aus: Wildcat 107, Frühjahr 2021
Aufgrund der Länge des Textes folgen wir der schlechten angelsächsischen Tradition und stellen ein abstract voraus:
Die Streikwelle von 2010 und die Kämpfe gegen Fabrikschließungen liegen lange zurück. Für die letzten Jahre verzeichnet das China Labour Bulletin einen deutlichen Rückgang von Arbeiterkämpfen, mit einem Tiefpunkt 2020. Zwar gab es Proteste von Bauarbeitern, Paketboten, Essensausfahrern und auch wieder einige gegen Fabrikschließungen, aber im Verhältnis zu den stark gesunkenen Einkommen, Entlassungen, verbreiteten Lohnrückständen und der Härte und Irrationalität der Lockdowns blieben die Proteste sehr bescheiden. Die KPCh konnte politisch Corona geschickt nutzen, die massive Kritik am ersten Lockdown ist inzwischen verstummt. Weit verbreitet ist eine grundsätzliche Unterstützung und Verteidigung von Regierung und Autoritätspersonen gegen Kritik. Selbst viele links und kritisch Auftretende gehen letztlich davon aus, dass der Staat oder die staatlichen Vertreter es doch eigentlich gut meinen. Es wäre aber vollkommen falsch, autoritäre Strukturen mit »Gehirnwäsche« oder ostasiatischen Besonderheiten wie Konfuzianismus zu erklären.
Warum hat die chinesische Regierung das Chaos unter Trump nicht für Bündnispolitik und die Steigerung des eigenen internationalen Ansehens genutzt? Warum hat sie mit der Einverleibung Hongkongs, dem Ausbau der Zwangsarbeits- und Umerziehungslager in Xinjiang, Grenzschließung, Nationalismus, Grenzscharmützel mit Indien, Handelskrieg mit Australien, Kidnapping und Rambodiplomatie... eher das Gegenteil bewirkt? In der Wildcat 104 hatten wir die Bereitschaft zur Eskalation mit einer Blockade im Inneren erklärt, wo wachsender Wohlstand und fortdauernde Herrschaft der KPCh nicht mehr parallel liefen. Die Streiks der 2000er Jahre hatten gezeigt, dass zunehmende Industrialisierung auch zu wachsender Arbeitermacht führen kann. Die meist »Fordismus« genannte Phase der Entwicklung kapitalistischer Industrieländer schaffte es, den Klassenkampf durch wachsenden Privatkonsum und gewerkschaftliche Rechte zum Motor der Entwicklung zu machen – bis der Arbeiterkampf 1969 ff. die kapitalistische Akkumulation in die Krise stürzte. Die KPCh hat sowohl diesen Zusammenhang als auch den Untergang der Sowjetunion studiert und ist entschlossen, diesem Schicksal zu entgehen. Deshalb schaltete das System – wie in China üblich in der Form des Fraktionenkampfs – mit dem Machtantritt des »überragenden Führers« Xi Jinping auf autoritäre Herrschaftssicherung um. Die staatliche Wirtschaftspolitik versucht seither, die Wirtschaft anzuschieben, ohne dass das frei verfügbare Einkommen der Arbeiterklasse wächst. Das spitzt die soziale Ungleichheit zu und verfestigt die »große soziale Spaltung«. China gerät in die »Mittlere Einkommensfalle«, gerade weil Klassenkämpfe als verändernde Kraft erfolgreich unterdrückt werden. China wird die Weltwirtschaft nicht aus der Krise ziehen – eher im Gegenteil.
Aktuell scheint die KPCh fest im Sattel, aber die Zeit läuft gegen sie. Gerade deswegen heizt sie Nationalismus und außenpolitisches Abenteurertum an.
Wie ist dann internationale Solidarität möglich? Wie kann sie die aktuelle Phase überdauern, ohne sich auf die Seite eines der großen geopolitischen Kontrahenten zu stellen, und stattdessen an der Perspektive unten gegen oben festhalten? Um Antworten zu finden, muss die internationale Linke ihre Brille mit den antiimperialistischen und kulturalistischen Gläsern abnehmen und den Blick auf die chinesische Klassengesellschaft schärfen...
内卷 -- Neijuan setzt sich zusammen aus den Zeichen für »Innen« und »Rolle« oder »rollen« und wird als »nach Innenkehrung« verstanden. Man kann es als »Einkehrung« oder »Involution« übersetzen. Es meint Stagnation oder Stillstand durch Reibungsverlust oder einen Prozess, der Teilnehmer bindet, ohne dass sie davon profitieren. Involution bedeutet auch das Gegenteil von Evolution.
Neijuan ist gerade Mode, so wie Zang-Kultur vor ein paar Jahren, oder zur Zeit (Hunshui)Moyu (»im Trüben fischen«). Ursprünglich benutzt, um einen sich selbst verstärkenden Prozess in Agrargesellschaften zu beschreiben, der diese am Fortschritt hindert, ist »Neijuan« heute zum Kürzel geworden, mit dem chinesische Stadtbewohner die Übel ihres modernen Lebens bezeichnen, das Gefühl vom rasenden auf der Stelle Treten in einer hyperkonkurrenten Gesellschaft. Hoher Konkurrenzdruck bei niedrigen Erfolgsaussichten, sei es bei der Abiturprüfung, auf dem Heiratsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt oder beim Überstundenschieben. Alle haben Angst, den letzten Bus zu verpassen – und wissen doch, dass er bereits abgefahren ist.
Johannes Agnoli bezeichnete mit Involution die »Rückbildung demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder antidemokratische Formen«.
Wer richtig viel zu Neijuan lesen will – bitte:
Wang Qianni, Ge Shifan: How One Obscure Word Captures Urban China’s Unhappiness. (4.11.2020)
Die Coronakrise hat auch für mich in Südchina Widersprüche sichtbar gemacht, Fragen aufgeworfen und Konflikte aufbrechen lassen. Seit dem Wuhan-Lockdown im Januar 2020 musste ich wiederholt meine politische Perspektive auf meine Umwelt überdenken. Das schließt viele Emotionen ein, die ich schwer aus einer sachlichen Betrachtung heraushalten kann. Daher will ich mit meinen Beobachtungen beginnen. Sie erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Am Anfang verglichen meine hiesigen Freunde Covid-19 mit der SARS Epidemie 2003, die in China und Hongkong eine Fallsterblichkeitsrate von fast zehn Prozent hatte. Die anfängliche Vertuschung, die allgemeine Ungewissheit und fehlende Informationen taten ihr Übriges. Wie die meisten hier war ich sehr verängstigt und traute mich kaum aus dem Haus. In den ersten Wochen wurde online viel und lebhaft Dissens und Kritik an KPCh und Regierung ausgetauscht. Das stimmte mich bei allem optimistisch, dass die Lügen und krassen Lockdown-Maßnahmen nicht stumm hingenommen werden. Aber je mehr die Epidemie zur weltweiten Pandemie wurde, umso weniger und leiser wurde die Kritik. Das beruhte nicht nur auf Zensur und dem relativen Erfolg bei der Seuchenbekämpfung im Land, sondern auch auf der großen Verbreitung von Verschwörungsideologien, wonach wahlweise die US-Armee, Italien, Indien oder Tiefkühlfleisch der Ursprung des Corona-Virus seien.
Ich bin nicht wegen eines lukrativen Expat-Jobs mit üppiger Auslandszulage nach China gegangen, auch nicht im Rahmen akademischer Studien oder einer Unikarriere. Ich bin auf eigene Faust hier, hatte Geld gespart, um zunächst nicht arbeiten zu müssen und Zeit zum Chinesischlernen zu haben, wollte Leben, Gesellschaft und Arbeitsrealität in China kennen lernen. Der Aufstieg Chinas zur Werkbank der Welt stellt eine der einflussreichsten Veränderungen der letzten Jahrzehnte dar, das wollte ich mir aus der Nähe angucken und Kontakte knüpfen.
Zu Beginn war nicht nur viel Zeit aufs Lernen von Schriftzeichen anzuwenden, sondern auch auf das Erkennen und Ablegen unbewusster Vorurteile. Mein Leitgedanke dabei war, dass unterschiedliche Sitten und Kultur im Vergleich zu denen, die ich als Kind erlernt hatte, nicht aus irgendeiner Andersartigkeit entspringen sondern Folge der geografischen Distanz und des daraus resultierenden relativ geringen gesellschaftlichen Austauschs sind.
Anders als die im Westen verbreitete Vorstellung von den passiven, duldsamen chinesischen Arbeitern, die vor allem Opfer seien, standen für mich die im Vergleich zu Europa hohe Rate an Konflikten und wilden Streiks, Unangepasstheit und der Alltagsanarchismus im Vordergrund. Das Bild vom »iSlave« in der Foxconn-Fabrik fand ich zwar damals schon etwas zu nah am Opferstatus, habe aber auch bei symbolischen Protesten vor Büros internationaler Konzerne, die von mieser und gefährlicher Ausbeutung in China profitieren, mitgemacht. Internationale Solidarität mit chinesischen Arbeitern und ihren Kämpfen schien mir selbstverständlich – auch ohne dass ich mit ihnen darüber gesprochen hatte. Bereits damals war es für einen Ausländer fast unmöglich, während eines Streiks mit chinesischen Arbeitern zu reden. Inzwischen haben Repression, Epidemie und Ausländerfeindlichkeit meine Kontaktmöglichkeiten mit Arbeitern noch weiter reduziert. Vor ein, zwei Jahren konnte ich noch regelmäßig Labour NGOs besuchen, einmal pro Woche in einem Arbeiterviertel Englisch unterrichten und viel leichter auf der Straße mit LKW-Fahrern oder Lagerarbeitern ins Gespräch kommen.
Damals habe ich mich gefragt, wie internationale Solidarität aussehen kann, hielt es aber für selbstverständlich, dass sie richtig, wichtig und erwünscht sei. In den vergangenen Jahren musste ich einsehen, dass das viel schwieriger ist – man stößt meistens zuerst auf die Falschen; und die Hoffnungen und Wünsche, die man auf die anderen projiziert, sind oft der Eintritt in einen Irrgarten. Seit den Begegnungen mit Nationalismus, Ausländerfeindlichkeit und dem Ausbleiben von Kritik und Widerstand kommen mir grundsätzliche Zweifel, in welcher Form und mit wem Versuche von internationaler Solidarität überhaupt möglich und produktiv sind.
Seit einigen Jahren arbeite ich in einem internationalen IT-Unternehmen. Gut ist an dem Job, dass es anders als in fast allen chinesischen IT-Firmen nur selten Überstunden gibt. Meine Kolleginnen und Kollegen sind (bis auf einen Franzosen in einer anderen Stadt) alle Chinesen. Sie zählen zur städtischen Mittelschicht, jedoch viele ohne örtlichen Hukou (siehe unten). Ich habe keine besondere Rolle als Ausländer, mein Arbeitsvertrag und meine Aufgabenbereiche entsprechen denen meiner chinesischen Kollegen. Es gibt keine Sprachbarriere, weil im Grunde alles auf Chinesisch besprochen wird, was ich inzwischen einigermaßen fließend spreche.
Für mich ist befremdlich, dass ich nicht die leiseste Regung von Solidarisierung unter Kollegen finden kann. Alle tanzen nach der Pfeife des Chefs, niemand äußert Kritik oder gar Ablehnung, bei Arbeitsbesprechungen gibt es keinerlei Diskussion. Widerstand drückt sich höchstens stumm aus, man macht langsamer, wenn es der Chef nicht sieht. Aber jede nur für sich, vereinzelt und ohne solidarisches Augenzwinkern. Auch in informellen Gesprächen wird – zumindest mir gegenüber – fast nie eine kritische Haltung auch nur angedeutet, und auf ironische Bemerkungen hin erhalte ich kaum Reaktion.
Diskussion, Meinungsbekundungen und Abwehr sehe ich hingegen regelmäßig bei Teamleitern und Managern. Kommt der Chef mit Modernisierungsprogrammen, wird gebummelt und gemauert, die Programme werden verwässert und Erklärungen vorgebracht, warum diese ungeeignet seien, Verantwortung wird weitergeschoben. Diese Mechanismen sind sehr ausgeprägt. Mein französischer Kollege sagt, er habe einen solchen, so wörtlich »Kindergarten« in 15 Jahren in keinem anderen Land erlebt. Mit dieser (durchaus erfolgreichen) Abwehr von Modernisierung – sogar für Veränderungen, die ihren eigenen Arbeitsstress verringern könnten! – verteidigen Teamleiter und untere Manager ihre Pfründe und ihre Befehlsgewalt, oft mit einer guten Portion Arroganz und gerne auch gegeneinander. Wissen wird monopolisiert, um die eigene Stellung zu erhöhen. Das bildet für den Abteilungsleiter eine fast undurchdringliche Mauer.
