

Der ökonomische Hintergrund: Arbeitslosigkeit und Armut

Die Zahl der Slumbewohner und Obdachlosen ist in den letzten zehn Jahren stark gestiegen, seit 2013 ebenso die Armut in der urbanen und ländlichen Peripherie. Hinzu kommt die massive Proletarisierung der Mittelklasse. Das Ende der UN-Sanktionen brachte für die Mehrheit nicht die erhofften Verbesserungen. Nur einige korrupte Mullahs und ihr ökonomisch-militärischer Komplex profitierten davon, z. B. die Pasdaran.

2016 stieg das BIP um mehr als zwölf, 2017 um bis zu fünf Prozent. Wachstum gab es fast nur im Energiesektor, es kam kaum in der restlichen Wirtschaft an. Viele Bereiche der Industrie stagnieren, es gibt immer mehr Entlassungen. Private und staatliche Investitionen sind auf einem historisch niedrigen Niveau, die erhofften ausländischen Investitionen hat es wegen der unsicheren Lage um neue Sanktionen kaum gegeben.

Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt heute bei zwölf Prozent (Frauen 20,7, Männer 10,5 Prozent); 42 Prozent der Arbeitslosen sind AkademikerInnen. Besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten: 2015/16 waren 31 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen zwischen 18 und 29 arbeitslos. 82 Prozent der Männer und 55 Prozent der Frauen zwischen 18 und 29 Jahren leben noch bei ihren Eltern; 76 Prozent der Männer und 49 Prozent der Frauen waren noch nie verheiratet. Die Löhne stagnieren, das Durchschnittseinkommen entspricht in etwa dem gesetzlichen Mindestlohn (9,29 Millionen Rial – heute etwa 209 Dollar). Aber 40 Prozent der Arbeitenden verdienen weniger als den Mindestlohn, der nur in Großbetrieben durchgesetzt ist.

Die wirtschaftliche Lage hat sich besonders in kleineren Städten und auf dem Land verschlechtert. Hier hatte die Einführung einer »bedingungslosen« Beihilfe1 durch den früheren Präsidenten Ahmadinedschad die Armut gemildert. Für viele war diese Geldleistung besser als subventioniertes Benzin. Damit konnte Ahmadinedschad 2009 die »grüne Bewegung« befrieden. (Zweitens mit seiner Anrufung der nationalen Identität.) Doch die massive Inflation der letzten Jahre hat diese Geldleistung entwertet. Nun wird sie von Rouhani stark beschnitten. Im Haushalt für 2018 werden die Budgets für Militär, Raketenprogramm und militärische Interventionen im Ausland erhöht. Die begonnene Kürzung vieler Subventionen wird weitergeführt. Der Benzinpreis erhöht sich um 50 Prozent.

»Kapitalisten-Mullahs, gebt uns unser Geld zurück«

Die Proteste waren Ausdruck des wachsenden Misstrauens gegenüber dem politischen Apparat als Ganzem. Sie stellten sich gegen Rouhanis Krieg gegen die Arbeiterklasse und die Armen und haben eine breitere Front hergestellt als es die vielen, oft vereinzelten Kämpfe der letzten zwei, drei Jahre konnten. Sie sind eine Weiterentwicklung der Proteste der letzten Jahre, aber gleichzeitig wird die veränderte Klassenzusammensetzung im Iran deutlich sichtbar. Deswegen helfen Vergleiche mit 1979 oder 2009 nur wenig. Die materiellen und ideologischen Möglichkeiten der Bewegung sind heute andere! Es sind keine Proteste von in absoluter Armut »Abgehängten«, sondern von Menschen, die statt der erwarteten Verbesserungen nur Stagnation und Verschlechterungen erleben – während die kleine herrschende Schicht sich extrem bereichert. Deshalb richtet sich die Wut gegen das gesamte bestehende Regime. Die Parole »Nieder mit hohen Preisen« wurde schnell zu »Nieder mit dem Diktator/Khamenei« und »Hardliner und Reformer, eure Zeit ist vorbei«.

Die Aktiven und Ideologen der Bewegung von 2009 sind in ihrer Einschätzung gespalten. Einige sprechen angesichts der totalen Unfähigkeit der Herrschenden von der »Notwendigkeit, die Massen zu organisieren«; andere sind abgeschreckt von der Gewalt und wenden sich von der Bewegung ab aus Angst vor einer »Außensteuerung«. Sie sehen die Gefahr eines Bürgerkrieges.

Auch das Regime hatte große Probleme damit, dass die Revolte keine Wortführer hat und verweist ständig auf eine ausländische Einflussnahme. Die plumpen Äußerungen Trumps waren dabei eine willkommene Hilfe. Gegen die Bedrohung von Innen und Außen rückten Reformer und Hardliner zusammen und versuchten, mit einer Mischung aus geheucheltem Verständnis und massenhafter Repression, den Zustand der Furchtlosigkeit auf den Straßen zu beenden. Die zeitweise Abschaltung des mobilen Internets sollte die Kommunikation auf den Straßen stören. Nach fast zwei Wochen gingen die Proteste zurück, die Demonstrationen verlagerten sich in die Nächte und wurden immer weniger. Nun setzt das Regime auf massenhafte Verhaftungen, hinzu kommt Folter (und gezielte Tötung) in den Gefängnissen, vermeidet aber massenhafte Tötungen.

