aus: Wildcat 105, Frühjahr 2020
Mit Update von 22.5.2020
Man muss nicht viel über Bangladesch wissen, um zu verstehen, dass die Corona-Krise hier zu extremen Bedingungen führen wird: Das Virus war über zurückkehrende Arbeitsmigranten ins Land gekommen, mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Italien. Das Gesundheitssystem ist darauf kaum vorbereitet: Für die 170 Millionen Bangladeschis gibt es gerade mal 1170 Intensivbetten. Ende April gibt es, soweit man es einschätzen kann, noch relativ wenig Erkrankte und Tote, die Tendenz ist allerdings steigend.
Schon jetzt leiden Millionen Menschen unter den wirtschaftlichen Auswirkungen: der Export von Kleidung ist eingebrochen, generell sind die meisten Betriebe und Geschäfte geschlossen. Tausende ArbeiterInnen in Europa verdienen kein Geld, das sie zurückschicken könnten, und in Bangladesch sitzen viele mit bestätigten Visa fest und können nicht ausreisen um ihre Arbeit anzutreten.1
Für viele bedeutet der Lockdown den Wegfall ihrer Einkommen: Nach der Studie einer NGO sanken die Einkommen von an der Armutsgrenze lebenden Haushalten im Vergleich zum Februar um etwa 71 Prozent. Im Durchschnitt geben diese Haushalte jetzt 25 Prozent weniger für Lebensmittel aus. Stark ansteigende Lebensmittelpreise reduzieren die Einkaufsmöglichkeiten noch weiter. Plastisch ausgedrückt konnte sich ein normaler Rickschafahrer im Februar von seinem Tageseinkommen noch die Zutaten für sechs bis sieben Portionen eines (sehr) einfachen Reis-Gerichts für vier Personen leisten.2 Mitte April waren es nicht mal mehr zwei ganze Portionen. Dazu kommt, dass bis zum 13.4. nur vier Prozent der Bevölkerung überhaupt Hilfen erhalten haben.
In Dakha haben im April mehrfach Hunderte für die Verteilung von Lebensmitteln in ihren Vierteln protestiert. Die von der Regierung aufgelegten Hilfsmaßnahmen, immerhin in Höhe von 8,9 Milliarden Dollar, kommen kaum bei den Armen und in den Slums an: die von Armee und NGOs verteilten Hilfspakete sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die meisten Hilfen von der Regierung oder von NGOs laufen über Geldüberweisungen, für die man man ein Handy mit Guthaben braucht (was viele in der Krise nicht mehr bezahlen können) und ein mobiles Konto, was kaum jemand hat.
Immer wieder gibt es auch Proteste für die Anerkennung als »Frontarbeiter«, denen die Regierung eine Krankenversicherung finanziert. Zuletzt haben sich Zollbeamten dafür eingesetzt, in diese Liste aufgenommen zu werden.
Die größten und wichtigsten Proteste bisher gingen von den NäherInnen in der Bekleidungsindustrie aus. Wie fast alle ArbeiterInnen sehen sie sich einer doppelten Bedrohung ausgesetzt, dem Virus und der Krise, die ihre Jobs bedroht.
