aus: Wildcat 105, Frühjahr 2020
»Nur eine Krise – wirklich oder wahrgenommen – produziert echten Wandel. Wenn die Krise eintritt, dann hängen die Reaktionen darauf von den Ideen ab, die verfügbar sind. Das, glaube ich, ist unsere grundlegende Aufgabe: Alternativen zur bestehenden politischen Praxis zu entwickeln, um sie lebendig und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche das politisch Unausweichliche wird.«
Milton Friedman sagte das 1982. Der Mann, »der für die Gestalt unserer Gegenwart verantwortlich ist wie kaum ein anderer« (Georg Diez in der ZEIT), weil er und seinesgleichen die »Krise« beim Schopf packten, die ganz gezielt mit dem »Volcker-Schock« herbeigeführt worden war.
Auf Druck der Wall Street machte US-Präsident Carter im August 1979 Paul Volcker zum Präsidenten der Notenbank Fed. Verlangt war ein aggressiver Angriff auf die Inflation ohne Rücksicht auf die sozialen Kosten. Bereits am 6. Oktober 1979 lieferte Volcker: er verkündete die Begrenzung der Geldmenge. Die dadurch ausgelöste massive Zinserhöhung führte zur bis dahin tiefsten weltweiten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Michael Mussa, Ronald Reagans Wirtschaftsberater, kommentierte später, um ihre Glaubwürdigkeit zu dokumentieren, habe die Fed »ihre Bereitschaft deutlich machen müssen, Blut zu vergießen, eine Menge Blut, das Blut anderer Leute«.
Der Leitzins stieg auf über 20 Prozent. Das bedeutete für Tausende Firmen das Ende; Fabrikschließungen, Demoralisierung der Arbeiterbewegung, Finanzialisierung der Wirtschaft, Schuldenkrisen in ganz Lateinamerika… Die US-Wirtschaft schrumpfte um 22 Prozent, die Arbeitslosigkeit stieg auf 20 Prozent, in absoluten Zahlen waren zwölf Millionen US-AmerikanerInnen ohne Beschäftigung, plus dreizehn Millionen »Entmutigte« und Unterbeschäftigte. 90 Prozent der Jobverluste entfielen auf Bergbau, Bau und Industrie. Am stärksten betroffen war der Industriegürtel, der seitdem »rust belt«, Rostgürtel heißt. Vom Volcker-Schock geht eine direkte Linie zu Trump, dessen WählerInnen sind hier geographisch und sozial beschrieben.
Wie schwerwiegend der Eingriff war, zeigt eine Grafik der globalen Zinsentwicklung seit 1300; tendenziell sinkt der Zins seit dem Mittelalter. Selbst in einer so langen Reihe von 700 Jahren ist der Volcker-Schock der markanteste Ausschlag.
Bis heute wird Volcker dafür gelobt, dass er »der Inflation das Genick gebrochen« habe. In Wirklichkeit hat er dem Klassenkampf das Genick gebrochen (auf den die Volkswirtschaften mit Inflation reagiert hatten). Seither stagnieren die Reallöhne. Die Unternehmen hörten auf zu investieren und wandten sich Finanzgeschäften zu. Die Arbeitslosigkeit blieb hoch – auch das eine Verkörperung von Milton Friedmans »Idee« einer »inflationsstabilen Arbeitslosenquote«: Es braucht ein Millionenheer un(ter)beschäftigter ArbeiterInnen, damit die Wirtschaft so läuft, wie sie es nun sollte! Die Inflation aber hat Volcker nur von der Real-Wirtschaft in die Finanzwirtschaft transferiert; seither hängt die Ökonomie an der frenetischen Entwicklung der Börsen. Von den dortigen Preissteigerungen profitiert aber nur die Klasse der Rentiers. Aktienwerte in die Höhe treiben, Löhne drücken, Umweltschultzbestimmungen und Sicherheitsnormen vermeiden, Politiker schmieren, die diese Politik durchsetzen – das ist seither das Geschäftsmodell des Kapitalismus. Wenn die Löhne »zu stark steigen«, dämpft die Zentralbank die Konjunktur mit höheren Zinsen. Die entstehende höhere Arbeitslosigkeit entzieht dem Kampf für höhere Löhne den Boden.
Bis zum Ersten Weltkrieg mit dem System des Goldstandards die gleiche Strategie verfolgt worden: die Preisstabilität wahren durch regelmäßig wiederkehrende Wellen massiver Arbeitslosigkeit. Nach dem ersten Anlauf zur globalen Revolution war das politisch nicht mehr tragbar. Der Volcker-Schock hat diese Strategie wieder durchgesetzt. Insofern war 1979 die zweite historische Zäsur des 20. Jahrhunderts.
