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04.09.2024

aus: Wildcat 113, Spätsommer 2024

Bahn

Wir setzen unsere kleine Serie »der Kapitalismus ist kaputt« mit (gekürzten) Artikeln aus der Wildcat 113 fort. Vor einer Woche haben wir am Beispiel Boeing gezeigt, wie Auslagerungen, Kostensenkungen und Aktienkapitalismus die industrielle Basis der USA ausgehöhlt haben. Diesmal geht es darum, wie Privatisierung und Aktienkapitalismus das Eisenbahnnetz in Deutschland kaputt gemacht haben. In beiden Fällen fehlt nun auch das Arbeiterwissen, um die Situation zu retten.

Vor ein paar Tagen wurde bekannt, dass es auch in den 4000 Stellwerken der Deutschen Bahn an Personal mangelt. 2022 sind 6856 Regionalzüge aufgrund der Unterbesetzung ausgefallen, im ersten Halbjahr 2023 schon 3388. Der wirkliche Schaden geht von den Managern aus. Während sie am Zerfall verdienen, heißt es für ihre Kunden:

Die Weiterfahrt verzögert sich um wenige Monate

Mit der monatelangen Sperrung der wichtigsten Strecke (Frankfurt-Mannheim) begann Mitte Juli das größte Sanierungsprogramm in der Geschichte der Deutschen Bahn.

Das Eisenbahnnetz war eine riesige Maschine, ein Produktionszusammenhang. Nach profitorientierten Kriterien wurden alle möglichen Teile herausgenommen: Geht was laut Kosten-Nutzen-Rechnung zu oft kaputt oder wird nicht oft genug benutzt, wird es ausgebaut, nicht ersetzt oder stillgelegt. Danach werden die Mechaniker und Ingenieure abgezogen, die diese Maschine bedienen, überwachen und reparieren können. Irgendwann funktioniert der Produktionszusammenhang nicht mehr richtig. Bundesbahn und Reichsbahn waren zwei »sozialistische Moloche«, in der die oberen Etagen nie genau wussten, was die einfachen Angestellten den Tag über so treiben. Heute ist die DB ein Unternehmen, bei dem niemand weiß, warum es die diversen Chefetagen und deren riesigen Verwaltungsapparat eigentlich gibt – und die übrig gebliebenen ArbeiterInnen ihre liebe Not haben, den Betrieb aufrecht zu erhalten.

In der Wildcat 112 hatten wir die Geschichte der Bahn und ihrer Reformen zusammengefasst: Zunächst wurden die Staatsbahnen in Ost und West in diverse Aktiengesellschaften aufgeteilt, die wie Privatbetriebe funktionieren, die sich gegenseitig alles in Rechnung stellen. Mit der Auflösung der gemeinsamen Lok- und Personalpools von Fern-, Regional- und Güterverkehr endete auch die Kooperation der ArbeiterInnen über die Sparten hinweg. Dann wurden kleine Privatbahnen mit schlechteren Arbeitsbedingungen gefördert. Im dritten Schritt wurde die Infrastruktur abgebaut, das Streckennetz um rund 5000 Kilometer (fast 20 Prozent) zurückgebaut, einige Städte vom Fernverkehr nicht mehr angesteuert, die Anzahl der Weichen praktisch halbiert, der Rest wurde systematisch vernachlässigt. In der Folge waren 2024 mehr als die Hälfte aller Fernzüge unpünktlich (das ist noch geschönt, denn abgesagte Züge zählen nicht).

Welches Netz...

Die Eisenbahn als engmaschiges Netz, auf dem der öffentliche Personen- und Güterverkehr in der Fläche abgewickelt wird, ist Geschichte. Das Fachwissen, ein solches Netz zu betreiben, ging in den letzten Jahren in Rente. Das übrig gebliebene Rumpfnetz kann noch Fernverkehr mit Innenstadtanschluss (Konkurrenzvorteil zum Flugzeug) und ein wenig Nahverkehr in und um die Zentren anbieten. Auch der Güterverkehr findet nur noch auf »europäischen Korridoren« als Anhängsel der immer mächtigeren Containerschifffahrt statt. Mit dem Rückzug aus der Fläche wurden nicht nur Kapazitäts-Reserven zurückgebaut, sondern das Rumpfnetz selbst wurde massiv vernachlässigt und im Zuge der Börsenpläne auf Verschleiß gefahren. Selbst für die Vision einer »modernen Bahn«, wie sie ab den 80er Jahren mit Blick auf Frankreich und Japan ausgegeben wurde, ist dieses kaputt gesparte Netz massiv überfordert. Sein Wiederaufbau, um wenigstens einen pünktlichen Fernverkehr zu erreichen, wird Jahrzehnte dauern. Nur jedes zehnte Stellwerk ist in einem guten Zustand. Die Prognose, dass der sogenannte Deutschlandtakt frühestens 2070 (also in 46 Jahren!) kommen könnte, ist sogar noch mutig. Dass die »Generalsanierung« mit monatelangen Streckensperrungen einhergeht, liegt daran, dass es keine Reserven im Netz mehr gibt, die eine Sanierung »unter dem rollenden Rad« ermöglichen, wie es bisher üblich war.