Schon Anfang März machten die ersten Fabriken zu, weil wegen der angeordneten Schließung der Läden und Kaufhäuser in den Zielländern Bestellungen storniert wurden und viele große Bekleidungsunternehmen wie Walmart, H&M und Primark sich weigerten, schon produzierte Waren anzunehmen oder zu bezahlen. Es geht dabei um Aufträge im Wert von 3,17 Milliarden Dollar oder eine Milliarde Kleidungsstücke in 1150 Fabriken mit 2,3 Millionen ArbeiterInnen (Stand: 24.4.20). Als Ende März ein Aufschrei durch westliche Medien ging, sahen sich einige große Händler gezwungen, zumindest die Bezahlung der schon produzierten und in der Produktion befindlichen Waren zuzusagen. Aber die Verluste sind trotzdem massiv, dazu haben viele Unternehmer diese Gelder nicht an die Arbeiter weitergegeben.3
Am 26.3. wurden dann die meisten Fabriken auf Anordnung der Regierung bis zum 4. April geschlossen, viele ArbeiterInnen gingen für diese Zeit aufs Land, um Geld zu sparen. Die Regierung verlängerte den Lockdown zwar, aber Exportfabriken mit offenen Aufträgen durften die Produktion wieder aufnehmen. Das führte zu einer chaotischen Massenrückkehr der ArbeiterInnen in die Fabrikviertel. Weil große Teile des Nahverkehrs eingestellt waren, kamen sie zu Fuß, auf Fahrrädern und Rikschas, mit horrenden Kosten für die einzelne ArbeiterIn. Sie kamen auf Druck der Arbeitgeber zurück, auch die Angst um den Job spielte eine Rolle. Im Vordergrund standen aber die ausstehenden Löhne für die vergangenen Monate, in einigen Fabriken war noch nicht mal der Februarlohn vollständig gezahlt worden. Angesichts der vielfachen Reisetätigkeit wurden alle Fabriken mit Strafandrohung wieder geschlossen.4
Die ArbeiterInnen waren nun wieder in den Städten – und natürlich wurden nach der erzwungenen Fabrikschließung die ausstehenden Löhne nicht ausgezahlt. Mindestens 36 große Exportfabriken haben den Lockdown arbeitsrechtlich als Katastrophenfall durchgeführt: die Arbeiter haben dann nur auf 50 Prozent von Lohn und Zuschlägen Anspruch (und selbst das nur für 45 Tage pro Jahr!). Bei Wiederaufnahme der Arbeit gilt der alte Arbeitsvertrag weiter und die ArbeiterIn behält ihre höhere Lohnstufe.
Der Druck zu kämpfen war groß: Nach einer Befragung von 88 NäherInnen aller Lohngruppen Anfang April waren 15 Prozent pleite und konnten nur noch anschreiben lassen, auch der Rest hatte nur noch Bargeld für 16 Tage. Ein Drittel hat den Kauf von Lebensmitteln reduziert, 70 Prozent haben aufgehört Geld nachhause zu schicken, ihre Miete zu zahlen oder Zinsen zu bedienen. 43 Prozent der Befragten haben kein Geld mehr ein Handyguthaben zu kaufen.
Ohne sich von den Quarantäne-Regeln beschränken zu lassen (die ArbeiterInnen in beengten Wohnverhältnissen mit viel zu wenig sanitären Einrichtungen ohnehin nicht einhalten können), organisierten sie Proteste vor den Fabriken, die spätestens ab dem 12.4. regelmäßig bis zu 20 000 Menschen auf die Straßen brachten.
Meist sind es mehrere Hundert bis wenige Tausend, die vor den Fabriken die Lohnauszahlung und die Rücknahme der Katastrophenregeln fordern. Den Protesten merkte man die Kampferfahrungen aus den letzten Jahren deutlich an. Fast nie bleiben ArbeiterInnen aus einer Fabrik allein, es kommen immer welche aus anderen Fabriken dazu. Gerade die ArbeiterInnen aus kleineren Fabriken werden dadurch sichtbarer.
Trotzdem haben die jetzigen Proteste einen anderen Charakter als in den letzten Jahren; offensichtlich sind es keine Streiks, aber auch die Zusammensetzung ist anders, weil weniger AnwohnerInnen aus dem Viertel dabei sind. Häufig setzen die Proteste die Blockade von Hauptstraßen und Autobahnen als strategisches Mittel ein. Und sie sind stärker von direkten Verhandlungen mit den Unternehmern begleitet, die meist indirekt durch die Polizei oder Politiker vor Ort geführt werden. Die Proteste laufen sehr geordnet ab, auch wenn manchmal ein Fenster oder eine Tür zerstört wird, sind sie eigentlich friedlich. Umgekehrt setzt auch die Polizei stärker auf Deeskalation als sonst, nachdem bei einem Protest am 6.4. zwei Arbeiter bei einem Tränengaseinsatz in Panik vor einen LKW gelaufen und gestorben sind. Oft haben die ArbeiterInnen vieler Fabriken gemeinsam protestiert, in Gazipur kamen sie aus mindestens 25, in Ashulia aus über 12 Fabriken.
