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20.08.2024

aus: Wildcat 113, Spätsommer 2024

Inneres Proletariat und Soldatenmangel

Der britische Historiker Toynbee hat in seinem Werk Der Gang der Weltgeschichte die Lebenszyklen von Imperien untersucht und festgestellt, dass in stagnierenden Imperien ein »inneres Proletariat« entsteht. Das war keine marxistische Analyse, sondern er meinte damit diejenigen, die im Imperium leben, aber nicht (mehr) von ihm profitieren – und daher auch nicht bereit sind, es mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. So konnten die »Barbaren« das Römische Reich überrennen (das zudem unter Arbeitskräftemangel litt). So konnte Cortés das Aztekenreich stürzen; in seiner Armee marschierte dessen inneres Proletariat: Untertanen von Tenochtitlan, die durch den Fortbestand seines Reichs mehr zu verlieren als zu gewinnen hatten.

Befragt, ob sie ihr Land im Ernstfall verteidigen würden, antworten in der BRD immerhin 18 Prozent der Leute im wehrfähigen Alter mit Ja (von den Anhängern der kriegsgeilen Grünen übrigens nur neun Prozent). Aber die Abbrecherquote bei der Grundausbildung ist sehr hoch, und seit dem Ukrainekrieg gibt es Rekordzahlen nachträglicher Verweigerungen bei Reservisten. »Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der eine permanente Entsolidarisierung gepredigt wird, Stichwort Agenda 2010. Ich kann heute jeden Tag den Fernseher einschalten und mir von Carsten Linnemann erklären lassen, warum man Arbeitslosen oder Geringverdienern etwas wegnehmen sollte. Und dann muss ich mir von den gleichen Leuten die Nation als Solidargemeinschaft verkaufen lassen? ... (Ich) habe keine Lust, mit der Waffe in der Hand andere Menschen zu töten oder selbst getötet zu werden, um diese angebliche Solidargemeinschaft zu verteidigen.« (Ole Nymoen »Ein schmutziger Frieden ist besser, als tot zu sein«; Berliner Zeitung 4.8.2024)

In Osteuropa ist die Lücke zwischen dem Kriegskurs der Regierungen und der sozialen Realität noch größer. Polen, Tschechien, Rumänien stehen vor Rekrutierungsproblemen, die aufgrund der vielen Toten im Ukrainekrieg noch zugenommen haben. Die Arbeitslosenquoten seien einfach zu niedrig, sagte der stellvertretende Generalstabschef der polnischen Streitkräfte zu Reuters. In Rumänien sind 23 Prozent der Stellen für Soldaten unbesetzt. Von vier Patriot-Raketenabwehrbatterien sind nur zwei einsetzbar, man hat F-16-Kampfflugzeuge gekauft, aber nicht genügend ausgebildete Piloten dafür...

Materialmangel und gerissene Lieferketten, vor allem aber Arbeitskräfte- und Soldatenmangel bremsen den Kriegskurs bisher stärker als eine Friedensbewegung. Diese brauchte aber auch in den 60er Jahren (Vietnamkrieg) oder Anfang der 80er Jahre (NATO-Doppelbeschluss) ein paar Jahre, bis Massen auf den Straßen waren. Auch damals wurde man als »Moskaus fünfte Kolonne« beschimpft. Global betrachtet entsteht in den Protesten gegen den Gazakrieg bereits eine neue Friedensbewegung. Eine globale Friedensbewegung ist dringlich! Was sich gerade im »Indopazifik« zusammenbraut, ist komplett wahnsinnig! – und manchmal lohnt es sich daran zu erinnern, dass es die Worte noch nicht lange gibt, die wir heute täglich in der Zeitung lesen: »Indopazifik« und »Regelbasierte Ordnung« entstehen nach der globalen Krise 2008 ff.

Das innere Proletariat und der Aufstand

Durch die kaputte gesellschaftliche Infrastruktur, Niedriglohn, Abstiegsängste und den Ausschluss von politischen Entscheidungen entsteht das »innere Proletariat«. Durch die Doppelmoral der politischen Klasse, ihre Abgehobenheit und Straflosigkeit entsteht sein Hass auf »die Eliten«. Bisher ist das die Spielwiese von Trump, Meloni und Konsorten. Aber vor langer Zeit warnte Alexis de Tocqueville in einer ähnlichen Konstellation von massiven gesellschaftlichen Umbrüchen, Frankreich würde »auf einem Vulkan schlafen«. Er hielt die damalige gesellschaftliche Verbitterung, Unzufriedenheit und den Vertrauensverlust in die Obrigkeit für Anzeichen dafür, dass bald alles explodieren könnte – obwohl es zuvor weniger revolutionäre Aktivitäten gegeben hatte. Das war Anfang 1848, und tatsächlich hatte Tocqueville recht: Noch im selben Jahr brach nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa die Revolution aus.