Leider scheinen sich die Kollegen, die unten stehen, nur sehr wenig zuzutrauen und äußern fast nie Bedenken oder Einwände. Sie sind indifferent gegenüber Fragen der Arbeitsorganisation. Es erscheint jedes Mal wie ein Gnadenakt, wenn man mal eine wichtige Information bekommt, oder sogar zwei, drei Tage Urlaub genehmigt werden!
In den letzten zwei Monaten haben zwei Todesfälle im Zusammenhang mit Überarbeitung und Überstunden beim Onlinehändler Pindoudou die Debatte um 9961 und (unbezahlte) Überstunden wieder aufleben lassen. Auf meine Frage »wieso gibt es so wenig kollektive Gegenwehr? wo doch alle über krass viele Überstunden klagen!« hat eine Freundin geantwortet, das liege am fehlenden Vertrauen. Sie selber hat in den letzten Jahren in fünf verschiedenen Klitschen als (Grafik-)Designerin gearbeitet und es nirgends länger als ein Jahr ausgehalten. Überall seien die Chefs darauf bedacht, dass die Angestellten einander misstrauen. Sobald sie sich mit einer Bürokollegin anfreundete und gut zusammenarbeiten konnte, wurden die Chefs misstrauisch und setzten sie möglichst weit auseinander. »Wie in der Schule!« Für den Chef ist Kontrolle wichtiger als Produktivität. Denn unter Kontrollverlust leidet seine Autorität, niedrige Produktivität der Angestellten hingegen führt zu Überstunden und niedrigen Löhnen für diese, nicht für den Chef.
Eine andere Bekannte, deren Freundin bei Pindoudou gearbeitet hatte, erklärte die Bereitschaft, 300 und mehr Stunden im Monat zu arbeiten, mit den hohen Einstiegsgehältern bei Pindoudou. Junge Uniabsolventen verbinden damit die Hoffnung auf Ansparen und Wohnungskauf und versuchen, das ein paar Jahre durchzuhalten. Die meisten hauen nach ein, zwei oder drei Jahren wieder ab. Das Misstrauen unter Kollegen sei groß und alle befürchten sverpfiffen zu werden, wenn sie vorschlagen, gemeinsam Überstunden abzulehnen. Meine Frage traf auch bei anderen auf Verständnis – und wurde zugleich als Indiz des Außenstehenden gesehen, denn innerhalb der Mühle denkt offenbar gar niemand daran, die Überstunden als Team zu verweigern.
Gegen individuelle Bummelei setzen Schulen wie Fabriken und Büros mittlerweile allerhand Überwachungstechnik wie Gesichtserkennung, Sitzkissen mit Sensoren u.ä. ein, um automatisch »Fehlverhalten« wie Tagträumen, auf dem Tisch ausruhen, oder um wenige Sekunden zu lange Toilettengänge zu erfassen und durch Lohnabzüge zu bestrafen.2 Damit wird ein Verhalten trainiert, das auf Vermeidung (von Fehlern, Kritik und Strafen) ausgerichtet ist. Alle halten still, aber es tritt auch niemand aktiv mit neuen Ideen und Lösungen hervor. Wissenslücken und kleine Fehler bei anderen aufzuzeigen, ist hier über die mir gewohnten Maße hinaus mit Markierung von Überlegenheit und Autorität verbunden – und leider unter Männern äußerst verbreitet.
Solange die Chefs auf langen Arbeitstagen bestehen, werden die Kollegen weiter bummeln und Modernisierungen bremsen. Stellen einzelne Chefs das Pochen auf lange Arbeitstage und harte Deadlines ein, dann fühlen sich alle erstmal ermutigt, erst recht langsam zu machen. Unter diesen Bedingungen kann ich mir ebenso schwer vorstellen, dass die Chefs signifikante Produktivitätssteigerungen durchdrücken, wie dass die Kollegen gemeinsam die Verkürzung der langen Arbeitstage erzwingen. Wie sollte sich das Team kollektiv der Tatsache bewusst werden, dass der Chef von uns abhängt und wir im Grunde schon alles Wissen haben, um den Auftrag umzusetzen, und deshalb auch Einfluss auf die Arbeitsorganisation und die Terminsetzung nehmen können?
Diese Beispiele spielen alle unter gut ausgebildeten Büroangestellten. Noch vor zwei Jahren hatte ich die Hoffnung, dass die 996-Beschwerden hier zu einem Umdenken bei der Arbeitskultur beitragen, weil die IT-ler ja einen Hebel haben, den sie einsetzen können. Aber der Hebel ist nicht ihre technische Ausbildung oder ihr Platz in der Produktionskettte, der Hebel kann nur in der Solidarität liegen, indem sie es gemeinsam tun; allein sind sie genauso austauschbar wie ein Arbeiter am Fließband. Aber während letztere ne ganze Reihe Streiks hingekriegt haben, kriegen erstere da überhaupt nix hin!
Meine eigenen Begegnungen mit Rassismus kann ich gar nicht mehr zählen. Mehrfach wurde mir als Ausländer der Zugang zu Wohngegenden und Verkehrsmitteln verweigert, ich wurde belehrt, Ausländer könnten nicht verantwortlich mit der Pandemie umgehen, wären unvernünftig und trügen keine Masken, mir wurden Hotelreservierungen in letzter Minute gestrichen, ich wurde angeschrieen und bedroht, mir wurde ins Gesicht gesagt, dass einreisende Ausländer im Gegensatz zu heimkehrenden Chinesen das Virus einschleppen würden usw. Die mir als weißem Europäer entgegengebrachte besondere Aufmerksamkeit kann im nächsten Moment in Ablehnung und Diskriminierung umschlagen. Dieselbe Person, die eben noch mein Chinesisch gelobt hat, kann – beispielsweise weil sie als Pförtner »Autorität und Verantwortung« hat – racial profiling anwenden und mit abstrusen Ausreden »den Ausländer« vertreiben. Racial profiling ist in den Augen der übergroßen Mehrheit eine Selbstverständlichkeit und wird z.B. von Alibaba in Gesichtserkennungssoftware eingebaut. Rassistische Darstellungen im Fernsehen sind Normalität.
Freunde haben einen kleinen Bericht von mir über rassistische Diskriminierung auf Chinesisch online publiziert, der in meinem engen Bekanntenkreis Beachtung und Zustimmung fand. Außerhalb dieses engen Kreises stoße ich entweder auf Leugnung (ich würde da etwas missverstehen), oder Whataboutismus (in anderen Ländern gäbe es auch Rassismus), oder mir wird erklärt, dass Chinesen zueinander noch viel schlimmer seien als gegenüber Ausländern. Tatsächlich ist Diskriminierung gegenüber Chinesen mit etwas dunklerer Hautfarbe oder aus ärmeren Landesteilen weit verbreitet. Bauarbeitern z.B. sieht man von weitem an ihrer untersetzten Statur und den von der Sonne verbrannten Körpern die Arbeit auf dem Bau und die Herkunft aus armen und von Mangelernährung geplagten Landesteilen an. Sie errichten die abermillionenschweren Wohn- und Bürotürme – und verdienen nicht viel mehr als den Mindestlohn. Ihre Arbeitstrupps sind in Containerbaracken kaserniert und haben keine Berührungspunkte mit der städtischen Gesellschaft. Sie haben lange Arbeitstage und kaum freie Tage, waschen ihre Wäsche von Hand in Bottichen vorm Wohncontainer, und ich habe noch nie jemanden auf dem Bau mit Sicherheitsschuhen oder einen Schweißer mit Schweißbrille gesehen. Selbst während der Pandemie, als Hotels leerstanden, zahlte man ihnen nicht einmal die billigsten Hotelzimmer.
Im Vergleich zur Stigmatisierung und Ausgrenzung der Bauarbeiter sind meine eigenen Begegnungen mit Fremdenfeindlichkeit fast unbedeutende Lappalien.
Alle drei typischen Abwehrhaltungen zeigen die fehlende Auseinandersetzung mit Rassismus und die Abwesenheit von universalistischen Werten. In den USA und anderswo gehen Menschen gegen Rassismus auf die Straße. In China drehten »linke« Studierende im April 2020 einen Dokumentarfilm über die Vertreibung der Afrikaner in Guangzhou durch Vermieter und Behörden, der sinngemäß damit endet, Nicht-Chinesen sollten Kultur und Sprache in China besser verstehen lernen!3
1) Auch 2017 waren informelle Filmvorführungen und -diskussionen in Cafés moderiert, aber offen und mit entspannten Moderatoren ohne besonderes Sendungsbewusstsein. Heute treten die Moderatoren wie autoritäre Dorfschullehrer auf, wenn sie mit lächerlicher Hybris einen Film »erklären«, von dem sie nicht mehr als alle anderen Anwesenden wissen. Sie halten moralisierende Vorträge und lassen keine freie Diskussion zu, sondern kommentieren jeden Wortbeitrag. Der zunehmende Autoritarismus macht auch vor kleinen, quasi privaten und »linken« Kreisen nicht halt.
2) Im Dezember zwangen uniformierte Beamte Fahrgäste am Hauptbahnhof und in der U-Bahn systematisch und ohne jegliche Erklärung zum Installieren einer Handy-App »gegen Online-Betrug«. Mit einer solchen Spionageapp auf dem Handy lassen sich Einblicke in das Leben der Nutzer gewinnen, die vergleichbar mit einem zehnstündigen Polizeiverhör sind. Wir haben keine Proteste oder Empörung beobachten können.
3) Eine Bekannte mit Uniabschluss, die einige Zeit in einer Umwelt-NGO gearbeitet hatte, wurde ungewollt schwanger und entschied sich für Kind und Heirat. Seitdem lebt sie bei den Schwiegereltern in einer Stadt mit ca. einer Million Einwohnern und hat bereits ein zweites Kind. Ihr Mann arbeitet etwa eine Autostunde entfernt und besucht sie nur alle ein oder zwei Wochen. Sie kann nicht zu ihm ziehen, weil er noch eine achtjährige Schwester hat, deren Erziehungsarbeit weitgehend ihr übertragen wurde. Beim Kochen ruft die Achtjährige ihre aushäusige Mutter an, damit diese der Schwiegertochter telefonisch minutiöse Anweisungen zum Garen und Würzen gibt. Die Ehe dient noch immer der Aneignung von weiblicher Arbeitskraft. Durch Heirat wird die Frau Teil der Familie des Mannes und dem Kommando der Schwiegermutter unterstellt.
Die gesellschaftliche Hierarchie in Betrieben, Verwaltung und Verwandschaftsbeziehungen basiert noch stark auf dem Senioritätsprinzip, das mit Meritokratie, Wissensmonopol und allerlei Ehrungen verblümt wird. Ältere messen ihre Macht und Stellung daran, wie vielen anderen sie Befehle geben können. Unter welchen Bedingungen entscheiden sich die jungen Hochqualifizierten, sich gegen die Hierarchie zu stellen? Und wann fügen sie sich?
Daneben entfaltet die staatliche Propaganda ihre Wirkung. Die KPCh propagiert im Grunde chinesischen Exzeptionalismus: Sozialismus chinesischer Prägung, chinesische Kultur, Medizin, Geschichte, chinesisches Essen, chinesische Rechtsstaatlichkeit usw. Alles schmilzt auf die Formel zusammen, dass China besonders sei. Deshalb könnten Nicht-Chinesen nicht über China urteilen und nicht-chinesische Werte können nicht auf China angewandt werden (andere Länder sollen aber sehr wohl »von China lernen«!). Imperalismus, den alle linken und rechten Maoisten und Nationalisten ablehnen, wird als der Imperialismus der Weißen definiert; egal wie China in Zentralasien, Afrika oder anderswo auftritt, es kann per se nicht imperialistisch sein.
Der Vorwurf der Doppelmoral an den Westen ist richtig; aber er wird vor dem Hintergrund absurd, dass die KPCh universalistische Werte als »westlich« ablehnt, denn somit gibt es ihr zufolge ja gar keine einheitliche Moral.4 Die zwölf Kernwerte des chinesischen Sozialismus der Xi-Ära schließen Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law, aber ohne Gewaltenteilung, also eher Rule by Law) ein. Viele glauben, dass China demokratisch sei. Das mag als Entwaffnung für Demokratiepropaganda aus dem Ausland hilfreich sein, ist aber leicht angreifbar, weil China hierbei auf den Werten des Westens aufbaut – und China als Demokratie klingt in den Ohren von Nicht-Chinesen wie ein Witz: In meiner Chinesischklasse haben vor vier Jahren alle gelacht, als die Lehrerin das behauptete.