Die Proteste waren teilweise erfolgreich: 1200 Fabriken zahlten bis zum 15.4. die offenen Löhne, am selben Tag reagierte die Regierung mit Zuckerbrot und Peitsche; sie verpflichtete die Unternehmer zur Lohnzahlung bei Strafandrohung und stellte sofort Kredite im Wert von 590 Millionen Dollar zur Verfügung. Etwa um den 20.4. hatten über 96 Prozent der 2,5 Millionen ArbeiterInnen der zertifizierten Exportfabriken ihren Lohn erhalten. Aber niemand weiß, wie groß der Anteil der restlichen fast zwei Millionen ArbeiterInnen ist, die ihren Lohn noch nicht erhalten haben. Bis Anfang Mai hatten die ArbeiterInnen von mindestens 517 Fabriken ihren Märzlohn noch nicht erhalten.
Viele Entlassungen wurden bisher nicht zurückgenommen, in diesem Fall bekommen die ArbeiterInnen – wenn überhaupt – nur die Hälfte ihrer Löhne gezahlt. Deswegen war auch die zweite Aprilhälfte von Protesten für die volle Lohnzahlung und Wiedereinstellung bzw. die Rücknahme der Betriebsschließung geprägt. Sie waren allerdings wesentlich kleiner (zum Höhepunkt wenige Tausend pro Protest), auch weil viele ArbeiterInnen wieder aufs Land gegangen sind, nachdem sie ihren Lohn bekommen hatten.
Ende April wurde der Lockdown gelockert, die Bekleidungsfabriken begannen wieder anzulaufen, bis zum 30.4. waren es mindestens 2000 Fabriken. Den Unternehmern geht es dabei vor allem um die Komplettierung schon in Produktion befindlicher Aufträge, die sie nicht wegen Vertragsbruchs verlieren wollen. Obwohl sie zugesagt hatten, nur mit ArbeiterInnen von vor Ort zu produzieren, kam es wie schon Anfang April zur beschwerlichen massenhaften Rückreise, getrieben von der Sorge, den wegen des Zuschlags für das Fest des Fastenbrechens besonders hohen Aprillohn zu versäumen. Die starken Proteste in den letzten Apriltagen forderten die volle Auszahlung der Löhne trotz der vielen Tage Stillstand. Zur Zeit scheinen sich die ArbeiterInnen in diesem Punkt weniger durchsetzen zu können. Die Regierung entschied, dass Entlassungen zurückgenommen und die Löhne zu 60 Prozent gezahlt werden sollen, wenn nicht gearbeitet wurde. Das wäre ein Rückschlag für die ArbeiterInnen. Die Unternehmerverbände warnten ihre Mitglieder direkt, dass sie sich nicht durch die Arbeiter drängen lassen sollen, doch den vollen Aprillohn zu zahlen.
Auch andere Industrien fuhren die Produktion wieder hoch: am 26.4. öffneten z. B. acht von neun Jute-Fabriken in der Region Khulna. Insgesamt arbeiten in diesen Fabriken 30 000 ArbeiterInnen. Auch Landwirtschaft und Personenverkehr sollen langsam wieder aufgenommen werden.
