.wildcat

24.4.2020

aus: Wildcat 104, Winter 2019/2020

»20/32«

Streikwelle in Mexiko

Anfang 2019 haben bis zu 80 000 Fabrikarbeiter im Norden Mexikos gestreikt. Die Bewegung begann in der 450 000-Einwohner-Stadt Heroica Matamoros an der Grenze zu Texas; später haben die Arbeiter mit Aktionskomitees den Streik auf Fabriken in anderen Städten ausgeweitet. Die alten, systemtreuen Gewerkschaftsapparate versuchten, flankiert von Drohgebärden der Wirtschaftsbosse, die Streikbewegung wieder einzufangen: streikende Arbeiter wurden von Gewerkschaftern und Bullen verprügelt, fast 5000 wurden entlassen. Trotzdem mussten die Unternehmer in 89 Fabriken (oder Maquiladoras, wie sie oft genannt werden) den Forderungen nachgeben.

Diese Streikbewegung, die unter dem Namen »20-32« bekannt wurde (20 Prozent mehr Lohn, 32 000 Pesos Jahresbonus) ist die zweite historische nach 2015, als ca. 50 000 Erntearbeiter streikten.1 Sie hat einen Bruch zwischen altem und neuem Herrschaftsapparat ausgelöst: die alten der PRI nahestehenden Gangster-Gewerkschafter im CTM werden durch die neuen demokratischen Kräfte der MORENA-Regierungspartei abgelöst. Deren Unterstützer versuchen zusammen mit dem amerikanisch-demokratischen, antikommunistischen Netzwerk aus USAID, AFL-CIO und Solidarity Center die Kämpfe zu benutzen, um die mexikanische Gewerkschaftslandschaft zu modernisieren – oft wird vom Aufbau »unabhängiger Gewerkschaften« in Abgrenzung zu den gelben Gewerkschaften gesprochen. Das spielt der Reform des mexikanischen Arbeitsrechts zu, was eine wichtige Bedingung des neuen nordamerikanischen Handelsabkommens USMCA ist.

Von NAFTA zu USMCA

Obwohl die Autoproduktion 2018 etwas zurückging, hat Mexikos Autoindustrie mittlerweile Südkorea überholt – das Lohnniveau entspricht in etwa jenem im bitterarmen Serbien2. Mexiko ist weltweit viertgrößter Autoexporteur; nach Öl sind Waren aus den Maquiladoras das zweitwichtigste Exportgut, sie gehen zum allergrößten Teil in die USA.

1994 trat NAFTA in Kraft, den mexikanischen Proletariern wurde versprochen, dass auch sie vom Freihandel profitieren würden. Doch die Kaufkraft in Mexiko ist heute geringer als in den 1980er Jahren, und immer mehr Menschen gingen in die USA. Dort werden die braunhäutigen Migranten von der Trump-Regierung als Sündenbock benutzt. Trump sprach im Wahlkampf von »zu vielen Autoteilen und zu vielen Migranten«, die aus Mexiko in die USA kommen.

Der neue Handelsvertrag USMCA sieht vor, dass mehr Teile in US-Autos verbaut werden müssen, die von Arbeitern mit Stundenlöhnen von mindestens 16 Dollar gefertigt werden – zu viel für mexikanische Verhältnisse und zu wenig für US-Verhältnisse. In Mexiko müssten die Löhne um das Achtfache steigen, und in den USA fängt man sogar in den Südstaaten, wo die Löhne wesentlich niedriger als im Landesdurchschnitt sind, bei 17,50 Dollar die Stunde an3. Das USMCA soll Industriearbeit aus Mexiko in die USA rückverlagern und entgegen der Propaganda gleichzeitig US-Industrielöhne senken.

»Drogenkrieg-Kapitalismus«

14 der 50 Städte mit der höchsten Mordrate weltweit liegen in Mexiko. 2016 wurde »El Chapo« abgeräumt und der staatliche Ölkonzern PEMEX privatisiert (»der wirkliche Diebstahl geschieht bei PEMEX«)4; im USMCA ist kein Schutz der nationalen Ölindustrie Mexikos mehr vorgesehen, bereits geschaffene Tatsachen werden ratifiziert. Beide Ereignisse führten zu einem Machtvakuum; das ist eine neue Basis der Gewalt – seit 2016 wurden jedes Jahr mehr Menschen ermordet. Der »Krieg gegen die Drogen« ist ein wichtiges politisches und kommerzielles Projekt mexikanischer und US-Regierungen; vom Immobilienmarkt bis zur Unterdrückungsindustrie hängen alle dran. Unter der Parole »Krieg gegen die Drogen« enteignen mexikanische Regierung und Paramilitärs die Landbevölkerung, wenn der Boden Rente verspricht: Öl, Gas, Infrastrukturprojekte...