Der größte Propagandaerfolg der KPCh liegt nicht darin, historische Ereignisse wie Kulturrevolution und Tiananmenmassaker aus dem kollektiven Gedächtnis zu »löschen«, sondern darin, dass auch den meisten jungen Menschen die Neugierde abhanden gekommen ist. Auch diejenigen mit Zugang zu VPNs verspüren kaum Neugier herauszufinden, was ihnen eigentlich vorenthalten wird. Eine aktuelle Studie im Fachjournal Political Behaviour erklärt sehr gut den dahinter stehenden sozialen Mechanismus: Man weiß zwar, dass alles zensiert und propagandistisch aufbereitet ist und glaubt selber das dumme Zeug nicht; aber die Einzelnen denken, dass ihre Mitmenschen es glauben. Propaganda funktioniert deshalb, weil der oder die Einzelne dann selbst den Mund hält, um nicht in die Schusslinie zu geraten – und damit wiederum dem anderen suggeriert, die Propaganda zu glauben.5
Die Volksrepublik China ist als »Kryptokratie« beschrieben worden. Denn die Hauptentscheidungsträger und deren interne Konflikte bleiben im Dunkeln. Ein Kreis von extrem mächtigen und reichen Oligarchenfamilien, oft wie Xi Jinping »Prinzlinge« (Nachkommen der alten Garde), hält die Zügel in der Hand. Sie stützen ihre Macht auf das Militär (Xis wichtigster Titel ist Vorsitzender der Militärkommission), auf die Partei- und Staatsbürokratie, die Organisationsbüros und Sicherheitsapparate, die Staatsbetriebe, die Kommunistische Jugendliga (Machtpol von Hu Jintao) und die informellen Machtzentren wie die Shanghai Gang (Machtpol von Jiang Zemin). Alle großen und viele mittlere Privatunternehmen hängen direkt oder indirekt im Beziehungsgeflecht der Machtelite in Partei, Staat, Banken und Staatsbetrieben.
Anfang November stoppte das Regime in letzter Minute den Börsengang von Ant Financial, dem Banking-Arm von Alibaba. Ant ist mit der Vermittlung von Konsumentenkrediten zur weltweit größten Geldbank aufgestiegen, ohne einer Bankregulierung zu unterliegen. Weil solche online Kredite mittlerweile ca. 20 Prozent des BIP ausmachen, muss das Risiko durch schärfere Regulierung eingedämmt und Tech-Unternehmen an die kürzere Leine genommen werden. Im weiteren Verlauf stellte sich heraus, dass vom Börsengang auch Xi Jinpings Kontrahenten im Machtapparat profitiert hätten – auch Wirtschaftspolitik dient nach wie vor dem Fraktionskampf, bzw. umgekehrt.
Staat und staatliche Verwaltung sind aber kein monolithischer Block. Die höheren Stellen geben die Richtung vor, die unteren müssen Konkretisierung und Implementierung liefern und verfügen dabei über relativ viel Entscheidungs- und Auslegungsspielraum. Sie werden anhand von KPIs (Key Performance Indicator) wie z.B. dem BIP-Wachstum evaluiert. Deshalb bevorzugen Lokal- und Provinzfürsten tendenziell die kurzfristige Erreichung vordefinierter KPIs und vernachlässigen nachhaltige aber weniger spektakuläre Entwicklungen.
Ein Großteil der Steuern fließt zur Zentralregierung, den Lokalregierungen fehlen die Einnahmequellen. Sie privatisieren kommunales Land und verschulden sich bei Schattenbanken, damit sie Geld in die lokale Wirtschaft pumpen können, um so die ihnen vorgegebenen Zielvorgaben zu erreichen. Dabei sehen sie oft über von der Zentralregierung vorgegebene Umweltauflagen hinweg. Die Mindestlöhne hingegen werden lokal von Stadtverwaltungen festgelegt…
Im Bildungswesen und den Berufsschulen funktioniert es ähnlich: Die Zentralregierung will das Ausbildungsniveau der Arbeiter heben, stellt den Lokalregierungen aber keine ausreichenden Mittel für die Berufsschulen zur Verfügung. Letztere fälschen Berichte über Schulen, lagern an private Träger aus, was zu miserablem Unterricht führt – und verleihen die Schüler im dritten Ausbildungsjahr an Foxconn oder andere Betriebe!
Die Zentralregierung steuert die Gesellschaft oft mit Kampagnen wie unter Mao (»Lasst 100 Blumen blühen«, »Der Große Sprung nach vorn« usw.). Zu Beginn der Pandemie wurde das ganze Land und jedes Dorf zum Lockdown aufgerufen. Solche Kampagnen sind effektiv (die Zielvorgaben werden erreicht), aber sehr ineffizient (großer Ressourcenverschleiß). Eine nationale Kampagne zur Anhebung der Löhne, Senkung der Arbeitszeiten, Verbesserung der Arbeitsbedingungen gab es übrigens noch nie.
Am 1. Juli 2021 feiert die KPChina offiziell ihr hundertjähriges Bestehen. Ihre Vertreter sitzen überall, in jeder Pore der Gesellschaft. Jeder Staatsbetrieb und alle großen und viele kleine private – einschließlich ausländischer – Betriebe haben Komitees oder Vertreter der Parteigewerkschaft. Jede Uni, jede Schule hat Komitees und für jeden Schüler gibt es einen politischen Aufpasser, der für die Ahndung von unangepasstem Verhalten verantwortlich ist. Alle Straßenzüge und Wohnkomplexe sind Teil eines Rasters und für jedes Raster gibt es einen Zuständigen, der an die Parteibürokratie berichtet.
Die meisten einfachen Mitglieder treten der Partei wahrscheinlich aus Familientradition, Karrierebewusstsein oder auf Einladung bei, die den besten Schülern und Studenten angeboten werden. Sie gehören in ihrem jeweiligen Umfeld eher zu den bessergestellten, patriotischeren und konservativeren Menschen ohne deswegen aber notwendig Nationalisten zu sein. Seit einigen Jahren werden Parteimitglieder sowie Beschäftigte in Regierung und Staatsbetrieben genötigt, mittels der App Xue Xi, Qiangguo (Studiere Xi, stärke das Land) täglich Propagandafilme zu gucken und kleine Prüfungsaufgaben zu lösen. Seit Neuestem müssen auch normale Studierende z.B. im Bereich Krankenpflege täglich eine Viertelstunde lang Xis Reden über die App anhören.
Mit mehr als zwei Prozent Wachstum ist China die einzige große Volkswirtschaft, die 2020 nicht geschrumpft ist. Das Wirtschaftswachstum ist allerdings schöngerechnet; dahinter verbergen sich Schulden und unproduktive Großprojekte. Auch ist die Coronalage nicht so klar, wie offiziell behauptet wird. Auf Neuinfektionen wird meist mit Massentests und lokalen Lockdowns reagiert, die wie Anfang Januar 2021 in Hebei Ausgangssperren für 22 Millionen Menschen wie im Vorjahr in Wuhan einschließen können. Und die aktuellen Einreiseverbote für die meisten Ausländer - und auch für viele Chinesen! – zeigen, dass längst nicht alles wieder normal ist. Die Verschleppung der epidemiologischen Ursachenforschung durch die WHO lässt vermuten, dass noch vieles im Argen liegt.
Laut einer am 24. Februar 2021 im BMJ veröffentlichten Studie lag die Übersterblichkeit in Wuhan zwischen Ende Januar und dem 12. Februar bei ca. 5000 Toten. Das legt den Schluss nahe, dass das Infektionsgeschehen in Wuhan deutlich früher und deutlich massiver als offiziell angegeben verlief. Aus der Übersterblichkeit ergeben sich etwa 100 - 250 000 Infektionen, die vor dem Lockdown am 23. Januar stattgefunden haben müssen. Die Situation in den lokalen Krankenhäusern dürfte also bereits Anfang/Mitte Januar dramatisch gewesen sein. Und trotz des relativen Erfolgs der danach einsetzenden Maßnahmen darf man im Rückblick nicht die Härte und Willkür der Lockdowns vergessen.6
Chinas Konjunkturprogramm in der Coronakrise ist klein im Vergleich zu dem anderer Industrieländer und dem in der Krise 2008/9. Wachstum gab es insbesondere in der Bauindustrie und bei den Exporten. Ausländische Eisenerzexporteure profitieren vom Bauboom, und deutsche »Premiumautobauer« haben ihre Freude daran, dass der Konsum von Luxus um schätzungsweise fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist. In China leben mittlerweile mehr US-Dollar Milliardäre als in den USA und Indien zusammen. Aber der Privatkonsum fiel um ca. fünf Prozent. Der Einbruch der privaten Kaufkraft und insbesondere der gestiegene Außenhandelsüberschuss lassen vermuten, dass China diesmal nicht wieder als Motor globaler Nachfrage hervortritt, sondern sich im Gegenteil den eigenen Aufschwung aus dem Ausland finanzieren lässt. Denn dieser ist durch Schulden erkauft: Die Gesamtverschuldung stieg um ca. 25 Prozent des BIP rasant an und liegt nun je nach Kalkulation bei 279 oder 335 Prozent des BIP. Die Privatverschuldung ist im Jahr 2020 von 55 auf 62 Prozent des BIP bzw. auf extrem hohe 150 Prozent des verfügbaren Jahreseinkommens angewachsen. Und die wirtschaftliche Erholung hat die gewaltigen sozialen und ökonomischen Ungleichheiten noch weiter verschärft. Die große Mehrheit der Wanderarbeiter und auch viele städtischen Beschäftigten haben ein oder mehr Monatseinkommen verloren aufgrund von Lockdowns, ausgefallenen Überstunden und Streichung von Zulagen.
Nach offiziellen Prognosen wird das BIP pro Kopf in China in etwa drei Jahren 13 000 USD erreichen; und in acht bis zehn Jahren soll es nominell größer sein als das der USA.
Im Hinblick darauf war die Aussage des Premierministers Li Keqiang im Mai ein Schlag ins Kontor, der zufolge 600 Millionen Chinesen von 1000 RMB (ca. 125 Euro) oder weniger im Monat leben. Das löste auch unter meinen Kollegen eine rege Debatte aus, viele wollten nicht glauben, dass China so arm ist. Caixin hat die Aussage von Li anhand von Untersuchungen der Peking Normal Universität und des nationalen Statistikamtes bestätigt. Demnach lebten Ende 2019 600 Millionen von einem monatlichen verfügbaren Einkommen von 1090 RMB oder weniger. Laut Caixin leben die ärmsten Haushalte typischerweise auf dem Land, haben durchschnittlich ein minderjähriges Kind und ein über 60-jähriges Mitglied. Das im Median verfügbare pro-Kopf-Einkommen lag bei 1300 RMB (165 Euro). Chinas »Mittelklasse« (definiert als pro-Kopf-Einkommen über 2000 RMB = 252 Euro), besteht somit aus 250 Millionen und nicht wie offiziell behauptet aus 400 Millionen Menschen.
Wenn man auf der Grundlage dieser Zahlen die für den Privatkonsum jährlich zur Verfügung stehende Gesamtsumme abzuschätzen versucht und diese ins Verhältnis zum offiziellen BIP von 2019 setzt, ergibt sich ein Anteil des Privatkonsums am BIP von 22-28 Prozent. Das wäre nicht nur historisch einzigartig, es ist wahrscheinlich schlichtweg unmöglich (offiziell sind es etwa 38 Prozent). Anders gesagt, lässt sich aus der Aussage von Li abschätzen, dass das wirkliche BIP nur ca. 65-80 Prozent der offiziellen Zahl von 99 Billionen RMB betragen kann. Ein Vergleich mit Zahlen zum Einkommen und Einkommensungleichheit von Piketty führt zu einem ähnlichen Ergebnis bedenkt man die hohe Sparquote und den Zinsdienst. Zweifel an der tatsächlichen Höhe des BIP sind nicht neu, und Schönrechnen seitens der Provinzregierungen bekannt. Meine Berechnung dient nur als vorsichtige Abschätzung, aber wenn das Wachstum der letzten zehn Jahre produktiv gewesen wäre, dann müssten die Einkommen deutlich höher liegen als Li sie angibt. Wenn seine Zahlen aber stimmen, ist auch die Schuldenlast als Prozentanteil des BIP viel höher als oben angegeben.