VertreterInnen von NGOs und Gewerkschaften (die wegen ihrer geringen Mitgliederzahl und ihrer Abhängigkeit von ausländischer Finanzierungen oft faktisch auch NGOs sind) versuchen die Situation politisch zu nutzen, um die Regierung zu bewegen, einen Sozialstaat zu errichten. Dabei bedienen sie ihre eigenen Interessen: Höhere Verbreitung von Bankkonten, mehr Mikrokredite, mehr Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik, …
In einem Land wie Bangladesch, wo ein Viertel der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze lebt und wo es mehr als zehn Millionen Tagelöhner und sehr viele informelle ArbeiterInnen gibt, kann eine derartig lebensbedrohende Krise kaum ignoriert werden. Trotzdem ist es fraglich, ob es sozialstaatliche Maßnahmen geben wird: ohne starke Kämpfe der ArbeiterInnen bestimmt nicht.
Die Wirtschaft war schon vor der Pandemie in einer deutlich spürbaren Krise: Die Exporte waren gesunken, ebenso die Gewinne der Landwirtschaft. Die Preise für Staatgut waren gestiegen, die Großhandelspreise aber kaum, und die Produktivitätssteigerungen der »grünen Revolution« der letzten Jahrzehnte sind schon länger vorbei. Auch die Überweisungen der ArbeitsmigrantInnen im Ausland sind schon länger rückläufig.5
Besonders stark zeichnet sich die Krise in der Bekleidungsindustrie ab: Schon jetzt wird der Umsatzverlust 2020 auf sechs Milliarden Dollar geschätzt, und das nach dem schweren Krisenjahr 2019. Seit Jahren gab es hier einen ungebrochenen weltweiten Trend. Die ArbeiterInnen erkämpfen sich höhere Löhne, und trotzdem zahlen Marken- und Handelskonzerne weniger für fertige Textilien.6
Nach der Häufung von Katastrophen wie dem Einsturz des »Rana Plaza« musste jeder Handelskonzern wegen des großen öffentlichen Drucks im Westen (besonders in Europa) irgendeiner Initiative zur Verbesserung der Bedingungen in den Fabriken beitreten. Die meisten dieser Verbände sind nicht rechtsverbindlich, die großen europäischen wie der »Bangladesch-Akkord« allerdings schon. Dadurch ist eine neue Industrie entstanden. Fast kein Monat vergeht, in dem nicht ein mehr oder weniger unseriöser »Auditor« die Fabrik besucht, um sie zu überprüfen. Allerdings haben sich die Bedingungen in den asiatischen Fabriken in den letzten Jahren tatsächlich stetig verbessert.
Die doppelte Belastung, Lohnerhöhungen und Verbesserung der (baulichen) Arbeitsbedingungen, konnten die Fabrikbetreiber für einige Zeit durch die Ausweitung der Produktion ausgleichen – hier scheint allerdings eine Grenze erreicht zu sein. Das trifft die Fabrikbetreiber in Bangladesch besonders hart: Im Unterschied zu anderen Ländern ist die Infrastruktur schlechter, die politische Lage chaotischer und die Industrie besonders stark darauf fokussiert, Kleidungstücke nach vorgegebenen Schnittmustern billig zu produzieren. Die Möglichkeiten, die Einnahmen zu erhöhen, indem man auch die Schnittmuster entwickelt, mehr Qualitätssicherung übernimmt, Direktvermarktung betreibt, oder sich mit anderen Fabrikanten zusammenschließt, gibt es kaum. Zusätzlich ist die Konkurrenz in Vietnam, Kambodscha und Myanmar sehr viel stärker in die chinesischen Kapital- und Auftragsstrukturen eingebunden. Weil die EU, Hauptabnehmer von Kleidung aus Bangladesch, 2019 den Freihandel mit Vietnam zuließ, sanken die Kleidungsexporte erstmals, im zweiten Halbjahr kam es zu einer Welle von Fabrikschließungen. Diese Entwicklung wird nun durch Corona beschleunigt.
An anderen Textilstandorten ist die Situation ähnlich: Auch in Myanmar, Kambodscha und Sri Lanka haben hunderte Fabriken wegen stornierter Aufträge geschlossen, auch hier entwickeln sich Proteste. Insgesamt sind die Folgen zur Zeit schwer zu beurteilen. Schätzungen zufolge sollen die Umsätze der globalen Mode-Marken diese Jahr um 30 Prozent zurückgehen.