AMLO kommt an die Macht

Seit dem Landarbeiterstreik 2015 haben proletarische Proteste Boden gutmachen können. Anfang 2017 hat die »Gasolinazo«-Bewegung Spritpreiserhöhungen abgewehrt, 2018 haben Migrantenmassen das für sie sehr gefährliche Land vom Süden nach Norden durchquert (Migranten zu entführen, auszurauben und zu töten, ist mittlerweile so ertragreich wie der Drogenhandel).

Ende 2018 kam AMLO an die Macht, getragen in erster Linie von der Hoffnung der Armen und der Ablehnung des jahrelangen hammerharten neoliberalen Kurses. Er konnte sich leicht in Szene setzen, hat nach Amtsantritt den Präsidentenpalast geöffnet und lebt weiterhin in seinem Privathaus, hat Regierungsflugzeuge verkauft, reist in Linienflugzeugen, geht zu Fuß statt sich in der Präsidentenlimousine chauffieren zu lassen, hat ein paar unbeliebte Großprojekte gestoppt… Hinter diesen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen blieb nicht verborgen, dass das US-Finanzkapital sich ebenso gefreut hat – US-Investoren haben nach der Präsentation der Budgetpläne Pesos gekauft, das hat die Währung stabilisiert. AMLOs Budget sieht weniger Geld für Universitäten vor, dafür mehr für das Militär – am 1. Juli 2019 hat er eine neue 70 000 Soldaten starke Guardia Nacional eingeweiht, die gegen die Drogenkartelle vorgehen soll, aber 15 000 Nationalgardisten werden an der Grenze gegen Migranten eingesetzt.5 Für das Kapital sehr wichtige Großprojekte lässt AMLO zu.6 Die Citigroup sprach von »guten Nachrichten«, und Ratingagenturen haben Mexiko bei seinem Amtsantritt nicht runtergestuft.

Auch die Mindestlohnerhöhung am 1. Januar 2019 in den Exportzonen an der Grenze zur USA war mehr Schein als Sein – denn die Löhne dort waren schon vorher auf entsprechendem Niveau. Wo sie real erhöht wurden, wollten die Unternehmer den wichtigen Jahresbonus abschaffen.

Streik

Die Streikenden mussten an vielen Fronten kämpfen,um sich gegen ihre alten Vertreter, Gewerkschaften und gegen die Regierungspartei MORENA durchzusetzen. 7 Eine zentrale Figur ist die Rechtsanwältin Susana Prieto Terrazas aus Ciudad Juárez, die aus der Wut der Maquiladoras- und Erntearbeiter ein Geschäftsmodell für ihre Kanzlei gemacht hat und von der AFL-CIO unterstützt wird.

Ende 2018 verhandelten CTM-Gewerkschafter über höhere Löhne, im Wissen, dass die Mindestlohnerhöhung im Norden nicht greift und dass noch ein Rahmenvertrag aus den 80ern gilt, der den Arbeitern eine proportionale Ist-Lohn-Erhöhung garantiert. Dann verkündete der neue MORENA-Bürgermeister in Matamoros, dass dies finanziell nicht tragbar sei. Gleichzeitig wollten die Unternehmer die Jahresboni nicht bezahlen – schon am 28. Dezember 2018 streikten Arbeiter in einer Fabrik in Ciudad Juárez gegen die Halbierung ihres Jahrebonus. In den Fabriken wurde es immer unruhiger. Präventiv hat Prieto Terrazas eine Demo »zur Verteidigung der Löhne« für den 19. Januar 2019 angemeldet. Aber die Arbeiter waren schneller und begannen am 12. Januar in acht Fabriken einen unbefristeten, wilden Streik, schnell folgten die übrigen 40 Werke, und sogar in weit entfernten Städten wie Agua Prieta und Cananea traten Belegschaften in den Kampf. Die Arbeiter organisierten Massendemonstrationen in Matamoros und organisierten Komitees, viele außerhalb der Betriebe haben Lebensmittel oder Geld gespendet und sind auf den Demos mitgelaufen.

