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27.2.2019

aus: Wildcat 103, Winter 2019

Frankreich

Seit dem 17. November, der ersten großen Mobilisierung mit um die 300 000 Menschen auf den Straßen, hält sich die Bewegung der »Gilets Jaunes«. Sie dauert damit noch länger als die letzte erfolgreiche Bewegung in Frankreich gegen das CPE 2006; diese dauerte zwei Monate und brachte bis zu drei Millionen Menschen auf die Straße.*
Seither gab es nur Niederlagen im Klassenkampf. Das ist die eigentliche »Vorgeschichte« der Gilets Jaunes.

Die »Gelbwesten« sind die wichtigste Bewegung der letzten Jahre. Deshalb beginnen Teile der hiesigen Linken, nach den üblichen Abwehr-Reflexen, über das Eingreifen in solchen Bewegungen auch praktisch nachzudenken.

Aber die Bewegung hat diese beiden Grenzen: sie schafft es nicht, zur Massenbewegung zu werden; und sie schafft es nicht, zum Klassenkampf zu werden, keine großen Fabriken sind in den Streik getreten.
Deswegen fragt unser Artikel, den wir vor einem Monat geschrieben haben:

Was kommt nach den Gilets Jaunes?

Heute, am 26. Januar, war der »11. Akt« der Bewegung, die seit dem 17. November 2018 in Frankreich jeden Samstag an bis zu 2000 Orten gleichzeitig auf die Straßen geht. Daneben werden die allgegenwärtigen Kreisverkehre blockiert – wobei es keine richtigen Blockaden sind, sondern eher Treffpunkte; der Verkehr wird nur verlangsamt. Ihr Erkennungszeichen ist die gelbe Warnweste, die jeder Autofahrer mitführen muss. Die Gilets Jaunes (häufig mit »Gelbwesten« übersetzt) haben eine Vorgeschichte: die jahrelangen Niederlagen im Klassenkampf, die abgebrochenen oder mit gebremsten Schaum geführten gewerkschaftlichen Mobilisierungen, die Verschlechterung der Lebensbedingungen. Seit seinem Amtsantritt im Mai 2017 hatte Macron ein neues, unternehmerfreundliches Arbeitsrecht geschaffen, die staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF teilweise privatisiert, 120 000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen, den Zugang zu den Unis erschwert. Er schaffte die Vermögenssteuer ab und kompensierte die Steuerausfälle, indem er die Steuern auf die Renten und das Benzin erhöhte und die Mietzuschüsse für die untersten Einkommen um fünf Euro kürzte. Seine Arroganz war die Kirsche auf der Torte: der Bau eines teuren Schwimmbades für seinen Sommersitz, neues Geschirr für den Élysée-Palast, seine verachtenden Sprüche (»Ihr seid Nichts«, »ich brauche bloß über die Straße gehen und finde einen Arbeitsplatz für dich« usw.)…

Bewegungen gegen Steuern

Ende Mai 2018 startete Priscilla Ludosky, 33, schwarz, die in einem Vorort von Paris wohnt und einen Onlineshop für Naturkosmetik betreibt, eine Internetpetition. Sie rechnete vor, dass Steuern über die Hälfte des Benzinpreises ausmachen und forderte ihre Senkung. Monate später entdeckte Éric Drouet, Lastwagenfahrer und ebenfalls 33, die Petition und schickte sie auf Facebook weiter. Nun schoss die Zahl der Unterschriften in die Höhe, erst auf 200 000, dann auf 1,15 Millionen. Drouet rief für den 17. November zu einer Demo auf. 300 000 Menschen folgten seinem Aufruf. Keine Gewerkschaft, keine Partei hatte aufgerufen, nicht einmal der Bauernverband, trotzdem wurde frankreichweit demonstriert und blockiert. Sämtliche Demos kamen ohne Redner und Podien aus.