Klar ist jedenfalls, dass die Erfolge der NäherInnen in den Weltmarktfabriken in Asien durch die Krise gefährdet sind. In den letzten Jahrzehnten haben sie einen besseren Lebensstandard erkämpft und dabei eine Angleichung der internationalen Produktionsbedingungen herbeigeführt, auch wenn ihre Löhne noch ein gutes Stück von europäischen Löhnen entfernt sind. Diese Erfolge werden sie ohne starke (internationale) Kämpfe nicht halten können.
Seit der Fertigstellung des Artikels ist der Corona-Ausbruch in Bangladesch deutlich stärker geworden. Offiziell sind es mittlerweile insgesamt 432 Tote und 30205 Infizierte. Das Virus ist selbst im Rohingya-Flüchtlingslager ausgebrochen. Auch FabrikarbeiterInnen haben sich angesteckt und es gibt Berichte, dass sich positiv Getestete durch schnelle Rückkehr aufs Land der Quarantäne in der Stadt entziehen wollen. Hinzu kommt jetzt noch das Unwetter: Teile von Bangladesch sind durch den »Super-Zyklon« Amphan verwüstet.
In dieser Situation verschlechtern sich die Lebensbedingungen weiter: Immer mehr StadtbewohnerInnen rutschen in die Armut ab. Einer NGO zufolge haben fast alle befragten Wanderarbeiterinnen seit Beginn des Lockdowns kein Einkommen mehr. 90 Prozent dieser Frauen arbeiteten im informellen Sektor, 70 Prozent von ihnen waren die Hauptverdienerin in ihrem Haushalt. Und selbst unter den relativ gut gestellten NäherInnen sank das Haushaltseinkommen im Schnitt auf die Hälfte.
Kein Wunder also, dass die Kämpfe der NäherInnen weitergehen. Im Zentrum steht die vollständige Auszahlung des traditionell besonders hohen Aprillohns, aber auch der Märzlohn und die Fabrikschließungen sind weiterhin Thema. Noch immer haben die ArbeiterInnen von ca. 120 Fabriken ihren Märzlohn nicht ausgezahlt bekommen, mindestens 420 Fabriken haben wegen Auftragsmangel die Produktion nicht wieder aufgenommen (davon sind etwa 100 dauerhaft zu). Von diesen Schließungen sind also etwa 500000 der über vier Millionen BekleidungsarbeiterInnen betroffen.
Die Proteste auf den Straßen sind wieder größer geworden, und die Polizei versucht vermehrt, sie gewaltsam zu beenden, u.a. mit Tränengas. ArbeiterInnen mehrerer Fabriken kommen zusammen, , ab und zu sogar die eines ganzen Industriegebiets, teilweise waren Tausende auf den Straßen. Diesen Protesten schließen sich jetzt auch wieder andere Bewohnerinnen der Viertel an. Da in vielen Fabriken wieder gearbeitet wird, gibt es auch in den Betrieben wieder Kämpfe: kurze Streiks, kurze Betriebsbesetzungen durch Sitzblockaden, Demonstrationszüge durch die Fabriken... Die Unternehmerverbände warnen vor einer Zunahme der Sabotage.
Ob die Kämpfe erfolgreich sein werden, ist zur Zeit noch nicht absehbar. Bisher sind die Ergebnisse schwer einzuschätzen. Mindestens tausend Unternehmer haben in einer Befragung angegeben, dass sie nicht in der Lage seien, vor dem Fest des Fastenbrechens (23. Mai) irgendeine Zahlung zu leisten. In der letzten Woche haben sich deshalb die Kämpfe nochmal intensiviert, zehntausende ArbeiterInnen kämpften jeden Tag. Das führte zu einer unübersichtliche Gemengelage aus Versprechungen, Vorschüssen, Zahlungen von Lohnteilen und vollen Löhnen. In etwa 3000 Fabriken wurde mindestens die Hälfte des April-Lohns und Zulagen gezahlt. Viele ArbeiterInnen haben dennoch bislang keinen Lohn erhalten.