Nachdem die Arbeiter Ende Januar in mindestens 14 Fabriken die 20 Prozent Ist-Lohnerhöhung sowie 32 000 Pesos Bonus erkämpft hatten und die CTM den Streik formell unterstützte (damit wurde er legal), traten zusätzliche, von kleineren Gewerkschaften organisierte Betriebe in den Ausstand. Dabei forderten die Arbeiter, die Gewerkschaften abzuwählen, den Gewerkschaftsbeitrag abzuschaffen und einen Generalstreik unter der Hauptforderung »20/32«. Außerdem kam es in vielen anderen Fabriken (und auch an der Uni in Mexiko-Stadt und unter Lehrern im ganzen Land) zu kurzen Streiks und Streikandrohungen.

Letzte Ausläufer der Streikwelle waren Ende Februar Kämpfe in einem Stahlwerk in Matamoros, wo sich die Arbeiter schnell durchgesetzt haben, und bei Coca-Cola in verschiedenen Abfüllanlagen und Verteilzentren. Bei Walmart und im Einzelhandel wurden die Löhne um 5,5 Prozent erhöht, um den angedrohten Streik zu verhindern.

Es wird nicht leichter...

Mitte Februar kam es zu ersten Massenentlassungen, gleichzeitig wurde aus dem MORENA heraus mit Unterstützung der AFL-CIO ein neuer gewerkschaftlicher Dachverband in Konkurrenz zur CTM gegründet (ähnlich war es nach dem Massenstreik der Erntearbeiter 2015).

Mittlerweile wird von einzelnen Fabrikschließungen berichtet, weil die Kosten zu hoch wären. Die Regierung hat eine »Jobbörse« für mittelamerikanische Migranten eröffnet, die sie in die Maquiladoras vermitteln soll. Es gäbe 50 000 Stellen…

Ist es das alte Spiel: die Zusammensetzung der Streiks abräumen und neue Arbeiter in die Fabriken schicken?

Die Löhne in Mexiko sind jedenfalls auch nach den Streiks noch immer sehr, sehr niedrig im Vergleich zur USA. Eine schwierig zu beantwortende Frage bleibt, ob die neuen Streiks in Mexiko (und Osteuropa: VW, Audi...) Auswirkungen auf die jeweilige kapitalistische Konstellation aus Hochlohnländern USA/Westeuropa und Nachbarländern mit Niedriglohn Mexiko/Osteuropa haben – wobei es in Mexiko schon sehr speziell ist: Können die Kämpfe das Dilemma aus brutaler Gewalt, US-Lohnpolitik und Hetze Trumps knacken? ■

English version

Fußnoten:

[1] Zum Streik der Erntearbeiter siehe Wildcat 98 und 99

[2] In Ungarn ist der Lohn dreimal, in Rumänien doppelt so hoch wie in Mexiko.

[3] Einstiegs-Stundenlohn BMW San Luis Potosí in Mexiko: 2 Dollar; BMW South Carolina in USA: 17,50 Dollar. Während der Lohn in den USA um das neunfache höher ist, sind die Lebenserhaltungskosten in den USA nur doppelt so hoch.

[4] Seth Harp: Blood and Oil – Mexico’s Drug Cartels and the Gasoline Industry, 2018

[5] Tjerk Brühwiller: Leichen über Leichen, FAZ 16.9.2019

[6] Caitlin Manning: AMLO in office: from megaprojects to militarization, 17.6.2019, Roarmag

[7] Da wir noch keine direkten Kontakte organisieren konnten, müssen wir uns vorerst auf die detaillierte fünfteilige Darstellung der WSWS stützen.
Weitere Quellen sind Labornotes, das Wall street Journal und Vox.com

Glossar:
  • AFL-CIO: American Federation of Labor-Congress of Industrial Organisations
  • AMLO: Andrés Manuel López Obrador, mexikanischer Präsident
  • CTM: Confederación de Trabajadores de México
  • MORENA: Movimiento Regeneración Nacional, von AMLO gegründete neue sozialdemokratische Partei; die Abspaltung der Abspaltung (PRI > PRD > MORENA; AMLO war lange Zeit in der PRI, die von 1929 bis 2000 herrschte, und 1989 Gründungsmitglied der PRD). MORENA sind nicht nur »neue demokratische Kräfte«, etwa aus der studentischen »Yo-Soy-132-Bewegung«, sondern zu einem gewissen Teil auch »alter Wein in neuen Schläuchen«.
  • USAID: United States Agency for International Development
  • USMCA: United States Mexico Canada Agreement
 
 
 [Seitenanfang] [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]