Vorläufer waren der Putsch in Chile 1973 zu nennen, in dessen Folge Friedman und die Seinen ihre »verfügbaren Ideen« bereits ausprobiert hatten, der Putsch in Argentinien 1976… 1978 kam es dann ganz dick: Das Jahr beginnt schon schlecht: 27. bis 29. Januar 1978 Tunix-Kongress in West-Berlin, der dann zwei Jahre später zur Gründung der Grünen führt. Am 16. Oktober wird Karol Józef Wojtyła Papst. Sein erzreaktionärer katholischer Nationalismus spielte »eine maßgebliche Rolle bei der Beendigung des Sozialismus in seinem Heimatland Polen«, weiß wikipedia.
Ebenfalls noch 1978, im Dezember, wird Deng Ziao Ping vom Dritten Plenum der KP Chinas zum mächtigsten Mann Chinas gemacht; er schafft »den Sozialismus der eisernen Reisschüssel« ab und wird zehn Jahre später den Aufstand rund um den Tian’anmen-Platz mit einem Massaker niederschlagen.
Am 1. Januar nehmen die USA und die Volksrepublik China diplomatische Beziehungen auf. Die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan werden abgebrochen.
Vom 4. bis 7. Januar tagt die Konferenz von Guadeloupe; der französische Präsident Giscard d’Estaing wird beauftragt, mit Ajatollah Chomeini in seinem Pariser Exil die Frage eines Regierungswechsels im Iran zu erörtern. Am 16. Januar verlässt der Schah den Iran, am 1. Februar kehrt Chomeini zurück.
17. Februar: Chinesische Invasion in Nordvietnam, drei Wochen Krieg mit hohen Verlusten.
28. März 1979 Beinahe-GAU im Reaktor 2 des Atomkraftwerks Three Mile Island in Harrisburg (Pennsylvania)
Am 7. April 1979 beginnt in Italien die Verhaftungswelle gegen politische Führer der Autonomia. Anfang der 1980er Jahre sitzen 4000 politische Gefangene aus der Linken in italienischen Knästen, gegen Zigtausende laufen Verfahren.
Am 4. Mai wird Maggie Thatcher britische Premierministerin. Die Idee, mit zynischen Lügen Wahlen zu gewinnen, ist erstmals durchschlagend erfolgreich. Thatcher setzt Volckers Strategie um, durch starke Zentralbanken das Politische aus dem Feld der Ökonomie zu verbannen: TINA; there is no alternative; »alternativlos«, wie Angela Merkel den Ball aufnahm.
Neben TINA brauchte es noch Militärdiktaturen und auch in den USA unmittelbare Gewalt gegen streikende ArbeiterInnen. In seinen Memoiren von 2018 sieht Volcker »die wichtigste Maßnahme [Ronald Reagans] zur Unterstützung des Kampfs gegen die Inflation« darin, 1981 den Streik der Gewerkschaft der Fluglotsen niederzuschlagen: Streikführer wurden verhaftet und 11000 Staatsangestellte entlassen und dauerhaft ersetzt. Auf ähnliche Weise zerschlug Thatcher den Bergarbeiterstreik 1984/84.
Im Juli kommt Saddam Hussein im Irak an die Macht
6. Oktober Die Fed verringert die Geldmenge – »Volcker-Schock«
20. November bis zum 5. Dezember Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch 500 militante Islamisten.
12. Dezember NATO-Doppelbeschluss
21. Dezember Simbabwe wird unabhängig. (Vier Jahrzehnte und 35 Jahre Herrschaft des früheren »Freiheitskämpfers« Mugabe später ist im einst wohlhabendsten Land im südlichen Afrika mehr als die Hälfte der Bevölkerung akut von Hunger betroffen.)
In den letzten Tagen des Jahres 1979 begann die sowjetische Intervention in Afghanistan, gegen die die USA Islamisten bewaffneten.
Januar: Gründungsparteitag der Grünen in der BRD.
12. September: Putsch in der Türkei und Zerschlagung linker Organisationen.
14. Oktober: Historische Niederlage der ArbeiterInnen bei Fiat nach 35 Tagen Streik; es folgen zigtausende Entlassungen
4. November: Reagan wird mit einer Koalition aus Evangelikalen, Wirtschaftsliberalen (siehe Friedman) und Erzkonservativen zum Präsidenten der USA gewählt,
Für sich allein genommen wäre das eine Kette von schlimmen Ereignissen. Aber der Volckerschock bündelt und strukturiert sie. Erst mit der Niederlage bei Fiat zusammen wird das Abräumen der italienischen Autonomia zum historischen Bruch. Der Volcker-Schock hat dazu geführt, dass sich zwischen Anfang 1978 und Ende 1980 die Welt auf allen Kontinenten radikal geändert hat.