Keiner der Verantwortlichen will ein dichtes Bahnnetz im Personen- und Güterverkehr wieder herstellen. Alle großen Neubauprojekte der letzten Jahre weisen in die entgegengesetzte Richtung und zementieren (im wahrsten Sinne des Wortes) den Rückbau der Bahninfrastruktur. Man setzt massiv auf Tunnel und riesige Brücken, dafür werden Unmengen Beton verbraucht. Es wurden Rennstrecken gebaut, deren Steigungen nur von leichten Zügen zu bewältigen sind und in deren Tunneln für die meisten Güterzüge ein Begegnungsverbot herrscht. In schnurgeraden, aber mit starken Steigungen gebauten Tunneln erhöht sich bei wachsender Geschwindigkeit der Luftwiderstand und damit der Energieverbrauch – und zwar exponentiell.

Städte und Mittelgebirge werden untertunnelt, aber nur wenige Direktverbindungen zwischen Großstädten sind schneller geworden. Obwohl die Züge immer schneller fahren, verlängert sich für die meisten Menschen in Deutschland die Reisezeit, denn sie wohnen nicht in den Großstädten. 2024 werden wieder mehr Städte vom Fernverkehr abgehängt als angeschlossen. Die Krone des ganzen ist der Rückbau des Bahnknoten Stuttgart für ein »bahnfremdes« Immobilienprojekt und wenige Minuten Fahrzeitgewinn. Mit S21 wird ein Flaschenhals im bundesweiten Fernverkehr gebaut und der Regionalverkehr in Baden-Württemberg aufs Spiel gesetzt – für mehr als elf Milliarden Euro direkte Kosten.

Die hohen Geschwindigkeiten auf den Schnellfahrstrecken erfordern sogenannte feste Fahrstraßen, bei denen der Gleisaufbau vollständig betoniert ist. Diese müssen alle 40 bis 60 Jahre neu gebaut werden, bei Verschiebungen des Untergrunds oft noch früher. Das traditionelle Schotterbett der Gleise muss zwar regelmäßiger gewartet werden, ist aber auch schnell und leicht reparierbar. Schotter kann man vollständig und mit wenig Aufwand recyceln, Abbruchbeton ist hingegen Abfall. Der Neubau einer festen Fahrbahn dauert viele Wochen, die Sanierung von Schotterbett und Schiene nur wenige Tage. Eine »Generalsanierung« mit monatelangen Sperrungen ist auf vielen Strecken auch wegen den längeren Bauzeiten der festen Fahrbahn notwendig geworden.

Die Digitalisierung soll bei sinkenden Kosten das Letzte aus dem Netz holen. Durch die digitale Sicherungstechnik ETCS sollen die Züge in dichteren Abständen fahren können und zum anderen wartungsärmere Transponder die Lichtsignale ersetzen. Die Infrastruktur für Stellwerke, Pausenräume und Bahnhöfe ist teuer – das alles muss gereinigt, gewartet und gepflegt werden. Wenige, digitalisierte Stellwerke stehen stattdessen in den Großstädten. Von hier steuert ein Fahrdienstleiter mehrere Bahnhöfe in der Region. Die örtlichen Aufsichten wurden fast komplett abgeschafft, in vielen Bahnhöfen arbeitet einfach niemand mehr. Praktisch alle Projekte der »digitalen Schiene« zielen darauf, die KollegInnen aus der Fläche zu holen und die Lücken, die das in der Überwachung und Wartung der Anlagen und Züge reißt, »elektronisch« zu stopfen. Die zunehmende Zentralisierung durch Digitalisierung macht das Bahnsystem noch unflexibler und störanfälliger. Die Intervalle für die Wartung und das Schmieren von Weichen wurden verlängert, nun sollen Sensoren melden, wenn eine Weiche Wartung benötigt. Aber Weichenschmierer, örtliche Aufsichten und Fahrdienstleiter konnten auch andere Problemstellen und Gefahren in der Infrastruktur und an Zügen sehen und direkt eingreifen. Dass KollegInnen vor Ort die Züge und Gleise beobachten, war Teil eines integrierten Systems. Vor Ort konnten auch »auf dem kurzen Dienstweg« Abläufe beschleunigt werden.