Die Bewegung konnte so schnell landesweit anwachsen, weil sie im Frühsommer einen Epilog in den Mobilisierungen gegen die Geschwindigkeitsbeschränkung auf Landstraßen hatte. Sie hat auch Vorläufer, den Aufstand der Forconi im Dezember 2013 in Italien (siehe Wildcat 97: »Drei Tage Volksaufstand in Turin«). Kurz davor, im Herbst 2013, hatte es in Frankreich eine ähnliche Mobilisierung gegeben, die Bonnets Rouges in der Bretagne: Arbeiter der Lebensmittelindustrie, Bauern und Kleinunternehmer gemeinsam gegen die Ökosteuer. (Macron, damals Hollandes Berater für Wirtschafts- und Finanzpolitik, nannte diese Leute die »Analphabeten unserer Zeit«.) Diese Bewegungen reagieren auf die staatliche Politik, die dazu führt, dass nicht mehr die Lohnquote, sondern die Steuerbelastung als »soziale Frage« wahrgenommen wird. In Frankreich werden damit seit Jahren Wahlen gewonnen: Sarkozy versprach 2007 steuerfreie Überstunden; Hollande versprach 2012, eine Steuer von 75% auf Jahreseinkommen von mehr als einer Million Euro; Macron hatte im Wahlkampf verkündet, die Wohnsteuer abzuschaffen… nach gewonnener Wahl erwiesen sich diese Versprechen seltsamerweise alle als »undurchführbar«. Dazu kam in Frankreich eine dichte Reihe großer Skandale: 2010 wurde bekannt, dass die reichste Frau Frankreichs 100 Millionen Euro Steuern hinterzogen und Sarkozys Wahlkampf illegal unterstützt hatte; Hollandes Haushaltsminister, der für die Bekämpfung des Steuerbetrugs zuständig war, musste 2013 zugeben, dass er 600 000 Euro auf einem Schwarzgeldkonto in der Schweiz angelegt hatte. Dann kamen die diversen Enthüllungen der Luxleaks, Swissleaks, Panama- und Paradise-Papers… Von all den kriminellen Mächtigen, Superreichen und Prominenten musste niemand in den Knast…

Seit der EU-Krise gab es ähnliche Bewegungen in anderen europäischen Ländern: z.B. demonstrierten in Portugal im Mai 2013 Zehntausende gegen Steuererhöhungen. 2014 mobilisierten in Spanien die »Indignados« gegen die Finanz- und Steuerpolitik. Die Krisenmobilisierungen in Griechenland sind bekannt…. Der Verlauf war zumeist nicht sehr erfolgreich. In Italien konnte sich z.B. Cinque Stelle aus solchen Bewegungen ernähren – und brachte letztlich die Faschisten der Lega an die Regierung (siehe Artikel in der Wildcat 102).

Auch in anderen Teilen der Welt laufen aktuell solche Kämpfe: die Riots in Haiti gegen die Zurücknahme der Treibstoffsubventionen, die wiederholten Gasolinazo-Proteste in Mexiko, die Riots gegen die Erhöhung der Fahrpreise für den Bus in Brasilien...

Die Linke tut sich traditionell schwer mit solchen Mobilisierungen. Konflikte um Steuern waren im 20. Jahrhundert selten ein »linkes« Thema. In Frankreich waren es Freiberufler, Selbständige und Landwirte, die nach dem Ersten Weltkrieg gegen die progressive Einkommenssteuer mobilisierten; und die Poujadisten in den 50er Jahren… Mit diesem Vorurteil hat jede Initiative zu tun, die nicht um die »primäre Einkommensverteilung« (Löhne und Profite) sondern um die sekundäre kämpft. Dabei ist die Mehrwertsteuer eine sozial äußerst ungerechte Steuer und sorgt in Frankreich für die Hälfte der Staatseinnahmen, die Lohn- und Einkommenssteuer »nur« für ein Viertel!

Henri Simon nimmt die Bewegung gegen diese Vorwürfe in Schutz: Sie sei heterogen, aber nicht wie ähnliche Bewegungen in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts durch die Kleinunternehmer und kleinen Ladenbesitzer geprägt. Allerdings drücke sie sich auch »heterogen« und vage aus; es ist viel die Rede vom »Volk«, von den »Bürgern« (»citoyens«). Die Gilets Jaunes richten sich an den Staat, meistens sogar personalisiert an Macron – und fordern von ihm teilweise Dinge, die sie stattdessen gegen die Kapitalisten durchkämpfen müssten.

Das drückt eine Schwäche aus; auch wenn die Bewegung eine proletarische Zusammensetzung hat und natürlich auch ArbeiterInnen an ihr teilnehmen; aber sie tun das von wenigen Ausnahmen abgesehen als Einzelne. Gerade die Tatsache, sich am Arbeitsplatz nicht mehr durchsetzen zu können, ist eine Erklärung für die Bewegung.