Michael Pettis weist darauf hin, dass das chinesische BIP als Eingabemaß zu verstehen ist, mit dem bestimmt wird, wieviel Wirtschaftsaktivität Provinzregierungen generieren sollen. Die KPCh legt Wachstumsziele fest. Der größte Teil des BIP wird entsprechend ihrer Interessen in Infrastruktur, Propaganda u.a. geleitet. Diese öffentliche Infrastruktur wurde großteils für das BIP-Wachstum gebaut und hat einen eingeschränkten Nutzen (leere Brücken, unausgelastete Schnellzugstrecken...). Wachstums wird mit schuldenfinanzierten Prestigeprojekten generiert, die den gesellschaftlichen Reichtum defacto kaum erhöhen. Das tatsächliche jährliche Wachstum vermutet Pettis bei ca. zwei bis drei Prozent.
Die Einkommenszahlen von Li bedeuten nicht nur, dass 600 Millionen Chinesen von weniger als 125 Euro im Monat leben, sondern auch, dass ein beträchtlicher Teil des Wirtschaftswachstums der letzten zehn Jahre nicht stattgefunden hat. Daraus ergibt sich auch, dass das künftige Wachstum entsprechend niedriger sein wird und sich aufgrund von Alterung der Bevölkerung, Verschuldung etc. noch weiter verlangsamen wird. Die Schimäre vom rasanten Wachstum könnte dann nicht mehr lange aufrechterhalten werden, und ein Überholen der USA wäre nur möglich, wenn die US-Wirtschaft zusammenbricht (worauf die chinesische Propaganda auch immer wieder anspielt). In anderen Worten, die Zeit läuft gegen Beijing.7
Die soziale Ungleichheit hat politische Gründe. In der Mao-Ära hat die KPCh die wachsende Arbeiterklasse in privilegierte Staatsbeschäftigte und Prekäre gespalten. Als Ende der 90er Jahre ca. 50 Millionen aus den Staatsbetrieben entlassen wurden, war an den Küsten bereits eine neue, lokale Schicht von privilegierten Hauseigentümern und Bossen entstanden. Denn in den 1990er Jahren war die größte Privatisierung aller Zeiten gelaufen: die des chinesischen Wohnungsmarkts.
Soziale Gruppen lassen sich in China in Bezug auf ihre Nähe bzw. Distanz zu den Machtzentren beschreiben. Der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Macht hängt von Beziehungen (Parteikader), lokalen Privilegien (Hukou, Wohneigentum) und der Nähe zu den reichen Metropolen ab. Städte werden offiziell in Grade von 1 bis 4 je nach Größe, Wirtschaftsleistung und politischer Bedeutung aufgeteilt, Beijing, Shanghai, Shenzhen und Guangzhou sind Städte 1. Grades, andere Provinzhauptstädte zählen zum 2. Grad, wichtige weitere Städte zum 3. Grad usw..8 Macht und Reichtum sind in Städten 1. und 2. Grades konzentriert, hier sitzt die Oberschicht (Staatselite, Milliardäre) und eine mit Industrieländern vergleichbare reiche Schicht von Verwaltungsfunktionären, Immobilienbesitzern, Unternehmern, Managern… Aber auch Professoren, Ärzte, Lehrer, (unkündbare) Beschäftigte in Staatsbetrieben, sowie die lokale Arbeiterklasse sind hier jeweils besser gestellt als in anderen Städten. Städte 4. Grades und darunter sind Peripherie; Städte 3. Grades können teilweise zur ersten, teilweise zur zweiten Gruppe gezählt werden. Auch hier gibt es eine lokale Ober- und Mittelschicht, die Immobilien oder Unternehmen besitzen und die Arbeitskräfte zu Niedriglöhnen ausbeuten.
In den vier Jahrzehnten seit der »Öffnung« ist die Arbeiterklasse enorm gewachsen. Hunderte Millionen WanderarbeiterInnen kamen vom Land oder aus abgehängten Städten in die Industriemetropolen an der Küste. Heute machen sie 40 Prozent der Erwerbstätigen aus. Erst sie haben Mandarin-Chinesisch in alle Landesteile getragen und zur universellen Verkehrssprache gemacht (während lokale Eliten z.B. in Guangdong weiterhin an ihrem Dialekt Kantonesisch als Distinktionsmerkmal festhalten). Und nur sie haben ein materielles Interesse daran, das Hukou-System mit seinen lokalen Privilegien zu zerschlagen, das ihnen und ihren Kindern den Zugang zum öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystem am Arbeitsort verwehrt und egalitären (gleicher Lohn) und universalistischen (gleicher Zugang zu Recht) Werten diametral entgegen steht.
Der Mehrheit der Wanderarbeiter wird gar kein Arbeitsvertrag ausgehändigt. Wo es Arbeitsverträge gibt, sind sie oft ungültig oder im Streitfall kaum durchsetzbar. Dein Arbeitsvertrag ist nichts wert ohne die Gunst des Chefs, dein Mietvertrag ebenso wenig. Es gibt keine allgemein gültigen Normen und Gesetze, auf die man sich anstatt auf lokales Vitamin-B berufen könnte.
Aufgrund dieser vielfachen Spaltungen ist es gar nicht so leicht, die chinesische Industriearbeiterklasse zumindest soziologisch zu beschreiben; hier nur ein paar Stichpunkte, damit das Bild klar wird.
Junge ArbeiterInnen fangen im Perlflussdelta in einfachen Fabriken mit 3000 RMB an (knapp 400€), das geht dann rauf auf 4-5000 oder sogar 6000. Autoarbeiter in der hochmodernen BMW-Fabrik in Shenyang verdienen auch nur 4500, weil Rust Belt. (Zum Vergleich: Sozialarbeiter mit Bachelor kriegen im Perlflussdelta Einstiegsgehälter von mitunter nur 4-5000; Programmierer mit Bachelor wurden 2017 in einer deutschen IT-Klitsche ebenfalls für 4500 eingestellt.) Spitzenlöhne zahlt VW in Foshan, dort verdient man ca. 7000 am Band, Techniker sogar 10 000 – Einstellungsvoraussetzung ist aber Fachhochschulabschluss und städtischer Hukou! Und trotzdem schlafen die allermeisten VW-ArbeiterInnen zu zweit im Zimmer und können sich keine Wohnung vor Ort kaufen und ihre Familie nachholen. Erfahrene Textilarbeiter können im Jiangtse- oder Perlflussdelta bis zu 5000-8000 machen (in den letzten Jahren wurden mehrere Betriebe nach Kambodscha und Vietnam verlagert, wo die Löhne niedriger sind). Die Löhne in den Staatsunternehmen sind teils besser, man kann auch nicht so leicht entlassen werden. Aber man kommt nur über Beziehungen rein und muss zig Monatsgehälter Schmiergeld für die Anstellung zahlen. Im Landesinneren sind die Löhne niedriger.
Fabrikarbeit ist noch immer geprägt durch lange Arbeitstage, autoritäres Regime mit allerlei Strafen und das Hukou-System, das den ArbeiterInnen verunmöglicht, mit ihrer Familie in der Nähe der Arbeit zu wohnen. Keiner dieser drei Punkte wurde verbessert. Die Foxconn-Arbeiter, die ich über die Englischklassen kennengelernt habe, machten alles Mögliche, um aus der Fabrik wegzukommen: neben Englischlernen (um in Marketing oder Verkauf zu arbeiten) auch den Führerschein (Taxifahrer), oder sie versuchten, bei Immobilienmaklern unterzukommen.
In den alten Staatsbetrieben waren bzw. sind diese drei Punkte besser. Aber hier waren sie ja vollkommen daran gescheitert, die Produktivität zu steigern. Die neuen, privatkapitalistischen Fabriken an den Küsten waren die Antwort darauf.
Seit etlichen Jahren wachsen die Löhne der Wanderarbeiter deutlich langsamer als die in formellen und insbesondere in (hoch-)qualifizierten Berufen. Die Löhne von angelernten Dienstleistungsjobs wie Kellner, Kassierer und Reinigungskraft halten kaum mit der Inflation Schritt und sind nach meinen Beobachtungen seit Corona gesunken. Auch regionale Ungleichheiten nehmen weiter zu; ein Durchschnittseinkommen in Shanghai entspricht dem zehn- bis zwölffachen des Durchschnittseinkommens in den armen Landesteilen.
Um auf meine Firma zurückzukommen: Hier fangen Leute mit Bachelor in technischen Fächern mit 5-6000 an. In den Knochenmühlen bei Pindoudou oder Huawei könnten sie Einstiegsgehälter über 10 000 kriegen. Meine Kollegen kaufen sich nach der Heirat am Stadtrand eine Wohnung mit 30 Prozent Anzahlung, der Rest als Kredit, den sie über 30 Jahre abbezahlen. Bei 4,8% Zinsen geht bei vielen das Gehalt eines Ehepartners für die Hypothekenzahlungen drauf…
Auch solche Fachhochschul- bzw. Uniabsolventen gehören zur migrantischen Arbeitskraft. Im Unterschied zu Arbeitern haben sie die Hoffnung, am Stadtrand eine Wohnung und damit den Hukou zu erwerben. Diese Hoffnung hält sich hartnäckig, weil es Millionen geschafft haben. Dafür arbeiten sie 996. Aber die Chancen sind in den letzten zehn Jahren geschrumpft. Besonders bei diesen Lohnabhängigen mit hoher formaler Ausbildung und der Hoffnung, in die Mittelschicht aufzusteigen, scheint Xi‘s Kampagne von Nationalismus und Überhöhung der eigenen Errungenschaften zu fruchten.
Giovanni Arrighi hatte 2008 seinen Glauben an Chinas fortgesetztes Wirtschaftswachstum damit begründet, dass die Bevölkerung über einen hohen Bildungsstand und gute Gesundheit verfüge. Heute gilt beides nicht mehr. Unter den middle income countries ist China das Land mit der niedrigsten Bildung (nur knapp über 30 Prozent der Arbeitsbevölkerung haben einen sekundären Schulabschluss); es hat ein relativ hohes Medianalter (abgesehen von Thailand und Kuba haben unter den middle income countries nur ehemalige Ostblockländer ein höheres); mehr als 70 Prozent der Kinder sind kurzsichtig, mehr als 50 Prozent der Erwachsenen übergewichtig; über 15 Prozent aller Paare sind unfruchtbar. Gerade veröffentlichten Statistiken zufolge ist die Geburtenzahl 2020 im Vergleich zu 2019 um 15 Prozent auf ca. 12,5 Millionen zurückgegangen. In der Generation der Eltern dieser Neugeborenen lag die Geburtenzahl fast doppelt so hoch (zwischen 1985 und 2000 wurden jährlich durchschnittlich 21,7 Millionen Kinder geboren, in der Großelterngeneration waren es 24,8 Millionen). Die Gesellschaft altert rapide; die demografische Krise beschleunigt sich.
In den 90er und 2000er Jahren hatten sich die boomenden Fabriken Männer und insbesondere Frauen um die 20, die in die Industriestädte strömten, noch aussuchen können. In den Jahren nach dem WHO-Beitritt Anfang der 2000er Jahre kamen jährlich ca. 25 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, nur etwa eine Million besaß einen Uni- oder Fachhochschulabschluss.
Diese WanderarbeiterInnen gingen davon aus, nach fünf oder zehn Jahren Fabrikarbeit heim aufs Land zu gehen und dort einen Laden, ein Restaurant oder einen kleinen Betrieb aufzumachen. Viele, wenn nicht die meisten dieser Unternehmungen endeten im Bankrott und sie mussten in die Industriemetropolen zurück zum Malochen. Inzwischen sind sie aber zu alt für die harten Jobs, die nie daraufhin ausgelegt waren, dass man sie ein Leben lang machen kann. Auch die Aussichten auf einen eigenen kleinen Laden schwinden, denn Großunternehmen drängen ins Kioskgeschäft und haben fast alle Kioske und viele Restaurants in Franchise-Unternehmen verwandelt. Viele Konflikte entzünden sich an den enttäuschten Erwartungen in Bezug auf die vermeintliche zeitliche Befristetheit der Maloche und an deren gesundheitlichen Folgen!
Parallel dazu versiegt der Zufluss von jungen WanderarbeiterInnen. 2010 waren noch ca. 21 Millionen gekommen, davon 2,5 Millionen mit Uni- oder Fachhochschulabschluss. Dieses Jahr kommen noch 15 Millionen junge Menschen neu auf den Arbeitsmarkt, darunter neun Millionen mit Uni- oder Fachhochschulabschluss – und viele der anderen 6 Millionen machen lieber schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs, als in die Fabriken zu gehen! Innerhalb von 20 Jahren ist das Verhältnis von Arbeitern zu Weißkragen grob gerechnet von 24:1 auf 2:3 gefallen; dabei überstieg bereits 2011 das Angebot an frischen Akademikern die Nachfrage um 15 Prozent!
