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28.08.2024

aus: Wildcat 113, Spätsommer 2024

Der Fall Boeing

Am 8. August trat mal wieder ein neuer Boeing-Chef sein Amt an. Und mal wieder steht »Wiederherstellung des Vertrauens« im Vordergrund. Unter anderem will er sein Domizil statt in der Nähe der Börsen wieder in der Nähe der Fabriken beziehen.

Jahrzehntelang wurde Boeing durch Auslagerungen zerlegt, um eine kampfstarke Belegschaft in den Griff zu bekommen und den Aktionären die entsprechenden Profite zu servieren. Damit haben sie den Arbeitsprozess so weit ruiniert, dass die hergestellten Flugzeuge nicht mehr sicher sind. Und in den Fabriken fehlt das Arbeiterwissen, um die Sache zu reparieren.

Innovation fand nicht mehr statt, man flüchtete sich in den militärisch-industriellen Komplex mit seinen staatlich garantierten überhöhten Preisen. 57 Jahre nach ihrem Erstflug ist die 737 noch immer das am meisten benutzte Verkehrsflugzeug. Seit 1970 hat sich die Reisegeschwindigkeit insgesamt nicht mehr erhöht. Und seit dem Ende des Space Shuttles 2011 hat die US-Regierung mehrere Milliarden Dollar in ein neues Boeing-Raumfahrtprogramm versenkt.

Die Gewerkschafter rennen einer Illusion hinterher, wenn sie nun »Boeing vor sich selbst retten« wollen, indem sie einen Sitz im Vorstand fordern. Selbst wenn Flugzeuge komplett sicher fliegen würden, bleiben ihre Produktion und ihr Betrieb klimaschädlich. »Arbeiterwissen« wäre auch dafür nötig, lange und umweltschädliche Transportwege, gesundheitsschädliche Arbeit und lebensgefährliche Produkte abzuschaffen – was letztlich »Überwindung des Kapitalismus« bedeutet.

Im Folgenden der gekürzte und aktualisierte Artikel zu Boeing aus dem neuen Heft.

Die Strategie der Auslagerung implodiert

Im Januar 2024 verlor eine Boeing Passagiermaschine im Steigflug ein Rumpfteil, nur zufällig wurde niemand verletzt. Die Aufarbeitung des Vorfalls stellt im Zeitraffer die Unternehmerstrategien der letzten 50 Jahre vor: Deregulierung, Auslagerungen, Kostensenkungsprogramme. Viele Unternehmer machten hohe Profite mit lebensgefährlichen Produkten. Der Staat schaute zu.1

Boeings Passagierflugzeuge galten lange Zeit als fortschrittlich, sicher und qualitativ hochwertig. Aber seit der Fusion mit McDonnell Douglas 1997 übernahmen Finanzmanager die Führung und orientierten sich nur noch an den Aktiendividenden (Boeing hat seither für 60 Milliarden Dollar eigene Aktien zurückgekauft). Sie forcierten Sparprogramme, Stellenabbau sowie Aus- und Verlagerungen. »Forschung und Entwicklung« wurde zusammengestrichen, Qualitätsansprüche gesenkt, dem Produktionsprozess kaum mehr Beachtung geschenkt. Harry Stonecipher, zuvor CEO bei Boeing, wurde nach der Fusion Chief Operating Officer. »Ich habe Boeings Kultur geändert, damit es wie ein Business läuft anstatt als tolle Technikfirma.«2

Für die nach der Fusion entwickelte Boeing 787 wurde 2011 in Charleston in South Carolina eine neue Fabrik mit neuen Arbeitern hochgezogen, wo Boeing als »Systemintegrator« nur noch fertig angelieferte Teile zusammenfügen wollte.3 Die Qualitätsabteilung wurde im Vergleich zu den zwei Standorten in Seattle um 90 Prozent reduziert. Die 787 besteht aus über zwei Millionen Teilen von 1500 Zulieferern aus 30 Ländern. Großmodule aus Italien und Japan werden mit extra angefertigten Jumbos in die USA geflogen.

Schon 2013 wurde ein dreimonatiges weltweites Flugverbot für die 787 verhängt, weil eine Batterie zu brennen begann. 2024 waren die Elektronik, ein Treibstoffleck, die Bremsen und undichte Wasserhähne betroffen. Im Mai 2024 wurde bekannt, dass Boeing in Charleston Prüfdokumente gefälscht hat.

Außer der 787 gab es keine Flugzeugneuentwicklungen mehr. Stattdessen wurden vergrößerte Updates der in den 1960ern entwickelten 737 nachgeschoben. Nach der globalen Krise 2008 wurde das exzessiv: 737 Max 7 (172 Passagiere), Max 8 (186), Max 9 (218) und Max 10 (230). Die Max 8 bekam größere Triebwerke, das beeinflusste die Aerodynamik. Ein Software-Update sollte die damit einhergehenden Probleme einfangen, Pilotenschulungen für die neue Software erachtete die Boeing-Führung als zu teuer und nicht notwendig. In einer Risikoanalyse waren die Kosten wichtiger als das Absturzrisiko. Boeing verfolgte die »Minimum Viable Product«-Strategie: so schnell und einfach wie möglich ein Produkt auf den Markt schmeißen. Bill Gates und Elon Musk sind mit dieser Strategie zu Milliardären geworden – warum auf diese Art nicht auch Flugzeuge bauen? Von 2015 bis 2019 stiegen die Profite um fast 70 Prozent, der Aktienkurs verdreifachte sich.

Im Oktober 2018 stürzte eine Boeing 737 Max 8 vor Indonesien ab, 189 Tote. Im März 2019 stürzte in Äthiopien die nächste ab, 157 Tote.