Auf wenigen »Hochleistungskorridoren« sollen mehr Züge unterwegs sein, aber immer weniger Menschen arbeiten. In der Fläche werden nur LokführerInnen als letzte betrieblich geschulte KollegInnen übrigbleiben, die die diversen Unwägbarkeiten der Umwelteinflüsse, der Reisenden und die Ausfälle der Technik allein abfedern müssen.

… braucht es für gute Arbeitsbedingungen?

Die eigenständige Kooperation der ArbeiterInnen wird weiter unterbunden. Man ist immer öfter alleine, und wo niemand ist, kann niemand helfen. Zudem tummeln sich hunderte »mittelständische« Eisenbahn-Unternehmer in diesem Rumpfnetz, die sich gegenseitig jeden Handschlag in Rechnung stellen. Noch wird das oft von unten unterlaufen. Umso kleiner die Betriebe, umso flexibler müssen die Beschäftigten sein. Lokführer und Mechaniker machen immer mehr Überstunden und werden notfalls mit Taxis und Flugzeugen durch ganz Deutschland transportiert. Loks werden ohne Zug dahinter von Hamburg nach Passau gefahren, während eine andere Teil-AG der DB oder eine kleine Privatbahn Loks von Passau nach Hamburg fährt.

Übernachtungen im Hotel und längere Schichten, auch in der Nacht, werden zur »betrieblichen Notwendigkeit«.

Auch am rollenden Material wird an Menge und Qualität gespart. Die Werkstätten reparieren oft nur das Nötigste an Loks und Zügen – nicht unbedingt notwendig sind etwa Klos und Klimaanlagen.

Im Personen-Fernverkehr enden spontan ganze Züge vorzeitig, um das Gesamtsystem zu stabilisieren. Durch volle und verspätete Züge steigt der Stress. Seit zwei Jahrzehnten werden Lücken gestopft. Arbeitsbelastung und Stress sind für alle Beschäftigten spürbar gestiegen. Weite Teile der Belegschaften haben einfach aufgegeben. Immer weniger sind bereit, die strukturellen Mängel auszugleichen – auch deswegen explodieren jetzt Verspätungen.

DB CARGO: »Komplettumbau« oder Zerschlagung?

Die Gütersparte der Bahn ist mit 31 000 Beschäftigten der größte Güterbahn-Konzern Europas und damit in einer Liga mit den Klasse-I-Güterbahngesellschaften in den USA, den größten der Welt. Aber seit 2011 ist die Produktivität um ein Fünftel gesunken, 2022 war ein Drittel der Güterzüge unpünktlich. DB Cargo macht riesige Verluste: 2020 waren es 728 Millionen Euro; 2021 dann 467 Millionen; 2022 wieder 665 Millionen, 2023 497 Millionen. Die jahrelange (politisch gewollte) Querfinanzierung durch den Mutterkonzern wird jetzt endgültig von der EU-Kommission unterbunden.

Über Jahrzehnte war der LKW-Transport hoch subventioniert zur Konkurrenz aufgebaut worden. Dadurch schrumpfte das Netz für den Güterverkehr noch stärker als das für den Personenverkehr.

Einzelwagen- und Güternahverkehr sind kaum noch möglich. Rangierbahnhöfe, auf denen Züge schnell auseinandergenommen und neu gebildet werden können, lassen sich an zwei Händen abzählen. Durch den anhaltenden Abbau fehlt zunehmend das Arbeiterwissen darüber, wie man diese Verkehre organisiert. Selbst wenn Logistikfirmen auf die Schiene verlagern wollen: Oft sind Sendungen gar nicht mehr zustellbar, weil es an Verladepunkten und Anschlussgleisen fehlt.

Einzelwagenverkehr ist durch die vielen Rangierarbeiten relativ arbeitsintensiv. Er ist der Haupttreiber für die Verluste der DB Cargo. Da viele Firmen weiterhin auf ihn angewiesen sind, wurde er aus industriepolitischen Gründen aufrechterhalten. Um einen großen und den mit Abstand schwersten Teil der Rangierarbeit zu automatisieren, wurde vor zwei Jahren erneut die europaweite Einführung der Automatischen Kupplung angekündigt. Dabei sollen die Güterwagen auch umfassend mit Sensoren ausgestattet werden, um Kontrollgänge am Zug einzusparen und die Abläufe zu beschleunigen. Europaweit müssten hunderttausende Wagen umgebaut oder ersetzt werden. Nur ein Wagen im Zug, der nicht voll ausgestattet ist, würde alle Arbeitsersparnis zunichte machen. Ohne Subventionen wird es nicht gehen; in keinem europäischen Land (außer der Schweiz) steht bisher die dafür notwendige Finanzierung. Das Projekt hat aber nur Sinn, wenn alle europäischen Länder mitmachen.