Es gibt mindestens 35 Millionen NäherInnen weltweit, wahrscheinlich deutlich mehr. Viele von ihnen arbeiten in kleinen Klitschen, in der informellen Ökonomie oder der Heimindustrie. Hier werden die Bedingungen nicht direkt durch die erkämpften Mindestlöhne gesteuert, sondern indirekt durch die Veränderung des gesellschaftlichen Lohnniveaus.
Im Folgenden geht es aber um die Löhne der ArbeiterInnen in Fabriken, die vor allem für den Weltmarkt produzieren. Die offiziellen Mindestlöhne sind hier die Untergrenzen, real verdienen die meisten ArbeiterInnen deutlich mehr, erst recht mit Überstunden. Ausnahme ist die Türkei, wor in den letzten Jahren zwischen 250000 und 400000 syrischen Flüchtlinge oft ohne Arbeitserlaubnis in der Bekleidungsindustrie arbeiten. Befragungen von ArbeiterInnen zufolge verdient auch ein solcher Arbeiter zwar im Durchschnitt den Mindestlohn, aber die meisten Frauen (die unter den syrischen Bekleidungsarbeitern wohl in der Minderheit sind) verdienen weniger als den Mindestlohn. Türkische ArbeiterInnen verdienen aber mehr als den Mindestlohn.7
China ArbeiterInnen: Sechs Millionen Lohnuntergrenze: 2013: 1 450 RMB; 2019: 2 200 RMB (286 Euro) Export: 158 Mrd. Euro
Indien
ArbeiterInnen: Sechs Millionen
Lohnuntergrenze: 2013: 4 334 INR; 2019: 8 609 INR (105 Euro)
Export: 17 Mrd. Euro
Bangladesch:
ArbeiterInnen: Vier Millionen
Lohnuntergrenze: 2013: 5 300 Taka; 2019 8 000 Taka (87 Euro)
Export: 28 Mrd. Euro
Türkei
ArbeiterInnen: Zwei Millionen
Lohnuntergrenze: 2013: 505-1 280 TLR; 2019: 2 030 TLR (261 Euro)
Export: 14 Mrd. Euro
Vietnam:
ArbeiterInnen: 1,5 Millionen
Lohnuntergrenze: 2013 72 Euro, 2019: 163 Euro
Export: 25 Mrd. Euro
Kambodscha
ArbeiterInnen: 750 000
Lohnuntergrenze: 2013: 70 Euro, 2019: 168 Euro
Export: 6,5 Mrd. Euro
Italien
ArbeiterInnen: 400 000
Lohnuntergrenze: 400 Euro (schwarz, MigrantIn) - 1 300 Euro (Tarif)
Export: 16,5 Mrd. Euro
Myanmar
ArbeiterInnen: 250 000
Lohnuntergrenze: 2013: 70 Euro, 2019: 93 Euro
Export: 2,3 Mrd. Euro
Bulgarien
ArbeiterInnen: 30 000
Lohnuntergrenze: 2013: 129 Euro; 2019: 261 Euro
Export: 1,7 Mrd. Euro
Deutschland
ArbeiterInnen: 31 000
Lohnuntergrenze: 2019: 1 800 Euro brutto
Export: 7,4 Mrd. Euro
[1] In einer schweren Notlage befinden sich auch die über eine Millionen Rohingya, die aus Myanmar nach Bangladesch geflohen waren. Die Regierung hat sich dazu entschieden, ihr Flüchtlingslager komplett abzuriegeln, um es vor dem Virus zu schützen. Ein Ausbruch wäre dort völlig unkontrollierbar. Es gibt nur noch eine Notversorgung mit Lebensmitteln und die notwendigsten medizinischen Maßnahmen. Diese Versorgung wird von 20 Prozent der normalen HelferInnen durchgeführt, die streng auf das Virus kontrolliert werden. Die Lebensqualität im Lager hat sich durch diese Maßnahmen drastisch verschlechtert.
