.wildcat

16.02.2020

aus: Wildcat 104, Winter 2019/2020

Heinz und Lawrence: Erfahrungen im Hilfsjob

In Chicago haben wir Dave Ranney getroffen, in den 70ern organisiert unter anderem in der Sojourner Truth Organisation, dann Weggefährte von Raya Dunayewskaya in News and Letters. Sofern es sein Alter und gesundheitlicher Zustand zulassen, hält er noch Vorträge und macht bei Initiativen mit, etwa gegen die Bodenvergiftung durch die Stahlwerke einerseits und die Arbeits- und Wohnungslosigkeit durch deren Schließung andererseits.

Dave hat von 1976 bis 1982 in verschiedenen Fabriken in dieser Gegend gearbeitet, er brauchte Geld, weil sein Akademikerjob keines brachte. Damals hatte er in mindestens zehn Stahlwerken und den verschiedenen Zulieferklitschen 200 000 Kollegen, heute sind es noch drei große Stahlwerke mit insgesamt weniger als 10 000 Arbeitern.

Nun hat er über seine Erfahrungen in der Fabrik ein 140-seitiges Büchlein veröffentlicht. Die negativen Erfahrungen, die er darin schildert, kennen wir sehr gut. Die Arbeiter sitzen im Pausenraum nach ethnischer Herkunft getrennt und reden in ihrer Sprache; blöde Sprüche bis hin zu schlimmem Rassismus.

Im Juni 1978 machte er positive Erfahrungen bei einem selbstorganisierten Streik in der Speiseölfabrik Chicago Shortening, einer kleinen Klitsche mit 50 Leuten, davon 34 Produktionsarbeiter. Auch dort die übliche Mischung: Schwarze, die mit den Black Panthers sympathisierten, sie machten die schlechtesten Jobs (den Boden mit giftigen Chemikalien reinigen); einige Mexikaner, ein Teil davon illegal; weiße Alkoholiker in der Instandhaltung, und Heinz, der einzige weiße Pumpenführer, immer in Lederjacke mit Hakenkreuz und Südstaaten-Flagge-Aufnäher und einer eingesteckten Pistole. Die Schwarzen grüßen ihn mit »Sieg Heil!«, er grüßt freundlich zurück und erklärt allen, dass er ein Nazi sei. Im Gegensatz zu den weißen Facharbeitern verliert er jedoch kein schlechtes Wort über die Schwarzen und Mexikaner.

Daves Aufgabe war Instandhaltung und Reparatur. Das Management sparte, wo es konnte; Sicherheit und Umweltschutz waren praktisch nicht vorhanden, Arbeitsunfälle regelmäßig (Dave hatte einen schweren Arbeitsunfall, und gleich danach ein Kollege). Die Nachbarschaft hatte mit Gestank und durch Fett verstopften Abflussrohren zu kämpfen. Die Prozesse in der Fabrik konnten nur funktionieren, weil die Instandhalter zum Beispiel den Dreh raushatten, verstopfte Rohre durch allerlei Tricks wieder frei zu bekommen.

Do the right thing!

Die zuständige Gewerkschaft ist korrupt und bedeutungslos. Als sie wen vorbeischicken, die Arbeiter sollten ein Verhandlungsteam für die Tarifverhandlungen zusammenstellen, ist niemand an dem abgekarteten Spiel interessiert. Trotzdem gehen ein paar Freiwillige zu den Verhandlungen, darunter Heinz. Nach der ersten Runde wollen sie aufgeben. Dann klebt Dave einen Zettel mit Forderungen auf eine Pinnwand (der leider verloren ging und an dessen genauen Inhalt er sich nicht mehr erinnern kann): bessere Sozialversicherung, Lohnerhöhung, freigewordene Posten müssen ausgeschrieben werden. Damit geht Heinz in die nächste Verhandlungsrunde, sie scheitert erneut. Aber nun sind die Weichen gestellt; das Fass ist voll, als der alte Vertrag künstlich zwei Wochen verlängert wird durch nicht vereinbarte Unterschriften der Gewerkschafter – wäre er ausgelaufen, könnten die Arbeiter ­legal streiken. Heinz organisiert einen spontanen Streik, was gründlich danebengeht – Streikbeginn 24 Uhr, zu wenige Kollegen und präventiv Bullen vor der Fabrik, die mit Gefängnis drohen. Dann klebt der schwarze Arbeiter Lawrence sein Statement auf die Pinnwand und ruft seine Kollegen auf, »zu machen, was richtig ist«. Alle drei Schichten versammeln sich und 39 Kollegen stimmen für Streik. Dave wird daraufhin ins Büro zitiert, wo der zuständige Gewerkschafter ihm nach einer Streiterei ein paar Schläge verpasst – als Daves Kollegen das mitkriegen, beginnt ein spontaner »Walkout«. Die Chefs schicken die Arbeiter nach Hause, aber diese bleiben. Ihr Streikposten wird zu einer »Schule verschiedener politischer Anliegen«, z. B. solidarisieren sich iranische Studenten, mit ihnen wird über die Revolution im Iran diskutiert. Trotz anhaltend guter Stimmung geht der Streik verloren. Er wurde vom Bundesgericht verboten und ein Versuch, in Kontakt mit anderen Belegschaften zu treten, scheiterte kläglich. Am Ende ersticht ein Streikbrecher einen schwarzen Arbeiter und Daves liebgewonnenen Freund.

In den letzten Kapiteln vergleicht Dave die heutige Situation mit der von damals. Die Arbeitsplatzvernichtung hat zu Verelendung geführt. Dave kritisiert die Parolen »Bring back middle-class jobs« und »Fight for 15!« Die Jobs waren damals schon scheiße und 15 Dollar die Stunde reichen bei weitem nicht für ein anständiges Leben. ■

David Ranney: Living and Dying on the Factory Floor. PM Press 2019, 160 S. (auch als E-Book)
Das Buch gibt es nur auf Englisch. Aber es ist leicht zu lesen und chronologisch aufgebaut. Es eignet sich für Leute, die ihr Englisch verbessern wollen.
Auf Jacobin gibt es noch ein lesenswertes Interview mit Dave: »We‘re gonna shut this place down«. An Interview with Dave Ranney, 28.2.2019.

 
 
 [Seitenanfang] [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]