Soziologisch gesehen

Es gibt jede Menge soziologische Untersuchungen über die Gilets Jaunes. Demnach liegt das durchschnittliche Einkommen unter 1600 Euro im Monat, sehr oft sogar nur Mindestlohn (SMIC). Viele Junge, aber auch ein erheblicher Anteil an Rentnern. Beschäftigte, die es sich nicht leisten können zu streiken. Ein Team aus 70 SozialwissenschaftlerInnen begleitet seit Ende November in ganz Frankreich so viele Demonstrationen und Blockadeaktionen wie möglich, legt eine Kartographie der Aktionen an und befragt die Aktiven. Sie beobachteten im Dezember zum einen eine Ausweitung »nach unten« (es beteiligen sich nun mehr Arbeitslose, Obdachlose), zum anderen nahmen nun auch Gewerkschafter und politische Aktivisten teil. Außerdem sind im Dezember auch die SchülerInnen in Streik getreten. Die Bewegung mobilisiert viele Menschen, die in den letzten sozialen Bewegungen nicht präsent waren. Etwa die Hälfte der Befragtem hatte zuvor noch nie an einer Demonstration teilgenommen, noch weniger hatten Streikerfahrungen.

Der Frauenanteil ist relativ hoch. Durchschnittlich wurden 54 Prozent Männer und 45 Prozent Frauen gezählt. Die Frauen seien vor allem aus der Arbeiterklasse, eine soziale Gruppe, die sich sonst selten öffentlich mobilisiert.1

Die Bewegung ist vor allem eine des »France profonde«, des ländlichen Frankreich (im großen Unterschied zu den Nuit-debout-Protesten 2016, die auf Paris und wenige andere Großstädte beschränkt blieben). Frankreich ist viel stärker zersiedelt als die BRD. Wohnen, Arbeiten und Freizeitgestaltung liegen weiter auseinander. Die Verödung des ländlichen Raums gehe bis in die 50er Jahre zurück, bemerkt Henri Simon. »Die Mechanisierung der Landwirtschaft, verbunden mit der Flurbereinigung hatte zu einem großen Exodus der Landarbeiter in die städtische Industrie geführt; somit blieben die Kunden weg und die kleinen Geschäfte und das Handwerk verschwanden. Super- und Hypermärkte haben dann diejenigen abgeräumt, die noch überlebt hatten. Zuletzt kam der Online-Handel und hat auch die letzten Reste wie den kleinen Supermarkt an der Ecke (»superette«) erledigt. Mit diesen Veränderungen bekam das Auto eine viel größere Bedeutung als in den Städten.« Verschärft wurde diese Entwicklung, weil sehr viele Eisenbahnlinien eingestellt, Post- und Bankfilialen geschlossen wurden. Die Leute auf dem Land brauchen das Auto, um zur Arbeit zu kommen, um einzukaufen. Die Ausgaben fürs Auto sind einer der bedeutendsten Posten der Haushalte (vergleichbar mit der Miete in den Städten).

»Erstmals in der Geschichte des Kapitalismus leben die Arbeiter nicht mehr dort, wo Beschäftigung geschaffen wird.« (Christophe Guilluy: »Aufstand der Peripherie«, dt. im freitag, Ausgabe 49/2018)

»Que les gros payent gros et que les petits payent petit.«2

Die Stärken der Bewegung sind ihre Entschlossenheit, die Solidarität und ihre Fähigkeit zur Einheit in der Aktion. Letzteres ist angesichts ihrer Heterogenität überraschend. Zudem gibt es große Sympathien in der Bevölkerung, die allerdings passiv bleibt.