Vier Jahrzehnte nach der lateinamerikanischen Schuldenkrise sitzt Afrika in der Schuldenfalle. Aber der Widerstand gegen den sozialen Kahlschlag hat heute mehr Aussichten als damals. »Kommt ein Afrikanischer Frühling?«, fragt die FAZ erschrocken. Die erfolgreichen Proteste in Senegal Anfang des Jahres haben viele ermutigt. Und nun bejubeln sie in Afrika auch die Bewegung in Bangladesch und die Flucht von Ministerpräsidentin Sheikh Hasina.

Nur Zuwanderung kann die Wirtschaft retten

Die afrikanischen Gesellschaften sind jung, die westlichen alt. Zum ersten Mal in der Geschichte schrumpft in der Hälfte aller Länder die Bevölkerung. Der Westen kann sich nur mit Zuwanderung über Wasser halten. Im vergangenen Jahr haben 22,1 Millionen Menschen in Deutschland Rente bezogen, mehr als jede/r Vierte. Die deutsche Logistikbranche forderte vor wenigen Tagen 100.000 LKW-Fahrer aus dem Ausland und weitere Deregulierung. Die Deutsche Bahn sucht in Spanien, Kroatien, Serbien, Rumänien, der Ukraine, der Türkei, Jordanien, Tunesien und Ägypten nach Lokführern. Die BRD hat ihr demografisches Problem und den Arbeitskräftemangel bisher durch eine effektive Einwanderungspolitik gelöst. 86 Prozent der Neueingestellten sind Ausländer.

Aber das Leben der Geflüchteten wird weiter vermiest; Ursula von der Leyen will die Zahl der Frontex-Beamten verdreifachen; und alle PolitikerInnen fahren auf Melonis »Albanien-Modell« ab – obwohl sich das immer weiter verschiebt.

Die Studie des DIW »Wirtschaft, Demografie und strukturelle Missstände« vom Juli 2024 zeigt, dass die Demografie der wichtigste Faktor hinter dem Erfolg der AfD bei der Europawahl war. Dort, wo junge Menschen fehlen oder abwandern, wird die Daseinsvorsorge geschwächt und die wirtschaftliche Situation ist unsicher. Die Leute haben Zukunftsängste und das Gefühl, heimatlos zu werden. Die Migration spielte bei der Wahlentscheidung hingegen eine geringere Rolle, vor allem in Ostdeutschland.

Laut Bundesbank hat die untere Hälfte der Bevölkerung in der BRD nur drei Prozent des gesamten Vermögens. 17 Millionen Menschen sind von Armut bedroht, die Tafeln versorgen täglich zwei Millionen Menschen mit Essen. Der Staat kann mit seinen Steuereinnahmen Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und bezahlbares Wohnen nicht mehr angemessen finanzieren. Dem ging die politische Entscheidung voraus, die Reichen steuerlich zu entlasten. Das private Vermögen konzentriert sich bei nur wenigen Familien. Diese »Oligarchen« nutzen ihre Macht nicht nur in Russland und den USA...

Milliardäre brauchen kein Bürgergeld, keine Rente, keine erschwingliche Gesundheitsfürsorge, keinen Arbeits- oder Kündigungsschutz. Warum es anderen gewähren? Die von ihnen finanzierten Politiker setzen das um. Nicht nur in den USA: »Weniger Lieferkette, mehr arbeiten«, kommentierte die FAZ am 5. Juli den Haushaltsentwurf der Ampelregierung. Drastische Kürzung bei der Entwicklungspolitik, Wegfall von einer Milliarde Euro Zuschuss zur Pflegeversicherung, Halbierung der Mittel für Integrationskurse... Dem stehen Geschenke für Unternehmen und Wohlhabende gegenüber, darunter Steuererleichterungen, höhere Abschreibungen, und die Waffenindustrie freut sich über den steigenden Wehretat. Die Subventionen für die Großkonzerne sind in den letzten Jahren unverhältnismäßig gestiegen.

Die massive Ungleichverteilung des Wohlstands war stets Mitauslöser von Aufständen – auch heute wieder in Afrika und Asien. Aber wie kommen wir bei uns hier über die Phase raus, in der krasse soziale Ungleichheit, Zukunftsängste und Hass auf die Eliten nur auf das Konto der Rechten und Rechtsextremen eingezahlt haben? Die Logik »wenn es mir nicht gut geht, soll es den anderen wenigstens schlechter gehen« wird nur geknackt durch gemeinsame Kämpfe mit egalitären Forderungen. Kämpfe derjenigen, die den ganzen Laden am Laufen halten, die Selbstbewusstsein ausstrahlen und die Perspektive einer anderen Gesellschaft aufzeigen.

 
 
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