Vereinzelt gibt es noch immer nächtliche Aktionen und Demonstrationen. Vieles dreht sich um die Gefangenen und ihre Freilassung. Auch Streiks gibt es wieder, bisher aber nur gegen drohende Entlassungen und wegen ausstehender Löhne. In den Betrieben der Kernindustrie (Autoindustrie, Ölsektor ...) ist es bisher still. Die Bewegung könnte aber den Boden für eine breite gemeinsame Streikwelle schaffen, die den ArbeiterInnen mehr Kraft verleiht. Denn sie sind eindeutig ihr Bezugspunkt. Im Unterschied zu 2009 haben heute die Unterschichten eine Führungsrolle und laufen der Mittelschicht nicht mehr hinterher. Hier zeigt sich, was für einen starken Einfluss die Streikbewegungen der letzten beiden Jahre auf die Vorstellung von Widerstand hatten.

Nationalismus vs. Islamismus?

Bisher haben die Proteste keine eigene positive Vision für eine andere Gesellschaft entwickelt. Dieses Vakuum füllt sich mit verwirrten Ideen. Eine der absurdesten ist die Forderung nach der Rückkehr der Monarchie.

Wichtiger ist der überall sichtbare Nationalismus, der sich in Parolen wie »Unabhängigkeit, Freiheit – Iranische Republik« (statt islamischer Republik) zeigt. Eine Parole, die man auf den Straßen oft hören konnte, war »Nein zu Gaza, nein zu Libanon, ich opfere mein Leben für den Iran«. Sie wird seit Jahren von nationalistischen Kräften gegen die Außenpolitik der Mullahs benutzt. In der Bewegung war sie aber weniger eindeutig nationalistisch, da mit der Forderung nach Sozialausgaben verbunden. Dass die Menschen auf den Straßen sich gegen die Kriegseinsätze in Syrien und im Irak aussprechen, muss nicht zwangsläufig nationalistisch sein, und ist eine wichtige Entwicklung, weil diese islamistisch-nationalistische Außenpolitik bis vor kurzem sichtbaren Rückhalt in der Bevölkerung hatte.

Trotzdem könnte der Nationalismus (gegen den staatlich propagierten Islamismus), die ideologische Lücke der Bewegung füllen. Dabei spielen auch ausländisch finanzierte Nachrichtensender und die viel gelesenen Internet- und social media-Kanäle, wie Amad-News, – die von wohlhabenden Iranern im Ausland finanziert werden – eine große Rolle.2 Hinzu kommen Sympathien für Trump: Manchen gilt er wegen seiner versprochenen Unterstützung des iranischen Volks als einziger Freund im Ausland! Das liegt nicht an seiner Politik, sondern daran, dass er nicht Obama ist, der gleichzeitig für die Sanktionen und den wirkungslosen Atomdeal steht. Die Leute blenden Trumps Rolle als Kriegstreiber in der Region aus; eine militärische Intervention der USA ist für sie unvorstellbar. Im Gegensatz zu solchen Ängste bei Exiliranern und in Teilen der iranischen Mittelschicht, die in die internationalen Debatten eingeklinkt sind.

Die Linke: das schwächste Glied

Die Exil-Linke hat dem »Iran-First«-Nationalismus kaum etwas entgegenzusetzen. Ihre Parolen »Nieder mit der Islamischen Republik«, »Weg mit dem Islamfaschismus« können integriert werden, auf vielen Unterstützungsaktionen im Ausland stehen linke IranerInnen friedlich neben Nationalisten und Monarchisten. Die auf den Straßen Irans sichtbar gewordene Kritik am Kapitalismus wird mit der Parole »Alle gemeinsam!« weggewischt. »Nieder mit dem Diktator!«; was danach kommt, ist erstmal nicht so wichtig. Das Wort »Revolution« ist in aller Munde, bleibt aber inhaltsleer.

Wenn linke Propaganda ihre (ausländischen) Leser in einem dauerhaften Empörungszustand halten will, kommen die ArbeiterInnen nur als Opfer vor. Das macht es schwer, auf die Bewegung im Iran einzuwirken. Zum Beispiel könnten wir selbstkritisch die alte Parole von 1979 »Arbeit, Brot und Freiheit« hinterfragen, die heute im Iran wieder skandiert wird. Auch damals wollte ein Teil der Linken erstmal den Schah weghaben – doch was danach kam, war leider sehr wichtig!

Die Bewegung ist seit Mitte Januar abgeflaut, aber es wird wieder zu einer Explosion kommen. Dann stehen die ArbeiterInnen und die Linke (nicht nur im Iran) vor einer weltverändernden Aufgabe.

Fußnoten

[1] Die »bedingungslose« Beihilfe hatte Ahmadinedschad 2010 eingeführt. Sie war als Ausgleich für die damals erstmals beschnittenen Subventionen auf Güter wie Benzin und Brot gedacht. 2010 betrug sie etwa 40 Dollar und wurde pro Monat an etwa 80 Prozent der IranerInnen gezahlt. Da sie nie erhöht wurde, war sie 2016 nur noch 12 Dollar wert. Gleichzeitig wurden die Gütersubventionen weiter reduziert: Schon 2016 machten Subventionen für Wasser, Strom und Treibstoff nur noch 3,4 Prozent des BIP aus, 2007 waren es noch 27 Prozent gewesen. In seinem Haushaltsentwurf will Rouhani die Zahl der Beihilfebezieher mehr als halbieren, davon wären etwa 34 Millionen Menschen betroffen.

[2] Im Iran gibt es grundsätzlich Inhaltezensur im Internet, der Zugang zu bestimmten Seiten und Apps ist gesperrt. Während der Hochphase der Bewegung wurden diesen Zensurlisten auch populäre Soziale Medien wie Telegram und Instagram hinzugefügt. Mittlerweile sind sie wieder freigeschaltet. Viele Iraner umgehen diese Inhaltezensur aber, auf neu verkauften Smartphones ist oft schon die passende App installiert. Das weiß auch das Regime: Deswegen hat es während der Bewegung zeitweise und an bestimmten Orten das mobile Internet ganz abgeschaltet – und die Kommunikation der Leute untereinander gestört.

 
 
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