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21.10.2023

aus: Wildcat 112, Herbst 2023

Editorial

Herr K. fährt Auto und macht Radio

Herr K. hatte gelernt, Auto zu fahren, fuhr aber zunächst noch nicht sehr gut. »Ich habe erst gelernt, ein Auto zu fahren«, entschuldigte er sich. »Man muss aber zwei fahren können, nämlich auch noch das Auto davor. Nur wenn man beobachtet, welches die Fahrverhältnisse für das Auto sind, das vor einem fährt, und seine Hindernisse beurteilt, weiss man, wie man in Bezug auf dieses Auto verfahren muss.«

Bertolt Brecht unterschied deshalb zwei Typen von Autofahrern. Der eine kennt die Verkehrsregeln gut, weiß, wie er sein Auto gut und schnell durch den Verkehr bringt. Der andere geht anders vor. Er fühlt sich als Teilchen eines lebendigen Systems. »Er nimmt nicht seine Rechte wahr und tut sich nicht persönlich besonders hervor. Er fährt im Geist mit dem Wagen vor ihm und dem Wagen hinter ihm, mit einem ständigen Vergnügen an dem Vorwärtskommen aller Wägen und der Fußgänger dazu.« Das Teilnehmen am Straßenverkehr wurde bei Bertolt Brecht zur Metapher für das gemeinsame Vorankommen. (Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag 2006, S. 128.)

Heute sind die USA an dem Punkt, dass einer von 25 Fünfjährigen seinen 40. Geburtstag nicht erleben wird. Überdosen, Waffengewalt, Suizide sind die häufigsten Todesursachen. Auf Platz vier »Unfälle durch gefährliches Fahren«! Der Blick auf den und das Verhalten im Straßenverkehr hat sich seit Brecht radikal gewandelt.

Musks Cybertruck – das Auto für eine menschenfeindliche Welt:
Fenster aus Panzerglas, die Karosserie ultrahart und spitzkantig: Teslas Cybertruck ist ein Albtraum für die Verkehrssicherheit und ein Extremfall des Trends, den Straßenverkehr zu militarisieren. Quelle: Wikipedia
Fenster aus Panzerglas, die Karosserie ultrahart und spitzkantig:
Teslas Cybertruck ist ein Albtraum für die Verkehrssicherheit und ein Extremfall des Trends,
den Straßenverkehr zu militarisieren. Foto: Wikimedia

Als vor einem Jahr Hans Magnus Enzensberger starb, war dessen Rolle des »öffentlichen Intellektuellen« schon lange verschwunden. Die technokratische Expertise der Thinktanks ist an deren Stelle getreten. Im Fernsehen treffen Berliner Politiker und Berliner Journalisten auf Berliner Denkfabriken, andere soziale Realitäten, andere politische Meinungen kommen nur am Rand vor. Diese »Totalisierung der Expertise« denunziert Widerspruch als »populistisch« und »verschwörungstheoretisch« - und treibt ihn damit in die Arme eben dieser »Populisten«.

1970 hatte Enzensberger in seinem Essay Baukasten zu einer Theorie der Medien, Brechts Radiotheorie weiter entwickelnd, noch einen Weg zu zeigen versucht, wie die elektronischen Medien von Distributions- zu Kommunikationsapparaten werden könnten: aus individualisierten Rezipienten müssen kollektive Produzenten von Medieninhalten werden, die der staatlichen (damals gab es noch keine andere) »Bewusstseinsindustrie« ihr Monopol streitig machen.

Heute ist das Sender-Empfänger-Monopol in den Sozialen Medien tatsächlich aufgehoben – um den Preis der Individualisierung.

Wir gehen im Heft ausführlich auf die Versuche von »Big Tech« ein, mit »Künstlicher Intelligenz« ein neues Geschäftsmodell zu pushen, mit dem sie aus der Krise dieser »Sozialen Medien« rauskommen und die Ernte ihres jahrzehntelangen Datenraubs einfahren können. Spoiler: Auch die KI wird unsere Verkehrsprobleme nicht lösen! 1971 wurde in Stanford das erste »autonom fahrende« Auto vorgestellt. Ein halbes Jahrhundert später verursachen Teslas tödliche Unfälle. Es gäbe andere Lösungen, zum Beispiel das vernetzte Fahren mit zentraler Intelligenz; das würde zudem Energie sparen – aber die Autoindustrie will das nicht. Wo wäre denn da noch das Alleinstellungsmerkmal? Lieber Tote in Kauf nehmen. Verkehrs- und Digitalminister Wissing tönt: Ein Tempolimit auf Autobahnen sei gleichbedeutend mit »der Abschaffung des Autos«; wer so etwas fordere, ignoriere »die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen im Land«. Als ob ein FDPler von der was wüsste!

Der Kapitalismus frisst seine Infrastruktur auf. Gesundheitswesen, Bildung, Bahn… Porschefahrer und Privatflieger stellen sich die Bahn als Punkt-zu-Punkt-Verbindungen zwischen den Zentren vor. Es geht aber um Netze und Zusammenarbeit.

Im Heft beschreibt ein Lokführer die Situation bei der Bahn und die Rolle der privaten Verkehrsbetriebe.

Ausführlich gehen wir auf den Streik der Fernfahrer in Gräfenhausen ein – die mit allen der soeben angesprochenen Probleme direkt zu tun haben. Wir kommen nochmal auf die neue Distanziertheit gegenüber der Arbeit zu sprechen – einem der größeren Hoffnungsschimmer für den Planeten. Und wir behandeln die noch laufenden Streiks in den USA: den der Autoarbeiter und den der Schauspielerinnen: den ersten Streik gegen KI.

Das Heft beginnt mit einer Analyse der postfaschistischen Regierung in Italien: Ist Italien mal wieder Vorreiter wie vor 100 Jahren? Ist die Meloni-Regierung ein »Modell für Europa«, wie Manfred Weber von der CSU meint?

Das aktuelle Elend hat eine lange Vorgeschichte:

Vor 50 Jahren:
Am 11. September 1973 Putsch in Chile (siehe S. 2 ff.)
Am 17. Oktober 1973 erhöhte die Opec in Reaktion auf den Yom-Kippur-Krieg den Ölpreis von rund drei auf über fünf US-Dollar pro Barrel. In der Folge kam es zu Benzinrationierungen, autofreien Sonntagen und zweistelligen Preissteigerungen.

Vor 30 Jahren:
Am 26. Mai 1993 beschlossen CDU-FDP-SPD den »Asylkompromiss«: massive Einschränkung des Rechts auf Asyl, Prinzip der »sicheren« Dritt- und Herkunftsstaaten, deutliche Leistungsabsenkung, Sachleistungsprinzip, Einweisung in Gemeinschaftsunterkünfte.
Am 4. Oktober 1993 ließ Jelzin das russische Parlament mit Panzern beschießen; 187 Tote, darunter Abgeordnete. US-Präsident Clinton lobte ihn dafür.
Die US-Regierung hat nach 9/11 die Welt in zwei Lager gespalten (»Mit uns oder gegen uns«, deklamierte Präsident Bush). Und sie hat danach große Teile der arabischen Welt zerstört.
Gerade als wir in Druck gehen, erlebt Israel sein 9/11…

 
 
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