Proletarische Wanderungsbewegungen und Klassenkampf
Erste Thesen
1) Proletarische Wanderungsbewegungen bilden in der gesamten Geschichte des Kapitalismus einen Motor der Neuzusammensetzung der Klasse und damit auch den Hintergrund neuer Formen von Kampf und proletarischer Initiative im Kapitalverhältnis.
2) Proletarische Wanderungsbewegungen finden statt im Widerspruch zwischen Einkommensansprüchen der Proletarisierten (also eigener Bewegung) und Rekrutierungsstrategien des transnationalen Kapitals. Und gerade so sind auch ihre Wirkungen auf die politischen Neuzusammensetzungsprozesse der Klasse widersprüchlich, sie reichen von Pazifizierung und Spaltung bis zur »Wanderung« neuer Kampfformen.
3) Proletarische Wanderungsbewegungen funktionieren in ihren Ursprungsländern als Ventil in angespannten Klassensituationen. So erreichte die deutsche Auswanderung nach Übersee in der nachrevolutionären Phase Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Höhepunkt und war Bedingung für das Abebben einer revolutionären Klassenbewegung in diesen Jahren. Daß in solchen Phasen gerade die politisch Aktivsten auswanderten bzw. auswandern mußten, trug wiederum stark zur Ausbreitung revolutionärer Ideen und Klassenbewegungen bei (gemeinsame Wurzeln der Wobblies und der IRA, anarchistisches Gedankengut in Deutschland, Italien und USA).
4) Die internationalen proletarischen Wanderungsbewegungen nehmen seit Jahrzehnten zu. Da Migration trotz dieser Massenhaftigkeit und der informellen Strukturen, über die sie »sich selbst« organisiert, kein kollektiver, politischer Prozeß ist, sondern individuelle Flucht und Suche nach Einkommen, tauchen die Migranten als Vereinzelte hier auf, isolierte Verkäufer der einzigen Ware, die sie besitzen: Arbeitskraft. Sie sind damit aber bereits Teil eines internationalen Proletariats.
5) Die »Asylierung« von Teilen des multinationalen Proletariats war eine Arbeitsmarktstrategie des Kapitals: wo die Hetze zwischen »Itackern« und Deutschen nicht mehr griff, sollte sie durch die Spaltung in Garantierte und Illegale ersetzt werden. Dies gerät in die Krise, wo am Horizont Kämpfe auftauchen, in denen sich auch diese Klassenspaltung wieder aufzuheben droht.
6) Das Kapital geht heute bereits an die nächste Etappe von Internationalisierung (siehe etwa die beiden Kästen zu Polen und zur EG). Revolutionäre Politik heißt erstens, diese Pläne als Reaktion auf Klassenverhaltensweisen zu entschlüsseln und zu bekämpfen (Beispiele für solche Pläne: Forcierung der außereuropäischen Migration als Reaktion auf die Verweigerung der innereuropäischen Mobilität; Forcierung der Einwanderung als Reaktion auf drohende Neuzusammensetzungsprozesse).
7) Der (imperialistische Sozial-)Staat agiert und reagiert präzise abgestuft auf die potentielle Drohung eines vereint kämpfenden Weltproletariats. Soziale Absicherungen sollen der in diesem Proletariat liegenden revolutionären Drohung die Spitze nehmen. Aber wie in der gesamten Geschichte des Kapitals ist die eigentliche, politische Antwort auf diese Drohung und auf die proletarischen Forderungen nach Einkommen die Verwertung ihrer Arbeitskraft. Revolutionäre Strategie muß hier (gegen) ansetzen.
8) Für unsere politische Praxis heißt das zwei Sachen: Wir müssen die Analyse der betreffenden feindlichen Projekte vertiefen (EG-Binnenmarkt; Europäisierung der Gewerkschaftsgesetze; neue Diskussion über Bevölkerungspolitik im Rahmen der Probleme der Rentenkassen: zu wenige Einzahler, zuviele Alte; Veränderungen der Einwanderungsbestimmungen; das Kapital beklagt den »Arbeitskräftemangel in einigen Bereichen« bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit usw. usf.). Zweitens müssen wir es genauer als bisher auf Reihe kriegen, uns innerhalb dieses multinationalen Proletariats zu bewegen. Zugang von innen her zu kriegen setzt aber - auch wenn wir uns wiederholen - militante Untersuchung voraus anstatt der sozialarbeiterischen Annäherung in Kategorien wie »Flüchtlinge«.
9) Zunächst müßten wir in einer gemeinsamen theoretischen Diskussion den Rahmen für eine solche »militante Untersuchung im internationalen Maßstab« herausarbeiten. Für die BRD heißt das zum einen, hinter den komplizierten administrativen Maßnahmen der Einkommensgewährung und des Arbeitszwangs die Konturen der umfassenden Klassenzusammensetzung aufzuspüren. Zum anderen müssen wir die gemeinsame Untersuchung und Initiative in der praktischen Zusammenarbeit mit ImmigrantInnen vorantreiben. Drittens müßten wir darüber auch unser Wissen über die weltweiten Migrationsströme zusammenbringen und systematisieren.