Die einzige Altersgruppe der aktiven Erwerbsbevölkerung, die in den nächsten 20 Jahren noch wächst, sind die über 50Jährigen. Die vielen hundert Millionen freigesetzten Arbeitskräfte sind noch da; aber sie sind älter geworden. Die Altersgrenze für Einstellungen in vielen Fabriken wurde inzwischen auf 40 Jahre angehoben, aber es hat keine qualitative Veränderung der Arbeitsprozesse gegeben, die ihnen ein Arbeiten bis zur Rente ermöglichen würde. Alternden Arbeitern droht Armut, daran ändert auch der laute Jubel über das »Ende der absoluten Armut« nichts (definiert als Jahreseinkommen von weniger als 4000 RMB = 519 Euro pro Person, bzw. 1,42 Euro am Tag; die Weltbank setzt die Grenze für extreme Armut bei 1,59 Euro pro Tag und für Armut in upper middle income countries wie China bei 4,60 Euro an). Immer mehr verläuft die Armutsbekämpfung als Almosenzahlungen, weil entsprechend besser bezahlte Jobs fehlen.
Übrigens hatte die KPCh 2000 schon einmal den Sieg über absolute Armut gefeiert.9
Seit 2012 ist Xi Jinping Generalsekretär der KPCh und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission, seit 2013 auch Staatspräsident. Mit seinem Machtantritt begann die dritte Phase der Volksrepublik China (die erste war unter Mao Zedong, die zweite von Deng Xiaoping bis Hu Jintao). Xi‘s »Kampf gegen die Korruption« beseitigte alle Gegner im Apparat (eineinhalb Millionen Parteifunktionäre landeten im Knast).10 Statt auf ökonomisches Wohlergehen wie Deng und Hu Jintao setzt Xi auf Autoritarismus und Nationalismus. 2015 trat er eine Welle der Repression los, zuerst gegen Feministinnen, dann Menschenrechtsanwälte, dann Labour NGOs. Offensives Auftreten – zuletzt der glorreiche Sieg über das Corona-Virus – soll Stärke vermitteln. China rüstet militärisch auf und mischt sich z.B. massiv in die Innenpolitik afrikanischer Länder ein.
Gleichzeitig schottet sich China gegen »ausländische Einflüsse« ab, obwohl es vom VWL-Standpunkt aus eher mehr als weniger Austausch mit dem Ausland bräuche; etwa für die Weiterentwicklung der Exportindustrie, für das industrial upgrading und allgemein für Arbeitsoptimierung und Sprachkompetenzen. Auch jenseits von Schlüsselindustrien wie Mikroprozessoren wird sich der Rückgang internationaler Kooperation negativ auf Produktivitätssteigerungen auswirken. Auf meiner Arbeit, in meiner rein chinesischen Abteilung von Softwareentwicklern hängt die Arbeitsweise und -organisation »westlichen« Firmen um ca. 15 Jahre hinterher, in Softwareprojekten, die aus Europa gemanaget werden, ist das weniger krass. Der Preis, den Chinas Wirtschaftsentwicklung für die Eskalation und zunehmende Abschottung zahlt, ist nicht gering!
Die Wirtschaftspolitik (neuerdings »Modell der zwei Kreisläufe« genannt) fördert unternehmerische Aktivitäten unter Umgehung der egalisierenden Tendenzen eines wachsenden frei verfügbaren Lohnanteils. Wohnungsbau und verwandte Branchen machen ca. ein Viertel des BIP aus. Sie schaffen Nachfrage, Jobs und bereichern einige; aber sie halten die Klassenspaltung aufrecht und die ausgezahlte Lohnmasse – und damit Macht über das eigene Leben – niedrig. Die Mittel reichen vom Zwangssparen bis zum Bausparen und von der staatlichen Investitionspolitik bis zur Zwangsumsiedlung.
Zwangssparen: Es gibt keine rechtlich garantierten Ansprüche auf Sozialleistungen, finanzielle Entschädigungen u.ä. Die Leute hängen von der Gunst lokaler Behörden ab. Das zwingt sie zum Sparen für schlechte Zeiten und das führt zu einer extrem hohen Sparquote. Was auf die hohe Kante gelegt wird, fließt nicht in den Konsum (daran scheitern alle Versuche, den Binnenmarkt auszuweiten).
Bausparen: Sozialversicherungspflichtige Beschäftigte haben einen »Wohnungsfond«. Wenn der Arbeitgeber genug eingezahlt hat, kann man billige Kredite für Wohnungserwerb beantragen. Einige Arbeitgeber zahlen ihren Angestellten mehr in den Wohnungsfond als in die Lohntüte und sparen so Steuern; Angestellte nehmen es gern und empfinden es sogar als Lohnerhöhung, weil der Löwenanteil des Einkommens ohnehin in den Wohnungskauf geht.
Die meisten staatlichen Investitionen fließen in die reichen Städte und verschärfen die Ungleichheit zwischen Metropolen und Peripherie. Sie fördern die Überausbeutung billiger Arbeitskraft auf dem Bau (für leerstehende Wohnungen!) und haben eine gewaltige Immobilienblase aufgepumpt: Aktuell machen alle Immobilienwerte in der Summe mehr als das Vierfache des BIP aus – Japans Immobilien machten auf dem Höhepunkt der Blase das 2,7-fache aus! Wenn ein Immobilienunternehmen ein neues Innovationszentrum oder einen Bürokomplex für IT-Unternehmen hochzieht, dann werden nicht nur für die ersten drei Jahre die Mieten von der Lokalregierung übernommen, sondern auch jede/r Angestellte z.B. mit 3000 RMB im Monat subventioniert (bei einem Mindestlohn von unter 2500 RMB). Hunderte Millarden Euro werden so für eine Spekulationsblase und Subventionserschleichung in Bereichen wie E-Autos und Mikroprozessoren, für Bürojobs in mittelmäßiger R&D usw. in die Metropolen transferiert – und erhöhen dort die Wohn- und Lebenskosten.
Zwangsumsiedlung: Im Rahmen der sogenannten »Bekämpfung der extremen Armut« wurden allein in der Provinz Shandong 2,4 Mio. Menschen oder 2,4 Prozent der Bevölkerung zwangsumgesiedelt. Das neue Dorf wird dort, wo es der Lokalregierung passt, als Reihenhaussiedlung hochgezogen. Nach Fertigstellung oder sogar davor werden die Leute aus ihren Häusern geworfen und das alte Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Freiwillig wären viele nicht in die neuen Häuser gezogen, weil sie keine Verbesserung darstellen (z.B. viel zu weit vom Ackerland entfernt sind). Auch hier wurde auf dem Papier Armut bekämpft und Reichtum geschaffen, aber ohne egalisierende Teilnahme der Bewohner. Hätten sie selbst entscheiden dürfen, dann hätte die »Modernisierung der Dörfer« ganz andere Zugeständnisse der Regierung erfordert.
So erzeugt der Staat wirtschaftliche Aktivität und Wachstum, während der tatsächlich frei verfügbare Anteil der ArbeiterInnen am BIP, also der Lohn in der Lohntüte, stagniert oder sogar sinkt und ihre persönliche Abhängigkeit von Hypotheken, staatlichen Almosen, Jobs, Hauseigentümerversammlung und -verwaltung steigt. Nicht nur der staatliche Autoritarismus sondern auch das ökonomische Modell haben die fehlende Rechtssicherheit zur Grundlage. Und während junge Chinesen stolz und optimistisch in Bezug auf die Zukunft der Nation sind, blicken sie mit großer Besorgnis auf ihre eigene wirtschaftliche Zukunft.
Seit Einführung des nationalen Sicherheitsgesetzes am 1. Juli 2020 wird Hongkong sukzessive in eine chinesische Stadt wie jede andere auch verwandelt. Seit Februar 2021 wird an Hongkonger Schulen »patriotisch erzogen«: Ab Kindergarten und Grundschule sollen die Kinder lernen, dass Abspaltung und Einflussnahme aus dem Ausland Verbrechen gegen die nationale Sicherheit sind und dass das Singen von Liedern mit politischem Inhalt verboten ist. Am 4. März 2021 endete »Ein Land, zwei Systeme«.
Und während Beijing stets behauptet, das Auslieferungsgesetz von 2019 und das nationale Sicherheitsgesetz seien rechtsstaatliche Maßnahmen, bemüht man sich nicht im Geringsten, diesen Schein aufrechtzuerhalten: Die ersten Hongkonger, denen seit Einführung der Gesetze in Festland China der Prozess gemacht wird (wegen versuchter Flucht nach Taiwan), stehen ohne Anwalt da, weil ihrem eigentlichen Anwalt gerade die Lizenz entzogen wurde.
Unter Repression und Pandemie hat sich die Protestbewegung in Hongkong radikalisiert (anders als zu Beginn fordert nun ein nicht unbeträchtlicher Teil die Abspaltung von China) und ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Viele Leute planen, die Stadt zu verlassen, auch unter meinen Freunden und Genossinnen. Sie haben in der Vergangenheit soziale Bewegungen gegen Privatisierung, Gentrifizierung, prekäre Löhne, kurz gegen den extrem liberalisierten Kapitalismus Hongkonger Prägung organisiert. Die Situation in Hongkong hat sich seit letztem Jahr so radikal geändert, dass sie Xinjiang nun als Indiz dafür sehen, wie schlimm es noch kommen kann.
Mittlerweile häufen sich die Zeugenberichte, Quellen und geleakte Dokumente über die Lager in Xinjiang, in denen schätzungsweise eine Million Menschen gefangengehalten werden. Die Repression reicht vom Ersetzen der uigurischen Sprache durch Mandarin-Chinesisch, über die Verhinderung von Moscheebesuchen und allgegenwärtiger Überwachung, bis hin zu Inhaftierung, Zwangsarbeit, Reduzierung von uigurischen Geburten und Folter.
In China leben 10 Millionen Uiguren, das sind nur ca. 0,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Xinjiang stellen sie nur 45 Prozent der Bevölkerung. Viele sind als Wanderarbeiter in den Osten Chinas gegangen. Sie sind nicht nur Bauarbeiter, sondern spielen eine wichtige Rolle in der Gastronomie in allen chinesischen Städten. Wanderarbeiter, die gerne nach Xinjiang zurückkehren würden, überlegen sich das heute zweimal, weil sie wenig Chancen haben, wieder von dort weggelassen zu werden. Auch Han-Chinesen, die die Regierung Jahrzehnte lang gezielt in Xinjiang angesiedelt hat, verlassen die Provinz.
Früher waren die KP-Kader in Xinjiang Uiguren; im Rahmen der Industrialisierungspolitik wurden sie in den 80er Jahren durch Han-Chinesen ersetzt. Gegen diese Ansiedlung von Han-Chinesen in Xinjiang kam es zu terroristischen Aktionen. Das hat die chinesische Regierung alarmiert, die immer hart gegen separatistische Bestrebungen vorgegangen ist. Nach 9/11 herrschte Angst vor einem zweiten Tschetschenien in Xinjiang.
Seit etwa vier Jahren verschärft dort die Regierung die Repression. Ein Grund dafür ist, dass hier die Seidenstraße durchgeht. Es ist aber sicherlich kein Zufall, dass das synchron zur gesamten innenpolitischen Entwicklung unter Xi Jinping verläuft. Xinjiang ist gewissermaßen Modell und Testgelände, die dortigen Lager gelten nicht nur den Uiguren. (Im Übrigen sind in ihnen auch Han-Chinesen interniert.) Propagandistisch werden die Arbeitslager als Weiterbildung, Umerziehung, Terrorismusbekämpfung oder im Stile des Kolonialismus als Aufklärung unzivilisierter Völker dargestellt.
China ist der weltgrößte Erzeuger von Tomaten; sie kommen hauptsächlich aus Xinjiang, oft in Form von Tomatenmark. Ebenso werden dort 80 Prozent der chinesischen Baumwolle angebaut. Aber obwohl einzelne Betriebe sicherlich davon profitieren, ist das Lagersystem nicht aus einer ökonomischen Rationalität erklärbar. Seine Sicherheitskosten sind massiv.
Als einziger ausländischer Autobauer betreibt VW eine Fabrik in Xinjiang; auch diese wohl eher keine produktive Investition, sondern eine Geste des guten Willens von VW gegenüber der KCPh. Das Werk ist für 50 000 Autos im Jahr ausgelegt, hat aber nie auch nur halb so viele produziert (zum Vergleich: das VW-Werk in Foshan, Südchina, hat pro Fließband eine Kapazität von 300 000 Fahrzeugen im Jahr). Auf Nachfragen behauptete der VW-Chef Diess, er habe nie von Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang gehört, dazu könne er nichts sagen.