Die Gilets Jaunes drücken das große Misstrauen aus, das in Frankreich gegenüber sämtlichen Vermittlungsinstanzen wie Parteien und Gewerkschaften herrscht. Und sie haben sich mehrmals mit anderen Protesten zusammengeschlossen. In Toulouse mit einer Demo gegen Gewalt gegen Frauen, in Marseille gegen die desolate Wohnpolitik der Stadt, in Paris mit einem Komitee gegen Polizeigewalt in den Banlieues. Sie haben die kämpfenden Amazon-ArbeiterInnen unterstützt, und sie haben die Monsanto-Fabrik bei Trebes in der Nähe Carcasonne blockiert, eine der beiden größten Fabriken zur Präparierung des Saatguts mit Neonikotinoiden. Beim »vierten Akt« demonstrierten sie in Lyon und in Montpellier zusammen mit Demonstranten die an diesem Tag in mehreren Städten gegen die Klimapolitik protestierten: »Social, climat, même combat.«

Angesichts der heterogenen Zusammensetzung ist es erstaunlich wie stark der Konsens in einer ganzen Reihe von Forderungen ist. Nachdem der Premierminister die Gilets Jaunes »zum Dialog eingeladen« hatte, führten einige der Gruppen eine interne Umfrage durch, an der sich angeblich 30 000 Personen beteiligten, und veröffentlichten dann Ende November eine Liste mit 42 Forderungen: Inflationsausgleich bei Löhnen und Sozialleistungen, mehr Leistungen für Behinderte, Beschränkung der Miete, Wiederverstaatlichung der Energie-Unternehmen und Senkung der Stromkosten, Rente mit 60 bzw. mit 55 bei schwerer körperlicher Arbeit, 1200 Euro Mindestrente; Verbot, aus der Pflege Profite zu machen; Erhöhung der Vermögenssteuer; generell sollte das Prinzip, dass die Kleineren weniger bezahlen und die Größeren mehr, steuerlich strenger berücksichtigt werden; Bevorzugung des Transports auf der Schiene; Steuern auf Schiffs- und Flugzeugbenzin; alle politischen Vertreter bekommen einen Durchschnittslohn; zu allen Gesetzesvorhaben muss es Volksabstimmungen geben können; Schluss mit befristeten Arbeitsverträgen; Schluss mit Entsendearbeit; Mindestlohn von 1300 Euro für alle; Höchstgehalt von 15 000 Euro; Verbot von Auslagerungen; Wasserstoff-Autos entwickeln (E-Autos sind nicht ökologisch); Schluss mit der Austeritätspolitik; die Gründe der erzwungenen Migration müssen behandelt werden; Asylantragsteller müssen gut behandelt werden; abgelehnte Asylbewerber müssen in ihr Heimatland zurückgebracht werden; wer nach Frankreich kommt, soll Sprach- und Geschichtskurse bekommen und integriert werden; das gleiche Sozialsystem für alle; mehr Gelder für die psychiatrischen Krankenhäuser; sofortige Beendigung des Schließens von kleinen Bahnstrecken, Postämtern, Schulen und Entbindungsstationen; den Bullen ihre Überstunden bezahlen; maximal 25 Schüler pro Klasse; usw.3

Ein weiterer Punkt in der Forderungsliste lautet »Kampf gegen die Medienkonzentration«. »Wir akzeptieren nicht länger, dass 90 Prozent der Medien einer Handvoll Milliardären gehören, die sie als Propagandawerkzeug missbrauchen, um ihre Interessen zu schützen.« (Die führenden Medien befinden sich in den Händen der zehn reichsten Franzosen.)

Diese Liste wurde als widersprüchlich, zufällig usw. dargestellt; in Wirklichkeit ist sie kohärent: es geht drum, wie man konkret das Leben verbessern kann – und dieser Kern hat zur Dauerhaftigkeit der Mobilisierung beigetragen.

Die Gilets Jaunes stellen die Öko-Debatte wieder vom Kopf auf die Füße; sie machen »die Ökologie zur sozialen Frage«, wie die taz erschüttert feststellen musste. »Vorher haben wir nicht über Ökologie gesprochen«, schrieben französische Intellektuelle in einem Beitrag, darunter die Autorin Annie Ernaux, »auf den Barrikaden spricht man stündlich darüber, und man ist sich einig: Umweltverschmutzung reduzieren, das heißt, die verschmutzenden Unternehmen zu besteuern, das Kerosin zu besteuern, den Preis für saubere Autos zu senken, stattdessen die lokalen Bahnlinien zu erneuern und sie eben nicht zu reduzieren, die Fahrscheinpreise der öffentlichen Verkehrsmittel zu senken, oder sie kostenlos anzubieten.« Denn, das fragen die Gelbwesten: Wie soll man es denn sonst bitte machen, ohne Auto? Auf dem Land? Wo Busse nur zweimal am Tag fahren und die Bahnlinie eingestellt wurde?« (zitiert nach freitag 6.12.2018 »Der Knoten platzt«)