[2] Viele der in diesem Artikel zitierten Zahlen stammen aus Studien, die NGOs oder Beratungsfirmen im Auftrag von NGOs produziert haben. Viele stehen in irgendeiner Verbindung zu BRAC, der »größten NGO der Welt«. BRAC besitzt eins der größten Bankhäuser in Bangladesch, das wiederum mit bKash den wichtigsten Anbieter für mobile Bankkonten besitzt. Andere wichtige Investoren bei bKash sind die Gates Foundation und Ali Pay. Diese NGOs nutzen ihren Einfluss in der Coronakrise, um ihr Geschäftsmodell auszubauen, wenn sie in den Situationsberichten immer wieder das Fehlen mobiler Bankkonten beklagen und vorschlagen, Hilfsmaßnahmen hauptsächlich über diese Konten durchzuführen.
[3] Die Bekleidungsunternehmen sind sehr stark von der Krise getroffen, egal ob Primark, Adidas, H&M, etc. Sie haben Aufträge abgesagt und ähnliche Schritte versucht: Ladenmiete nicht bezahlen, Kurzarbeit, Ankündigung betriebsbedingter Kündigungen. Gerade die Verweigerung der Ladenmieten kam nicht gut an, Adidas und andere mussten nach harscher öffentlicher Kritik zurückrudern.Während H&M die Zahlung der schon produzierten Textilien ziemlich schnell zusagte, hat Primark lange geglaubt, mit seiner üblichen Methode durchzukommen: einen Hilfsfonds aufsetzen, ohne etwas Konkretes zuzusagen. Doch nachdem selbst der Mutterkonzern von Primark heftig in die Kritik gekommen war, wurde am 20.4. die Zahlung zugesagt. Da Primark nicht online verkauft, ist das Unternehmen härter getroffen als die anderen Marken, der Umsatzausfall liegt pro Monat bei 746 Millionen Euro.
[4] Es ist momentan nicht möglich, die wirkliche Zahl der entlassenen ArbeiterInnen abzuschätzen. Anfangs waren in den Medien Zahlen bis zu einer Million zu lesen. Dabei wurden allerdings entlassene und nicht bezahlte ArbeiterInnen gleichgesetzt. Klar ist, dass in mindestens 938 Fabriken ArbeiterInnen entlassen wurden, wenn man Firmenpleiten und Schließungen im Katastrophenfall zusammenrechnet.
[5] Über 12 Millionen Bangladeschis arbeiten im Ausland, 80 Prozent im Nahen Osten. Es wird geschätzt, dass die Rücksendungen 2020 auf 14 Milliarden Dollar fallen werden, von 18 Milliarden 2019. Sie sind nach der Textilindustrie der zweitwichtigste Außenhandelsfaktor.
[6] In der Wildcat 97 haben wir die Kämpfe bis Mitte 2014 ausführlich dargestellt und die direkten Auswirkungen von »Rana Plaza« beschrieben. In den letzten Jahren rückte die zunehmende Repression immer stärker in den Blick. Nachdem 2016 eine große Streikwelle ohne sichtbare Erfolge durch Repression beendet werden konnte, gab es in den zwei Jahren danach relativ wenige Streiks (Wildcat 102). Anfang 2019 setzte eine große, aber im Vergleich mit 2013 schwache Kampfwelle eine relativ geringe Mindestlohnerhöhung durch (Wildcat 103).
[7] Einer wichtigen Quelle sind die Materialien der Clean Clothes Campaign. Früher stellte sie oft Skandalisierung über Genauigkeit und gab teilweise die Mindestlöhne zu niedrig an, heute sind ihre Materialien qualitativ sehr gut und oft mit Daten aus Arbeiterbefragungen unterfüttert.