Die NATO-Staaten und Russland ließen China lange Zeit freie Hand in Xinjiang – der »Kampf gegen den islamistischen Terror« ist schließlich ein gemeinsames Anliegen (natürlich mit vielen Abstufungen, siehe Syrien!). Inzwischen benutzt man aber die Lager als Mittel in der Auseinandersetzung mit China; Mitte Januar verhängten die USA ein Importverbot für Baumwolle und Tomaten aus Xinjiang. Den propagandistischen Vorwurf des »Völkermords« sollten wir kritisieren, den Indizien nach geht es um Unterdrückung, nicht Auslöschung, und auch Han-Chinesen zählen zu den Opfern. Das Vorgehen des Westens als Propaganda zu durchschauen, kann aber nicht heißen, im Gegenzug die Existenz der Lager zu leugnen!
Innenpolitisch bedeuten sie eine Auseinandersetzung, die das Regime nicht mit einem Sieg beenden kann – es sei denn, es führt die Repression für die nächsten 50 Jahre fort, bis kaum noch Uiguren leben. Denn würden Internierung und Überwachung morgen beendet, würden die Lügen der KPCh für alle offenkundig und sicherlich würden sich nicht wenige am Sicherheitsapparat rächen. In der chinesischen Gesellschaft gibt es darüber keine öffentliche Diskussion und keinen Widerspruch. Ein Taxifahrer, der uns von seinen Aufenthalten in Xinjiang und den dortigen Polizeikontrollen im Ton eines Urlaubsberichts erzählte, fand nichts Problematisches daran, dass Uiguren nicht zu dritt auf die Straße gehen dürfen: das müsse man so mit denen machen, weil die sich ständig träfen und immer mit Bekannten zusammen seien.
Mit Xi an der Macht ist eine Kehrtwende in Xinjiang fast unmöglich. Solange ist aber auch keine Rücknahme autoritärer Willkür oder Rechtssicherheit im übrigen Land möglich, zu leicht ließe sich diese für Entschädigungsforderungen für Internierung und Folter nutzen. Die drakonischen Maßnahmen in Hongkong und insbesondere in Xinjiang legen die KPCh auf eine Einbahnstraße fest, in der sich das Land nur in Richtung Autoritarismus bewegen kann. Und wie wir oben gesehen haben gibt es ohne Stärkung der Rechtssicherheit auch keine effektive Erhöhung des Konsumanteils und der Geburtenrate. Lagerwillkür, Armut, niedrige Löhne und demografische Krise hängen zusammen und bedingen sich gegenseitig.11
Bis zur globalen Krise wurden die BRIC-Staaten (Brasilien-Russland-Indien-China; später auch Südafrika: BRICS) als die großen Gewinner der Globalisierung dargestellt. Danach drehte sich die Perspektive um. 2008 prägten Gill und Kharas den Begriff der »Middle Income Trap«. Von den 101 Ländern, die 1960 als ‘middle-income’ definiert worden waren, hatten es bis 2008 nur 14 geschafft, ‘high-income’ zu werden (darunter Irland, südeuropäische Länder, sowie Südkorea, Taiwan und Singapur). Die These von der Mittleren Einkommensfalle behauptet, die Industrialisierung in Schwellenländern käme in eine Phase, wo bestimmte Branchen aufgrund gestiegener Löhne abwandern (in China ist das zum Beispiel die Textilindustrie), es ihnen aber (noch) nicht gelingt, andere Industrien anzuziehen, um so den weiter entwickelten Industrieländern Konkurrenz zu machen. Dieser Prozess kann nicht eindimensional als »technologische Entwicklung« verstanden werden. Die VWL beschreibt ihn als Übergang vom »quantitativen« zum »qualitativen« Wachstum, Marxisten würden es als Übergang von der absoluten zur relativen Mehrwertproduktion fassen. Dabei spielen »externe Faktoren« eine bedeutende Rolle: in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts war das der Klassenkampf; im »Kalten Krieg« wurden etliche Frontstaaten von der NATO aufgepäppelt… Seit dem Volcker-Schock 1979 hat es nur noch (der ehemalige Frontstaat) Südkorea geschafft, zum »high income«-Land zu werden. Allein 1987 gab es dort mehr als 3000 Streiks und 25 bis 30 Prozent Lohnerhöhungen. Wichtiger als die Zahlen: diese Kämpfe haben die militärische Arbeitsdisziplin in den Fabriken aufgebrochen! In der Zeit danach wurde das riesige China zum »externen Faktor«, der mit Dumpingpreisen kleineren Ländern diese Möglichkeit der Entwicklung verbaute. Im Gefolge der globalen Krise 2008/9 ist nun eine Diskussion aufgekommen, ob China selber in dieser Falle steckt.12
In den Jahren des zweistelligen Wachstums war es für Unternehmer in China sehr einfach: Sie konnten weltweite Absatzmärkte mit Billigprodukten fluten, die sinkenden Löhne in den Industrieländern schufen dafür die Nachfrage. Und die Kombination von ländlichen Arbeitskräften, Maschineneinsatz und Verlängerung der Arbeitszeit garantierte ausreichende Profite.
Unter Hu Jintao gab es durchaus Bemühungen, den Lohn- und Konsumanteil zu erhöhen; es war die Rede davon, Industriegewerkschaften nach deutschem Vorbild einzuführen.
Die Auswirkungen der globalen Krise 2008 ff. versuchte man mit massiven staatlichen Investitionsprogrammen aufzufangen, und noch nach dem Hondastreik 2010 wurde in Guangdong kurz mit Betriebsgewerkschaften experimentiert.
Aber der Übergang zum »qualitativen Wachstum« hätte tiefgreifende Veränderungen erfordert – oder sogar hervorgerufen. Die Löhne müssten nicht nur stärker als das BIP sondern auch stärker als die Unternehmensgewinne steigen. Zur Senkung der Sparquote müssten die soziale Absicherung und das Arbeitsrecht umgekrempelt und durchgesetzt werden (sowie das Mietrecht und anderes). Das alles in einer globalen Krisensituation, in der die hohen Wachstumsraten der letzten beiden Jahrzehnte nicht mehr möglich waren. Und dann noch vor dem Hintergrund scharfer Klassenkämpfe im Innern...
Als Xi 2012 Hu ablöste, wurden die Experimentierfreudigen bald in Rente geschickt. Der Lohn- und der Konsumanteil am BIP waren zwischen 2010 und dem Wirtschaftseinbruch 2015/6 u.a. als Folge der Streikbewegung gestiegen, Xi konnte den Wirtschaftseinbruch jedoch zur Konsolidierung seiner Macht nutzen und verschärfte die Repression. Seitdem ist der Lohn- und Konsumanteil wieder rückläufig.
Letztlich vertiefte man eine Konstellation, die Basis des chinesischen Wirtschaftswunders war: steigende Löhne bei sinkender Lohnquote (also der Anteil von Löhnen und Lohnersatzleistungen am BIP; die Lohnquote kann man als Maß für die Arbeitermacht nehmen). Sie war von 51,4 Prozent 1995 auf 43,7 Prozent 2008 gefallen. In den letzten Jahren fiel sie weiter auf etwa 40 Prozent. Und wie oben bereits dargestellt, sinken inzwischen auch die Reallöhne der unteren Teile der Arbeiterklasse. Der Zug ist abgefahren, stärkere Autonomie für Betriebsgewerkschaften oder gar unabhängige Gewerkschaften sind gegenwärtig unvorstellbar.13
Laut Asiatischer Entwicklungsbank sind drei Dinge wesentlich, um der Mittleren Einkommensfalle zu entkommen: Effektivierung der Arbeitsprozesse, neue Märkte, um das Exportwachstum aufrechtzuerhalten und Steigerung der Binnennachfrage. Der jüngste Neuaufguss der Wirtschaftspolitik als »Wirtschaft der zwei Kreisläufe« steigert die Binnennachfrage allerdings weiterhin durch eine gefährliche Mischung aus Verschuldung und Immobilienblase; nach wie vor fließen viele staatliche Gelder in Infrastrukturprojekte von zweifelhaftem Nutzen. Und wir haben rausgearbeitet, dass diese staatliche Wirtschaftspolitik die Entwicklung des Binnenmarkts durch Lohnsteigerungen/Massenkonsum sogar verbaut.
Chinas größter Konkurrenzvorteil in der Phase schnellen Wachstums blockiert die von allen BeraterInnen geforderte »qualitative Entwicklung«.
Das Hukou-System ist dem Bantustan-System im Apartheids-Südafrika ähnlich: Arbeiter wurden dorthin geholt, wo man sie brauchte, während ihre Familien und Kinder dort bleiben mussten, wo Reproduktion und Lebenshaltung billig waren. Das hat ein enormes Stadt-Land-Gefälle bei den Löhnen geschaffen und aufrechterhalten. Mit dem Hukou-System hat der Staat den Unternehmen eine billige Arbeitskraft garantiert; deshalb konnten diese sich Investitionen zur qualitativen Verbesserung der Arbeitsprozesse sparen. Der niedrige Grad formaler Bildung der älteren Arbeiter ist mehr Folge denn Ursache dieser ökonomischen Entwicklung. Südafrika ist übrigens eines der bekanntesten Beispiele für Länder in der »middle income« Falle! Das Hukou-System wurde jüngst lediglich in den kleineren Großstädten mit wenig Industrie und Jobs gelockert; die 22 Städte ersten und zweiten Grades haben den Zuzug sogar noch erschwert.
»Sobald der Pool günstiger Arbeitskräfte vom Land erschöpft ist … sind andere Eigenschaften gefragt. Von diesem Moment an müssen effizientere Produktionsverfahren angewandt, hochwertigere Güter produziert und die eigene Forschung und Entwicklung vorangetrieben werden, um die nächste Entwicklungsstufe zu meistern« schrieb die Wirtschaftspublizistin und ehemalige China-Korrespondentin Elisabeth Tester in einer China-Spezialausgabe des Schweizer Monat (Elisabeth Tester »Middle Income Trap« Oktober 2018). Aber sie täuscht sich! Wenn der Pool günstiger Arbeitskräfte bereits erschöpft ist – und man nicht viele Millionen ausländische Arbeitskräfte ins Land holen will – ist es bereits zu spät!
China ist den Ratschlägen zur Vermeidung der Middle Income Trap gefolgt (Bildung, Forschung, Infrastruktur…). Aber formale Bildung schafft noch keine passenden Jobs; Spitzenforschung und Raketen zum Mars sorgen nicht dafür, dass die industrielle Massenproduktion effektiviert wird.
Die technische Aufholjagd bei Telekommunikation, Elektroautos, Hochgeschwindigkeitszügen, Computerchips, Luft- und Raumfahrt, Quantencomputer usw. funktioniert als Importsubstitution, aber weniger zur Erschließung neuer Märkte. China kann auch gar nicht hoffen, dass der Rest der Welt weiter wachsende Exporte ohne Importzuwächse aufzunehmen bereit ist. Auch die Roboterisierung erweist sich als schwieriger als im Industrieplan Made in China 2025 anvisiert.14 Die Total Factor Productivity, ein Maß, mit dem die VWL wachsende Produktivität zu bestimmen versucht, wuchs vor 2010 jährlich um vier Prozent, danach um ca. zwei Prozent und zuletzt laut Weltbank nur noch um 0,7 Prozent. Ferner wuchert die Kontrolltechnologie und das Geschäft mit Sicherheitsdiensten, die null gesellschaftlichen Nutzen abwerfen.
China scheitert an dem, was die VWL »Effektivierung der Arbeitsprozesse« nennt. Es fehlt an der Produktivität der Industriearbeiterklasse. Die hunderttausenden jungen Arbeiterinnen, die bei Foxconn und anderswo sehr profitabel eine Technologielücke ausgefüllt haben, haben sich dabei die Augen runiert, aber keine Qualifizierungen erworben, »um die nächste Entwicklungsstufe zu meistern«. Chinas Fabriken sind im autoritären »vor-gewerkschaftlichen Fordismus« (Gambino) hängen geblieben – und werden deshalb auch von jungen Proleten gemieden.