Was die Medien so schreiben: »Eine umstürzlerische Zeit«

Inzwischen haben wirklich alle ihren Senf dazu gegeben. Auch Leute, die seit Jahren zu sozialen Bewegungen verstummt waren, äußern sich nun. Henri Simon findet, offensichtlich mache der Informationsstrom etwas mit der öffentlichen Meinung, aber es sei »schwer einzuschätzen, welchen Einfluss diese Schwatzsucht« auf die Bewegung selber habe, die in ihr mitschwimmenden »Fake News« hätten jedenfalls keinen Einfluss auf sie gehabt.

Die deutsche Presse kann soziale Bewegungen offensichtlich nur denunzieren, ignorieren – oder zur revolutionären Bedrohung hochjazzen. Zunächst kamen reflexhaft die Vergleiche mit Pegida. Auch in der »deutschen Linken« (falls man Riexinger, Cohn-Bendit u.ä. dazu zählen will) überwogen im November die Vorbehalte. Guillaume Paoli hat z.B. die Behauptungen Cohn-Bendits im Detail auseinandergenommen; das lohnt sich zu lesen!4

Dabei gab es von Anfang an einen wesentlichen Unterschied zu Pegida. Die Gelbwesten erheben sich explizit gegen wirtschaftliche Zustände und nicht gegen MigrantInnen.

Im Dezember änderten viele ihre Meinung; im Januar wurde die Bewegung dann von den einen zu »etwas in den westlichen Industrieländern Beispielloses: ein gesellschaftliches Coming-out der unteren Mittelschicht« erklärt (Georg Blume am 20.1.19 im Spiegel), andere sahen einen gesellschaftsverändernden Umsturz im Gang: »Eine umstürzlerische Zeit kündigt sich an. Französische Lehrerinnen und Lehrer wollen kommenden Montag streiken. Schulklassen blockieren eine Autobahn in Südfrankreich. Ein Rathaus wird in Brand gesetzt. Die mächtige Bauerngewerkschaft droht mit Traktorblockaden. Gelbwesten, die sich vom Premierminister einladen lassen, wird mit Mord gedroht: Frankreich ist in einem Ausnahmezustand wie zuletzt 1995, als ein Generalstreik über drei Wochen Schulen und Eisenbahnen lahmlegte. (…) die Gelbwesten fordern nichts weniger als eine andere Gesellschaft.«5

Georg Blume hatte die Bewegung nach dem »Dritten Akt« am 1. Dezember sogar mit der Julirevolution von 1830 verglichen.6 Der Vergleich hinkt mehrfach: Die Aufstände im 19. Jahrhundert waren eine Kampfform streikender ArbeiterInnen; sie fanden im eigenen Viertel statt. Am 1. Dezember hingegen sind Demonstranten in den reichen Pariser Norden gezogen. Aber weil in der deutschen »radikalen« Linken sogar so was wie G20 in Hamburg ernsthaft als »primärer Aufstand« diskutiert wird (siehe Buchbesprechung in diesem Heft), lohnt es sich, auf diesen Punkt kurz einzugehen.

Aufstand?

Die Krawalle am 1. Dezember in Paris sollen die massivsten seit dem legendären Mai 1968 gewesen sein, gleichzeitig gab es in zwanzig weiteren Städten heftige Zusammenstöße. Henri Simon sieht darin die logische Konsequenz aus dem Problem, dass es der Bewegung nicht gelingt, wirklich massenhaft zu werden. Sie bringen hunderttausend auf die Straße, zu Beginn auch dreihunderttausend, aber es wurde schnell klar, dass es keine Millionen werden würden. Der einzige Ausweg, um sich bemerkbar zu machen, ist dann Randale. Das Zerschlagen der Marianne am 1. Dezember war auch recht geschickt!