Sollte die Automatische Kupplung nicht kommen, könnte das Ende des Güternah- und Einzelwagenverkehrs bevorstehen. Die umfassende Automatisierung der Rangierarbeit ist der letzte große Hebel, an dem der Bahnvorstand noch was bewegen kann, um DB Cargo unter den beschriebenen Bedingungen wettbewerbsfähig zu machen.1

Parallel dazu läuft im Moment der Versuch, die KollegInnen im Güternahverkehr (sie sammeln die Wagen des Einzelwagenverkehrs von Anschlussstellen ein oder bringen sie wieder zu den Betrieben zur Beladung) durch Qualifizierung zu flexibilisieren. Die LokführerInnen sollen ihre Züge zunehmend selbst untersuchen – was aus guten Gründen bisher Aufgabe des Wagenmeisters war. Hier wird an der Sicherheit gespart. Aktuell werden überall Planstellen gekürzt und RangiererInnen auf Kurzarbeit Null gesetzt; viele wandern in den Regional- und Fernverkehr ab.

Mitten in die letzten Tarifverhandlungen erklärte die Vorständin Nikutta, dass DB Cargo so weit auseinander- und umgebaut werden soll, dass sie sich nicht mehr von den kleinen privaten EVU unterscheidet. Denn neben dem Einzelwagenverkehr ist auch die Sparte des Kombinierten Verkehrs (Züge werden mit Containern und LKW-Trailern beladen und müssen dadurch wenig rangiert werden) bei der Deutschen Bahn ein Verlustbringer. In diesem Wachstumsmarkt verdienen die privaten EVU ihr Geld. Mit der Ausgliederung der potenziell gewinnträchtigen Verkehre an die Bahntöchter MEG und RBH Logistik könnte der Rest von DB Cargo als unsanierbar eingestampft werden.

Die bei DB Cargo angestellten LokführerInnen bestanden auf Pausenräumen und Toiletten und darauf, den Dienst immer am selben Standort zu beginnen und zu beenden. Bei immer weiter auseinanderliegenden Dienststellen kann schon eine leichte Verspätung dazu führen, dass man nach Dienstschluss nicht mehr nach Hause kommt. Die Reaktion der LokführerInnen war, dass in den letzten Jahren immer öfter Züge stehen blieben. Das kostet DB Cargo schnell fünfstellige Vertragsstrafen.

Die von Nikutta angekündigte Zerschlagung der DB Cargo war ein Frontalangriff auf diese Rigidität der KollegInnen. Um die Zerschlagung zu verhindern, haben die EVG-Betriebsräte weitreichende Zugeständnisse gemacht. Die Bedingungen der neu eingestellten Kollegen werden an die der Tochterunternehmen und der anderen »privaten« EVU angeglichen. Angesichts des hohen Durchschnittsalters wird der Umbau ziemlich schnell gehen. Derweil werden die alten Kollegen mit hohen Zuschlägen gelockt, längere, flexiblere Schichten zu akzeptieren und öfter auswärts zu übernachten. Durch hohe Zulagen und lange »Ausbleibezeiten« verdienen LokführerInnen bei den privaten Güterverkehrs-EVU manchmal das Doppelte der KollegInnen bei DB Cargo. Das zeigt, dass es nicht um die Lohnhöhe geht, sondern um die flexible Verfügung über die Arbeitskraft.

Die Antwort auf diesen seit langem größten Angriff auf die LokführerInnen bei DB Cargo kann nicht mehr darin liegen, die alten Bedingungen zu verteidigen und darauf zu hoffen, dass diese – durch Abstimmung mit den Füßen – in die privaten EVU einrieseln. Die Bedingungen bei den Privaten, die von beiden Gewerkschaften (EVG und GDL) mitgetragen wurden, müssen in den Fokus!

Fußnoten

[1] In den USA wurden die Güterbahnunternehmen gerade dadurch zu Profitkönigen (noch vor der Finanz-, Immobilien- und Tabakbranche), weil sie den teuren Einzelgüterwagenverkehr durch den sogenannten »Präzisionsfahrplan« (Ganzzugverkehr) ersetzt haben, praktisch keine Instandhaltungsarbeiten mehr durchgeführt, Infrastruktur und Service abgebaut, die extremsten Arbeitsbedingungen aus den Lokführern heraus gepresst und die Preise deutlich erhöht haben (siehe Wildcat 111: Railway to Hell).

 
 
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