China steckt in der »middle income« Falle. Im Gegensatz zu Südkorea haben bisher die Herrschaftsstrukturen die Arbeiterkämpfe politisch besiegen können, ohne sich dabei selber verändern zu müssen. Autoritäten wurden nicht beseitigt, die Arbeitsbedingungen nicht verbessert – deshalb stagniert die Produktivität! Die Mechanismen des Machterhalts blockieren die inneren Widersprüche um den Preis des Auf-der-Stelle-Tretens. Die Ökonomieprofessorin Eva Paus beschreibt die Situation der Länder in der Mittleren Einkommensfalle als ‘Red Queen Effect’: wie die Rote Königin in Alice hinter den Spiegeln müssen solche Gesellschaften immer schneller rennen – nur um am selben Platz zu bleiben und nicht abzurutschen. Das Stichwort »Neijuan« erfasst die Situation somit recht treffend!15
Neben »Made in China 2025« war auch die Seidenstraße ein Versuch, der Middle Income Trap zu entkommen, aber auch sie dümpelt dahin.... Etliche afrikanische Länder haben die Zahlungen an China ausgesetzt oder werben um Schuldenerlass. Die Kreditvergabe rund um das Mammutprojekt ist seit 2016 von ca. 75 Mrd. Dollar kontinuierlich auf einen Tiefstand von 4 Mrd. Dollar 2020 gesunken. Das hängt an mangelnder Wirtschaftlichkeit, Corona-Reisebeschränkungen und politischen Spannungen; vielerorts lassen die versprochenen chinesischen Großinvestitionen weiter auf sich warten. Berichte über Arbeitsbedingungen in chinesischen Betrieben in Serbien u.a.m. beschädigen den Ruf weiter. Viele Projekte der Seidenstraße werden fortgeführt, aber die geweckten hohen Erwartungen nicht erfüllen.
Die Seidenstraße ist kein win-win für alle Beteiligten, wie es die Rosaluxemburg-Stiftung halluziniert. Sie ist auch keine teuflische Strategie Chinas, die Länder gezielt in die Schuldenfalle zu locken. Pettis sieht in den Schuldenproblemen vieler Projekte banale Anfängerfehler, wie sie bei ausgreifenden Mächten vorkommen.16
Bis vor wenigen Jahren war das USA-Bild in China, trotz Antiamerikanismus, überwiegend positiv. In Bezug auf privaten Wohlstand, Konsum, Rechtssicherheit und Geschlechtergleichstellung stellten die westlichen Industrieländer einen Zielzustand dar. Der vielfache Wunsch nach einem Auslandsstudium in den USA, das Schwärmen für Hollywood und diverse US-Marken waren Ausdruck, der Brain drain in die USA Folge davon. Dem gingen jahrzehntelange Bemühungen des Westens voraus, mit Kulturgütern, NGOs, Sport u.ä. die innenpolitische Entwicklung in China zu beeinflussen. Und nicht erst seit Xi wird die chinesische Gesellschaft Schritt für Schritt gegen diese Einflüsse abgedichtet. Neben Kultur und »ausländischen Agenten« (NGOs) geht es dabei auch um richtige Agenten: 2010 wurden mehrere Spionagefälle aufgedeckt. Öffentlich wurden sie als Korruptionsfälle dargestellt, um das peinliche Eingeständnis zu vermeiden, dass die CIA etliche Einflussagenten in Partei und Militär hatte, denen sogar die Schmiergelder für Beförderungen bezahlt worden waren.
Hätte Xi nicht mit der fortgesetzten Antikorruptionskampagne, der Machtübernahme in Hongkong, Verschärfung von Zensur und Überwachung, Visumsbeschränkungen, Kontrolle von NGOs und ganz allgemein mit Ausweitung der Repression eingegriffen, wäre die kulturelle und ideologische Macht der Partei heute stark aufgeweicht (und der Staat von Spionen durchsetzt).
Im Zuge des Handelskriegs mit Trump konnte der Brain Drain chinesischer Studis Richtung USA lediglich verlangsamt werden. Erst die Pandemie hat die Trendwende gebracht: ca. 700 000 Chinesen sind im Jahr 2020 aus dem Ausland zurückgekehrt. Die hohen Infektions- und Todeszahlen insbesondere in den USA sind eine Gelegenheit für die chinesische Propaganda, das eigene System als überlegen darzustellen: »Der Osten steigt auf, der Westen steigt ab.« Und das wird von ganz vielen geglaubt und weitergetragen. Selbst ein paar Bauern, die mich in ihrem Dorf zum Essen einluden, erklärten mir auf die Frage nach meiner Herkunft hin, dass Deutschland (gegenüber China) gut sei, aber neben den USA und England mittlerweile auch Frankreich nicht mehr, und dass in China das Leben an erster Stelle komme. Zhongguo hen niu, China ist super, wie mein Kollege sagt.
Auch wenn es weiterhin so aussieht, als gehe es vor allem um die Ablenkung/Mobilisierung der eigenen Bevölkerung: China rüstet kräftig auf. Beim Volkskongress im März rief Xi die Armee zur »Kampfbereitschaft« auf (woraufhin US-Militärs vor einem Überfall Chinas auf Taiwan warnten). Mit tausend den Globus umspannenden Stützpunkten werden die USA noch lange Zeit militärisch überlegen sein. Aber China nimmt aktiv am Rüstungswettlauf teil, von der Zahl der Kriegsschiffe und Bruttoregistertonnen ist seine Kriegsflotte die größte der Welt und soll in nächster Zukunft noch von 300 auf ca. 425 Schiffe einschließlich 90 U-Booten und mindestens sechs Flugzeugträgern ausgebaut werden. Das blamiert die Hoffnung von Arrighi und anderen, aus Chinas Geschichte könne man ableiten, dass es notwendig ein friedfertiger Hegemon werde.
Zahlreiche Linke und Liberale in westlichen Ländern entwickeln aus der Ablehnung eines neuen Kalten Krieges eine große Sehnsucht nach guten Neuigkeiten aus China. In ein paar kleine Streiks wird dann die Rückkehr des Klassenkampfs reingelesen, in Xi‘s Propaganda-Versprechen von CO2-Neutralität wird die Rettung des Planeten hineinfantasiert. (Nebenbei: wer würde denn im Polizei- und Zensurstaat überprüfen können, ob das Versprechen tatsächlich erfüllt wurde? siehe die Behinderungen der WHO bei ihrer Suche nach dem Ursprung des Virus!) Der Linken im Westen sollte klar sein, dass es organisierte Gruppen, Zeitschriften, öffentliche Debatten und Treffen nur dort geben kann, wo man die eigene Ablehnung der öffentlichen Ordnung zumindest halbwegs frei ausdrücken darf. Eine Linke in dieser Form gibt es in China nicht. Hier kommt frau schon in die Psychiatrie, wenn sie ein Poster von Xi mit Tinte verziert.17
Auch aus diesen Gründen ist der wohlklingende Aufruf »gegen einen neuen Kalten Krieg« von Antikriegsbündnissen und chinesischen Nationalisten in den USA und anderswo (ein Beispiel: nocoldwar.org) leider unwirklich und naiv; auch Prominente des staatlichen Propagandafernsehens haben ihn unterzeichnet – aber niemand von ihnen würde je Militarismus und Nationalismus in China kritisieren. Auch die Webseite Qiao Collective ist ein solcher falscher Hase, auf Englisch gegen Krieg, aber in China würden sie nie gegen das Säbelrasseln der KPCh demonstrieren. Sie sind offen patriotisch, rechtfertigen Polizeigewalt in Hongkong und das Massaker auf dem Tiananmenplatz, leugnen die Lager in Xinjiang…, warum werden sie überhaupt als Linke angesehen? Viele chinesische Nationalisten bedienen sich linker, internationalistischer oder Neoliberalismus-kritischer Floskeln, vertreten aber Autoritarismus. Sie benutzen »Sinophobie« als Kampfbegriff, um jede Kritik an China als Rassismus zu brandmarken - während sie gerade ein Regime verteidigen, das eben nicht auf universalistische Werte und eine grundsätzliche Ablehnung von Rassismus gegen jedwede Gruppe setzt.
Im September 2020 behauptete ein maoistisches Onlinemagazin, das sich an Arbeiter richtet, in einem Artikel über Corona, in China habe es keine Covid-Ausbrüche in Fabriken gegeben, aber in den USA, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien usw. »Kapitalisten geht es nur um Profit, das Leben der Arbeiter ist ihnen egal.« Dabei kam es auch in chinesischen Fabriken zu Covid-Infektionen. Was kapitalismuskritisch klingt, kippt leicht in nationalistische Propaganda um. Wer für solche Leute Texte über die Epidemie in Europa übersetzt oder Soliproteste im Ausland organisiert, muss damit rechnen, für die Propagierung von Nationalismus eingespannt zu werden.
Ich kenne jedoch viele ChinesInnen, die sich überhaupt nicht abschotten wollen und sich im Gegenteil gemeinsam dagegen wehren. Mit ihnen können wir nur zusammen kämpfen, wenn wir Nationalismus und Autoritarismus kritisieren und dem (pseudo-)linken Phrasendreschen nicht auf den Leim gehen.
Dazu sind drei Dinge nötig: 1) die antiimperialistische Brille absetzen: Nationalismus und Ausbeutung kritisieren; 2) die Fokussierung auf die Mittelschicht ablegen; 3) kulturelle Phänomene im gesellschaftlichen Zusammenhang bewerten.
1) Die kapitalismuskritische Linke außerhalb von China muss endlich verstehen, dass die KPCh keine bessere Alternative zum liberalen Kapitalismus zu bieten hat. Aus Sicht eines Lohnabhängigen ist China längst kapitalistisch – verbunden mit einem hohen Maß an Repression und autoritärer Willkür!
Die Kämpfe der Arbeiterklasse in Südkorea wurden in den 90er Jahren mit Demokratisierung und Gewerkschaften politisch ausgebremst, haben sich aber »ökonomisch ausgezahlt«. Die Arbeiterklasse in China wurde mit Zensur, Willkür und Gewalt gestoppt; sie wurde politisch und ökonomisch marginalisiert.
Können unter den heutigen Bedingungen massive materielle Verbesserungen erkämpft werden – in deren Gefolge dann auch so was wie ein Rechtsstaat entsteht? Oder muss erst der Teufelskreis von Zensur, Propaganda und Willkür aufgebrochen werden, damit wieder gemeinsame Kämpfe möglich werden? Hier in China sind beide Ebenen gerade massiv ineinander verzahnt. Wer das nicht versteht, wird sich nur weiter blamieren, wie die Zeitschrift Konkret, die Hongkonger Polizeiknüppel gegen die »Pegida von Asien« feierte.
Die Werkbank der Welt wird von chinesischen Bossen kontrolliert. Von den niedrigen Löhnen und langen Arbeitstagen profitiert in erster Linie die herrschende Klasse in China, und der Gegendruck muss von Chinesen vor Ort kommen. Dies wird sehr häufig missverstanden, wenn z.B. gesagt wird, chinesische Arbeiter zahlten den Preis für die globale Nachfrage nach Masken. – Ihre geschundenen Körper zahlen für lange Arbeitstage, hohes Tempo und schlechte Bedingungen, aber nicht für die lokale oder globale Nachfrage! Als Lohnabhängige leiden wir unterm Zwang zu arbeiten und unter den Arbeitsbedingungen, aber nicht darunter, dass uns jemand Lohn für unsere Arbeitskraft anbietet.18
2) Wenn reiche Mittelschichts-Hauseigentümer gegen Reformen am Immobilienmarkt protestieren, ist das auch interessant, kann man sich alles angucken… Aber man muss keine besondere Ausschau danach halten und erst recht nicht sich um Solidarität mit Leuten bemühen, die wahrscheinlich treffend als BMW- oder Porsche-Fahrer mit Standesdünkel beschrieben werden können. Die gehobene Mittelschicht in China, die mittlerweile westliche Lebensstandards hat, kommt für uns wohl nicht einmal als Bündnispartner in Betracht! (Sie sind da übrigens ganz materialistisch: westliche Demokratien würden ihnen keinerlei Vorteile bringen.)
Aus der Mittelschicht stammen auch etliche »Helden« der Bewegung. Die KPCh lobt seit jeher »Helden der Arbeit« oder »Helden im Kampf gegen die Pandemie« aus und ihre Macht geht soweit, dass sie sogar die »Helden der Opposition« bestimmen kann. Das geht so: Wichtige Aktivisten in NGOs oder anderen gesellschaftskritischen Kreisen werden verhaftet, um an ihnen ein Exempel zu statuieren; die (oftmals linksmaoistischen) Unterstützer organisieren dann eine Soli-Kampagne für die Inhaftierten und feiern diese als Vorbilder und Helden. Das macht die Beiträge aller anderen »Nicht-Helden« unsichtbar und verschärft Hierarchien. Wir brauchen nicht einzelne Helden, sondern breite und egalitäre Solidarität!