Der Sozialwissenschaftlicher Samuel Hayat schrieb in einem lesenswerten Artikel: »Sowohl die Bilder in den Medien, als auch das, was ich durch eigenes Rumlaufen am 1. Dezember mitgekriegt habe, haben mir ein Paris gezeigt, das es weder 1995 [Streik im Öffentlichen Dienst] noch 2006 [Riots in den Banlieues] noch 2016 [Nuit-debout] zu sehen gab, obwohl auch das drei sehr bedeutende Momente waren.«

»Die festgelegten Regeln der politischen Demonstration wurden ignoriert: kein Demonstrationszug, keine juristisch Verantwortlichen, keine ausgehandelte Demoroute, keine Ordner, keine Flugis, keine Transpis, keine Sticker… aber tausende von persönlichen Sprüchen auf den Rücken der Warnwesten.«

»Manche haben von Unruhen oder sogar von Aufstand gesprochen. Es kann sein, dass es solche Situationen gab, aber nichts erinnert auch nur entfernt an die Ereignisse von 1830, 1832, 1848 oder 1871.«

Dem stimmt auch Henri Simon zu: es ist kein Aufstand, wenn man danach wieder normal zur Arbeit geht; es gibt keinen Aufstand, der an einem Tag in der Woche stattfindet.

Samuel Hayat fasst die Bewegung der Gilets Jaunes mit dem Konzept der Moralischen Ökonomie, mit dem E.P. Thompson die Kämpfe der englischen Arbeiterklasse im 18. Jahrhundert untersucht hatte. Das Konzept ist ähnlich dem Begriff von Beverly Silver, die zwischen Bewegungen des Marx‘schen Typs und solchen des Polanyi‘schen Typs unterscheidet: Erstere wollen die jetzige Welt nach vorne überwinden, letztere wollen zu etwas »zurück«, in eine Welt, wo »der Markt« nicht alles diktierte. Laut Hayat drücke sich die »moralische Ökonomie« der Gilets Jaunes am besten in ihrer Parole »Que les gros payent gros et que les petits payent petit« aus. Sie wollen die Schwächsten (Obdachlose, Behinderte…) schützen, Arbeiterinnen sollen »korrekt« bezahlt werden, soziale Dienstleistungen gesichert, Steuerbetrüger bestraft, jeder solle nach seinen Möglichkeiten beitragen. Diese »moralische Ökonomie der Unterklassen« stehe frontal gegen die neoliberale Wirtschaftsdoktrin (den Reichen noch mehr geben; schön ausgedrückt in Macrons Satz: »die ersten am Seil uterstützen«), und das erkläre die große Zustimmung in der Bevölkerung und die Fähigkeit der Gilets Jaunes, ohne irgendwelche Parteien oder Gewerkschaften frankreichweit zu mobilisieren und kollektiv zu handeln.

Diese »moralische Ökonomie« sei aber gleichzeitig ein impliziter Pakt mit den Herrschenden – und bleibe somit innerhalb der gegebenen Machtverhältnisse. Die Herrschenden haben diesen »Pakt« mit ihren anti-sozialen Maßnahmen immer wieder gebrochen, und Macron werde als Verkörperung dieses »Verrats« gesehen. Aber wie der Meister in der Fabrik auch dann noch eine produktive Rolle fürs Kapital spielt, wenn er von den Arbeitern verprügelt wird, steht Macron schützend vorm Kapitalismus, wenn sich die Bewegung darauf fixiert, seinen Rücktritt zu fordern. Revolten, die sich auf Vorstellungen einer moralischen Ökonomie berufen, wollen den impliziten Pakt wiedereinsetzen, sie wollen eine »Rückkehr zur Ordnung, keine revolutionäre Veränderung«, und »verwandeln sich nicht notwendigerweise in eine revolutionäre Bewegung« (Hayat). Zum Schluss seines Textes verweist Hayat darauf, dass einige lokale Gruppen der Gilets Jaunes durchaus über die »moralische Ökonomie« hinausgehen, eine Kritik des Kapitalismus und eine emanzipatorische Perspektive formulieren. Somit sei noch alles möglich.