Beim im Januar 2024 herausgefallenen Rumpfteil der neueren 737 Max 9 kommen die Kopie der Gleichteile-Strategie der Autoindustrie und die Macht der neuen Billig-Airlines dazu. Von denen ließ sich Boeing überreden, mehr Sitze in die Flugzeuge einzubauen. Je nach Sitzanzahl wird ein »Plug Door« (Blinddeckel) oder ein »Emergency Door« (Notausgang) verbaut. Der 2004 ausgelagerte Zulieferer des Rumpfs hatte im Vorhinein vor Sicherheitsrisiken gewarnt – Boeing forderte daraufhin, die Dokumente so zu fälschen, dass alle Bedenken verschwinden.

Whistleblower und Fluggäste leben gefährlich

Nach dem Januar-Vorfall verhängte die FAA ein Flugverbot und Produktionsbeschränkungen. In einem sechswöchigen Audit der FAA fiel Boeing bei 33 von 89 Prüfungen durch.

Beschäftigte von Boeing hatten das alles schon viel früher gewusst und auch darauf hingewiesen. Der Ingenieur Hart-Smith hatte 2001 vor den Gefahren der exzessiven Auslagerungen gewarnt. Ein Unternehmen, das nur noch zehn Prozent seines Produkts selber herstellt, habe »sein eigenes Schicksal nicht mehr in der Hand«. Die Kosten verschwinden nur scheinbar, wenn man jemand anderen die Arbeit billiger erledigen lässt. Oft kämen sie sogar höher zurück, weil man viel mehr Aufwand durch Spezifikationen, Prüfungen, Transporte, Nacharbeit usw. hat.4

Beschäftigte, die auf die Probleme aufmerksam machten, wurden gemobbt und mit Repression überzogen. 2024 sind zwei von ihnen mysteriöserweise verstorben.5

Anfang Juli gab Boeing »Betrug« im Falle der beiden Abstürze zu, das Unternehmen zahlt erneut ein paar hundert Millionen »Strafe« und fast zwei Milliarden Dollar an die Hinterbliebenen.

Am 9. Juli wurde bekannt, dass 2600 737 wegen Problemen mit den Sauerstoffmasken inspiziert werden müssen. Am 19. August ordnete die FAA die Inspektion aller 787 an, weil ein Fehler am Pilotensitz einen plötzlichen Sturzflug verursachen kann. Im März waren bei so einem Vorfall 50 Passagiere verletzt worden. Am 20. August unterrichtete Boeing die FAA, dass Testflüge der ursprünglich für 2020 geplanten aktualisierten 777-Version ausgesetzt werden – Kontrolleure hatten Risse gefunden. Neuer Termin: 2025.

Kein Fortschritt ohne Arbeiterkampf

Damit Flugzeuge sicher fliegen, braucht es Arbeiter, die Probleme erkennen und kollektiv lösen können; Kontrolleure, die sich nicht vorm Management fürchten; Ingenieure, denen nicht ständig gesagt wird, dass alles billiger werden muss. Aber das wird es ohne Arbeiterkampf nicht geben. Hoffnung macht, dass Mitte Juli 2024 in Seattle 99 Prozent von 33 000 in der Gewerkschaft IAM (International Association of Machinists and Aerospace Workers) organisierten Boeing-Beschäftigten für einen Streik für bessere Arbeitsbedingungen gestimmt haben.6

Seit Anfang Juni 2024 sitzen Astronauten auf der Raumstation ISS fest, weil Heliumtriebwerke fehlgezündet haben und der Hersteller die Ursache nicht findet – er heißt Boeing. Aber es geht nicht nur um diese Firma. Die industrielle Fertigung komplexer Güter von zuverlässiger Qualität ist in Frage gestellt. Und damit die industrielle Grundlage der USA.

Fußnoten

[1] 1978 verabschiedete Präsident Carter den »Airline Deregulation Act«, damit schaffte er die Regulierung der Preise, Routen und Flugpläne ab. Viele neue Fluglinien entstanden, die billigere Flugtickets anboten – und keine Gewerkschaften zuließen. In Reaktion handelten die traditionellen gewerkschaftlich organisierten Fluglinien ein neues Lohnstufenmodell aus, bei dem neu eingestellte schlechtere Sozialleistungen und niedrigere Löhne erhalten. Dieses neue »Two-tier«-Lohnsystem breitete sich in den 1980ern branchenübergreifend aus. Carters Gesetz wurde zur Blaupause für die Deregulierung des Lastwagen- und Eisenbahntransports ab 1980.
Bereits 2015 hatten wir uns in der Wildcat 98 damit auseinandergesetzt: »Warum die Autoindustrie keine zuverlässigen Autos mehr bauen kann«; im Frühjahr 2023 in der Wildcat 111 (»Railway to Hell«) mit der Situation der US-amerikanischen Eisenbahnen.

[2] James Surowiecki, What’s Gone Wrong at Boeing, The Atlantic 15.01.24

[3] South Carolina hat mit 2,3 Prozent die niedrigste gewerkschaftliche Organisationsrate in den USA. 2018 erreichten knapp 200 Arbeiter (von 7000) eine gewerkschaftliche Anerkennung, aber Boeing entlässt dort immer wieder gewerkschaftlich aktive.

[4] L.J. Hart-Smith, Out-sourced profits – the cornerstone of successful subcontracting, 15.02.01

[5] Maureen Tkacik, Suicide Mission – What Boeing did to all the guys who remember how to build a plane, The American Prospect 28.03.24

[6] Boeing beschäftigt insgesamt über 140 000 Menschen, davon 67 000 in Seattle.

 
 
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