3) In einem Protest von Chinesen sehen ausländische Demokraten oft den Anfang von fundamentalem Aufbegehren gegen das »Unrechts-Regime«, während es den Teilnehmern tatsächlich um die Rückerstattung von Schulgebühren oder Lohnzahlungen geht. Das basiert auf dem Missverständnis, die Menschen in der Diktatur würden permanent unter der Diktatur als solcher leiden (auf solchen »wohlmeinenden« Paternalismus stoßen auch Freunde aus Festlandchina, wenn sie – durchaus mit Neugierde – nach Hongkong oder Taiwan reisen und dann als gehirngewaschen oder ahnungslos bevormundet werden). Zunächst einmal leiden Menschen in China wie überall sonst unter niedrigen Löhnen, teuren Mieten, ätzenden Chefs, Sexismus u.a. Aus ihrer Sicht geht es daher erstmal um höhere Löhne, soziale Absicherung, günstigere Wohnung, Abwehr von Willkür… um konkrete Probleme und Verbesserungen und nicht um abstrakte Prinzipien und politische Freiheiten, und bisher auch nicht um die Revolution.
Westler, die davon enttäuscht sind, haben sich in den letzten Jahren auf chinesische Subkulturen geworfen. Sie übersehen dabei oft den starken individualistischen Charakter, der geradezu die andere Seite der Medaille ist. Man nimmt die Ausdehnung des Arbeitstages hin und rächt sich mit »Fischen im Trüben«, (Hunshui)Moyu, Arbeitsbummeln.19 Das sind Formen individueller Abschottung (eben Neijuan!).
Eine größere Bedeutung haben soziale Veränderungen durch die Frauen. Wie in vielen Ländern findet auch in China eine stille Geschlechterrevolution statt. Frauen stecken den größeren Teil der Uniabschlüsse ein, bleiben aber weiterhin in Industrie und Gesellschaft stark unterrepräsentiert. In einer typischen Schule haben die Lehrer einen BA von einer mittelmäßigen bis untermittelmäßigen Uni, die Lehrerinnen kommen von Top Unis und viele mit MA. Bei mir auf Arbeit ist das ähnlich.
Derweil ist die Frauenerwerbsquote seit den 90ern von 75 auf 60 Prozent gefallen. Auch für Frauen mit Kindern hat keine adäquate Entwicklung von Arbeitsplätzen und des Erziehungssystems stattgefunden, die es ihnen erlaubt, Lohnarbeit und Kindererziehung zu verbinden. Erziehungs- und Haushaltsaufgaben sind zwischen Frauen und Männern keineswegs gleich verteilt. Immer mehr junge Frauen bleiben lieber Single oder unverheiratet, als ihre Autonomie für eine wenig erquickliche Ehe und Familie aufzugeben (und das in einer Situation von großem Frauenmangel!). Irgendwann hält das patriarchale Bollwerk diesem Wandel nicht mehr stand. Für die meisten Männer sind die traditionellen Rollenanforderungen schon jetzt nicht mehr erfüllbar. Die aktuell grassierende sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Familien, auf Arbeit und sogar in gesellschaftskritischen Zirkeln sehe ich auch als Reflex auf diese Entwicklung.
In der Wildcat 103 bin ich noch von einer Konvergenz der Gesellschaften im Westen und in China ausgegangen und habe das an der Privatisierung von Bildung, wachsender Ungleichheit, Wohnungsverteuerung u.ä. festgemacht. Es werden sich weiterhin viele auch neue, ähnliche gesellschaftliche Phänomene in China und im »Westen« finden lassen, aber angesichts der Politisierung der Wirtschaft, der Abschottung der Gesellschaft und der Unterdrückung von egalisierenden und universalistischen gesellschaftlichen Kräften möchte ich die grundsätzliche Frage aufwerfen, ob »Konvergenz« oder »Angleichung der Systeme« noch ein sinnvoller Blickwinkel auf die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung in China ist?
Im Dezember wurden auf der Zentralen Wirtschaftskonferenz die »fünf fundamentalen Aufgaben« verabschiedet und beschlossen, dass für 2021 Sicherheit Priorität vor Entwicklung genießt – kein Indikator für eine Lockerung.20 Ob die Olympischen Winterspiele in Beijing im Frühjahr 2022 tatsächlich wie geplant stattfinden, wird sich zeigen. Mal sehen, wieviel internationale Öffentlichkeit China dann ins Land lässt; oder die Abschottung der Gesellschaft und damit einhergehend Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus werden sogar noch weiter verschärft. Vielleicht tun sich auch mit Abklingen der Pandemie wieder neue Gelegenheiten auf, aber im Moment bleibt es schwierig.
Weder eine abrupte Erschütterung der Finanzen noch der politischen Ordnung erscheinen unter Xi wahrscheinlich, naheliegend ist die fortgesetzte Repression und Militarisierung um den Preis der Stagnation. Xi und die KPCh erscheinen übermächtig, das verbreitet ein Gefühl von lähmender Ohnmacht.
Während die politischen Verhältnisse stabil scheinen, hat sich die Arbeiterklasse stark verändert, im Schnitt ist sie gealtert, die Jungen meiden die Fabriken, sind örtlich mobiler, haben die Schrecken von Hunger nicht am eigenen Leib erfahren, viele haben deutlich länger die Schulbänke gedrückt und langweilen sich auf der Arbeit; die Paket- und Essensauslieferer, die Bauarbeiter … werden auch in Zukunft gegen Lohnrückstände protestieren – auch wenn solche Konflikte lokal bleiben.
Die Widersprüche sind so klaffend, die Ungleichheit so schreiend und die junge Generation denkt so pessimistisch über ihre eigene Zukunft und ihren Platz in der Gesellschaft, dass sich die Frage stellt, wie lange die politische Stabilität noch durch übermäßigen Ressourcenverbrauch und die Blockierung von Veränderungen aufrechterhalten werden kann.
[1] siehe Wildcat 104, »996« bedeutet von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, und 6 Tage die Woche arbeiten
[2] Tiffany May, Amy Chang Chien: Slouch or Slack Off, This ‘Smart’ Office Chair Cushion Will Record It. New York Times, 12.1.21
[3] Africans in Guangzhou: misunderstanding, discrimination, and communication. Veröffentlicht auf Youtube am 18.8.2020
[4] s. »Dokument Nr. 9« auf wikipedia
[5] Haifeng Huang und Nicholas Cruz: Propaganda, Presumed Influence, and Collective Protest. Political Behaviour, 8.1.2021. Die Zeitschrift findet sich unter www.springer.com/journal/11109 »… We test this indirect mechanism of propaganda using a survey experiment with Chinese internet users … they believe that propaganda reduces other citizens’ willingness to protest, which in turn reduces their own willingness to protest….« siehe auf Deutsch die Besprechung in der Süddeutschen: »Wieso selbst billige Propaganda wirkt« Süddeutsche Zeitung, 15. Februar 2021
[6] Div.: Excess mortality in Wuhan city and other parts of China during the three months of the covid-19 outbreak: findings from nationwide mortality registries. The bmj, 11.2.2021. www.bmj.com
[7] Wan Haiyuan, Meng Fanqiang: China Has 600 Million People With Monthly Income Less Than $141. Is That True? Caixin, 6.6.202.
Zu meinen eigenen Berechnungen: Der Bericht gibt die Zahl der Personen für bestimmte Einkommensgruppen an, z.B. dass 202 Mio. ein monatliches verfügbares Einkommen p.P. von 500-800 RMB beziehen. Ich habe Durchschnittswerte abgeschätzt und diese gewichtet aufsummiert und mich so der Gesamtsumme aller verfügbaren Haushaltseinkommen angenähert. Letzteres lässt sich jedoch nicht sinnvoll ermitteln, weil die Einkommen des reichsten Prozentils nicht genau bekannt sind. Für den Privatkonsum spielt dieses Prozentil aber keine entscheidene Rolle, sie können gar nicht alles Geld aufessen, daher kappe ich oberhalb einer bestimmten Summe. Die Gesamtsumme reduziere ich um eine Sparquote ca. 20-35% und den Zinsdienst von ca. 10-15% und erhöhe dies um die jährliche Neuverschuldung von 9%.
zu Piketty siehe: World Inequality Database, www.wid.world
Michael Pettis: What Is GDP in China? 16.1.2019
[8] Dorcas Wong: China’s City-Tier Classification: How Does it Work? www.chinabriefing.com, 27.2.2019
[9] David Bandurski: Propaganda Soars Into Orbit. 29.1. 2021. https://chinamediaproject.org Nicholas Eberstadt: China’s Demographic Prospects to 2040: Opportunities, Constraints, Potential Policy Responses. www.hoover.org , 29.10. 2018 Beijing claims victory in poverty fight, SCMP 18.11.2000.
[10] s. den Dokumentarfilm »Chinas unaufhaltsamer Aufstieg: Die Welt des Xi Jinping« von 2019
[11] Quellen zu Xinjiang
Rémi Castets: Bleierne Zeit in Xinjiang. Le monde diplomatique, 07.03.2019
Interview mit Darren Byler: An der Seite der Unterdrückten. Zu Kolonialismus und Terror-Kapitalismus in Xinjiang. https://nqch.org
Exklusive Einblicke: Wie China die Uiguren bekämpft. Dokumentation des WDR, zu finden auf youtube.
Zu VW: Does VW profit from Uighur forced labor in Xinjiang? DW News, 12.11.2020.
VW boss ‚not aware‘ of China‘s detention camps. Bbc.com, 16.4.2019
Darren Byler: ‘Only when you, your children, and your grandchildren become Chinese’: Life after Xinjiang Detainment. 6.1.21 https://supchina.com
[12] Zum qualitativen Umschlag durch den Klassenkampf in den 1930er Jahren siehe Ferruccio Gambino: Kritik am Begriff des Fordismus, wie ihn die Regulationsschule benutzt
[13] Zum Vergleich: in den 35 entwickeltsten Industrieländern fiel die Lohnquote von 54 Prozent 1980 auf 50,5 Prozent 2014; für den Vergleich muss man allerdings bedenken, dass der tatsächliche Konsum der Arbeiter in China wegen der hohen Sparquote und Privatverschuldung noch niedriger ist.
Die Sparquote in der BRD liegt bei relativ hohen 12-15 Prozent, die Privatverschuldung als Anteil am Einkommen ist deutlich geringer, der Zinsdienst also deutlich niedriger als in China, wo ja ca. 20-30 Prozent Sparquote plus 10-15 Prozent Zinsdienst vom Lohn abgehen. Die hohe Sparquote ist neben der fehlenden sozialen Absicherung auch den Familienstrukturen geschuldet; die Eltern müssen dem Sohn eine Wohnung kaufen, sonst findet er keine Frau… Ausführlicher dazu siehe Wildcat 103
[14] Cissy Zhou: China‘s robotics revolution falls behind target. SCMP, 20.2.21.
[15] Quellen zu Middle Income Trap:
Gill, I., & Kharas, H. An East Asia renaissance; 2008
-zur Meinung der asiatischen Entwicklungsbank: Rajat M. Nag: Realizing the Asian Century. Rede vom 18.10.2011, auf https://www.adb.org
- als Beispiel dafür, dass der KPCh das Problem durchaus bewusst ist: »China May Be Running Out of Time To Escape the Middle-Income Trap« berichtet über ein Treffen zwischen Obama und Xi Jinping im Jahr 2013, bei dem Xi seine Hoffnung darlegte, dass China der middle-income Falle entgehen könne: China May Be Running Out of Time To Escape the Middle-Income Trap auf https://asiasociety.org
- zum ‘Red Queen Effect’ siehe Nahee Kang & Eva Paus: The Political Economy of the Middle Income Trap (2020). Und wer es ganz genau wissen will: die Red-Queen-Hypothese stammt ursprünglich aus der Biologie; s. wikipedia
[16] Quellen zur Seidenstraße: Sklavenähnliche Verhältnisse in chinesischem Staatsbetrieb in Serbien. https://www.forumarbeitswelten.de, 28.1.21
Rosa-Luxemburg-Stiftung: Die Neue Seidenstraße – Über ein Megaprojekt, das Welt macht. Maldekstra 9
[17] Mimi Lau: China’s ‘Ink Girl’ who defaced Xi Jinping poster allowed to contact father after protest. SCMP, 2.12.20.
[18] China’s workers pay the price for growing global demand for face masks.China Labour Bulletin, 4.8.20.
[19] Ein netter Artikel dazu: Fische anfassen, 6.1.21
[20] siehe China will mit Maßnahmen neue Wachstumsphase einleiten, http://german.china.org.cn, 21.12.20