Repression

Der Staat schlug äußerst heftig zurück. Auch für französische Verhältnisse überstieg die juristische Repression jedes Maß. An jedem Samstag wurden allein in Paris eine dreistellige, in der ersten Dezemberhälfte sogar vierstellige Anzahl Menschen festgenommen, von denen die meisten dann in U-Haft kamen, darunter sogar Minderjährige. Noch viel drastischer schlugen die Bullen zu: Sie wollten weh tun und verletzen. Ein unbewaffneter Demonstrant stellte sich mit ausgebreiteten Armen und in großem Abstand vor eine Bullenkette und bekam zur Antwort ein Gummigeschoss in den Bauch. Kopftreffer mit Flash Balls, Bilder von blutenden Köpfen zeigten, dass großes Risiko miteinkalkuliert wurde. Le Monde berichtete, dass mit Gummigeschoss-Waffen direkt auf Köpfe von Journalisten gezielt wurde.

Der Journalist David Dufresne meldete dem Innenministerium mehr als 300 »Zwischenfälle«. Die Webseite Désarmons-les (Lasst sie uns entwaffnen) listet mehr als 100 Verletzte auf, einige davon haben ein Auge verloren, manche eine Hand, viele ihre Zähne.

Besonders brutal sind in Frankreich schon immer die Flash Balls, die seit den riots 2006 durch eine neue, ebenfalls angeblich »nicht tödliche« Waffe ersetzt wurden. Diese sogenannten Balles de Défense (Verteidigungskugeln) werden mit einem Werfer verschossen (LBD-40), auf den ein Laserpointer gesetzt werden kann; die 40mm-Kugeln aus Kautschuk verlassen mit einer Geschwindigkeit von 100 Meter in der Sekunde den Lauf. Der Hersteller, die Schweizer Firma Brüger & Thomet, garantiert eine »sehr gute Treffsicherheit auf 40 Meter«. Die Website desarmons-les sagt, unter 25 Meter sei sie tödlich. Am 23. Dezember hat die Regierung 1280 neue LBDs bestellt.

Außerdem wurden Granatwerfer eingesetzt. Der Einsatz der Polizeigewalt war zielgerichtet. Zur Abschreckung wurden auch Leuten schwerste Verletzungen zugefügt, die in keiner Weise gewalttätig waren; das Netz ist voll mit Videos, die solche Vorfälle zeigen.7

Macron weicht einen Schritt zurück

Zu Anfang hatte Macron versucht, die »Gilets Jaunes« als Erscheinung darzustellen, hinter der das rechtsnationale Lager die Fäden ziehe und sich nicht öffentlich dazu geäußert. Die Regierung spekulierte darauf, dass sich die Bewegung in den Weihnachtsferien verlaufen würde – wie es in den letzten Jahrzehnten in Frankreich schon des öfteren passiert ist. Nach der massiven Randale am 1. Dezember hatte Macron am Arc de Triomphe Blumen niedergelegt und von seiner »Besudelung« gesprochen. Am Tag danach traten auch noch die SchülerInnen in den Streik. Das Vorgehen der Bullen gegen sie löste Empörung aus. Am 6. Dezember mussten in Mantes-la-Jolie Dutzende Schüler in Reihen auf dem Boden knieen, mit den Händen am Kopf oder hinter dem Rücken, umstellt von vermummten Ordnungskräften mit schweren Waffen. Beim »vierten Akt« am 8. Dezember waren trotz massivster Bullenrepression wieder 136 000 Leute auf den Straßen (nach den offiziellen Zahlen der Regierung). Nun wandte sich Macron am Abend des 10. Dezember im Fernsehen an sein Volk: höherer Mindestlohn, keine höheren Sozialabgaben auf niedrige Renten, steuerfreie Überstunden und eine Jahresprämie – die Erhöhung der Dieselsteuer war schon vorher abgesagt worden. Er erklärte den »wirtschaftlichen und sozialen Ausnahmezustand«, blieb aber bei der Abschaffung der Vermögenssteuer. »Sachlich betrachtet sagte der Präsident den Wütenden im Land: Ihr seid arm, hier habt ihr Geld« kommentierte Nadia Pantel zutreffend in der Süddeutschen Zeitung.

Aber die »Welt« blickte mit den üblichen »Wirtschaftsexperten« in den Abgrund: »Ist das womöglich das letzte Kapitel des neoliberalen Märchens, an das niemand mehr glauben will?« fragte sie erschrocken. Und stellte heraus, dass diese Maßnahmen etwa acht bis zehn Milliarden Euro kosten würden, Frankreich dafür seine Neuverschuldung erhöhen müsse, und oh Graus: damit die Maastrichtkriterien verletzen würde!

Am Tag danach, am 11.12. erschoss ein Islamist in Straßburg mehrere Menschen.

Die Demos wurden kleiner, aber sie hielten durch. Auch wenn Macrons Versprechungen nicht viel bringen – so viel hatte in den letzten Jahren keine Bewegung in Frankreich erreichen können. Und dann noch gegenüber Macron, der mit dem Alleinstellungsmerkmal für sich geworben hatte, er würde niemals »dem Druck der Straße« nachgeben!

Zu Beginn des Jahres 2019 trat übrigens eine Verordnung in Kraft, die wesentlich drastischere Sanktionen für Arbeislose vorsieht: wenn ein Besprechungstermin beim französischen »Jobcenter« (Pôle emploi)versäumt wird, werden die Leistungen für die Dauer eines Monats komplett gestrichen; beim zweiten Versäumnis zwei Monate, beim dritten vier Monate. Und wenn man auch nur ein »vernünftiges Job-Angebot« ablehnt, werden die Leistungen komplett gestrichen.

Was wird bleiben?

Henri Simon stellt fest, dass die kapitalistische Ökonomie fast ungestört weiter lief, sogar in der Logistik. Die Bewegung werde deshalb früher oder später abflauen. Aber sie habe dem dörflichen Frankreich eine Stimme gegeben und die Isolierung im Alltag aufgebrochen. Das sei wichtig, auch wenn es zunächst auf Debatten an den Kreiseln und in lokalen Versammlungen beschränkt blieb. Allerdings sei keine Perspektive über den Kapitalismus hinaus aufgemacht worden; deshalb würden diese Errungenschaften wohl bald wieder in die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse zurückfallen. Trotzdem sei zu hoffen auf die Verbindungen, die geknüpft und die Debatten, die geführt worden sind.

Tatsächlich vergeht in Frankreich kein Jahr ohne große soziale Mobilisierungen. Dass so schnell gemeinsame Inhalte auf den Tisch kommen, dass man sich gegen ein riesiges Bullenaufgebot zu wehren weiß, dass die Debatten in einem produktiven Klima geführt werden, ist Ausdruck davon. In der BRD gab und gibt es auch große Mobilisierungen: Stuttgart 21, die Willkommenskultur, Hambacher Forst usw. Aber all diese Mobilisierungen thematisieren nie die sozialen Bedingungen, das überlassen sie den Rechten. Dass das in Frankreich anders ist, gibt Grund zur Hoffnung.

Heute beim »11. Akt« sind die Teilnehmerzahlen zurückgegangen; laut Innenministerium waren es 69 000, letzte Woche 84 000. Wie immer sind die absoluten Zahlen sehr umstritten: das Syndicat France Police - Policiers en Colère gab 330 000 um 19 Uhr 30 bekannt. Aber relativ zum letzten Samstag waren es wohl weniger… ■

Tipps zum Weiterlesen:
Fußnoten:

[*] Wir hatten in der Wildcat 76 einige Artikel dazu, online ist aber zur Zeit nur unsere Übersetzung eines Artikels von Mouvement Communiste.

[1] Interview mit Tinette Schnatterer, Neues Deutschland, 16.12.2018: »Was bewegt die Gelbwesten?«

[2] »Que les gros (McDo, Google, Amazon, Carrefour...) payent gros et que les petits (artisans, TPE, PME) payent petit« war eine der 42 Forderungen: »Die Großen sollen viel, die Kleinen sollen wenig zahlen.«

[3] Baisse des taxes, référendum populaire, zéro SDF... On a dècortique les 42 revendication des »gilets jaunes« auf www.francetvinfo.fr, 1.12.2018.

[4] Guillaume Paoli: Anatomie einer Desinformationskampagne, 11.12.2018.

[5] Annika Joeres: »Revanche der Enttäuschten«. Die ZEIT, 19.1.2019.

[6] Georg Blume: »Franzosen, Volk der Revolte«. Spiegel online, 9.12.18.

[7] siehe »Reihenweise Verstümmelungen« von Thomas Pany am 18. Januar 2019 auf telepolis
Solche Videos findet man beispielsweise auf dem Twitterfeed DAVDUF und der Website desarmons.net. Dort finden sich auch viele Hintergrundartikel zu den verschiedenen Polizeiwaffen usw.

 
 
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