Wildcat Nr. 46 - Winter 1988/89 - S. 32-33 [w46nurse.htm]


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Neue Stufe der Kämpfe im britischen Krankenhaus

More Healthy Strikes

Die letzten großen Streiks der nurses, der Krankenschwestern und Krankenpfleger in England, Schottland und Wales, liegen kaum ein halbes Jahr zurück, da stehen viele von ihnen wieder im Kampf und lehren Krankenhausverwaltungen, »Gesundheits«-Funktionäre und die Thatcher-Regierung von neuem das Fürchten. Dienst »nach Einstufung«, Versammlungen, Demonstrationen, Streiks – so entwickeln sich die Dinge in vielen Krankenhäusern Großbritanniens während der Monate Oktober und November. Das Ganze außerhalb der offiziellen Tarifrunden und – soviel ist deutlich – weithin außerhalb gewerkschaftlicher Kontrolle.

Worum geht es bei der neuen Welle der Unbotmäßigkeit unter den britischen Krankenschwestern, den »Engeln am Krankenbett«, wie die Massenpresse und das Fernsehen auf der Insel sie inzwischen enttäuscht und sarkastisch nennen? Grundsätzlich geht es um dieselben Probleme wie im Frühjahr, nämlich um die üblen Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern und den schlechten Lohn (vgl. wildcat Nr. 45). Nur hat sich die Auseinandersetzung inzwischen auf ein neues Terrain verlagert: Heute wird um die »richtige« Eingruppierung in das veränderte Lohngruppenschema, das grading system, gekämpft, das die Regierung nach langem Tauziehen mit den Gewerkschaften und der Behörde für die medizinische Versorgung der Bevölkerung NHS im Sommer per Erlaß in Kraft gesetzt hat.

Wie konnte es zu der neuen Lage kommen? Seit langem schon versuchten Labour- und Tory-Regierungen, die Ansprüche vor allem der britischen Arbeiterklasse auf Leistungen aus dem NHS-System zu mindern. Im Zentrum dieses Angriffs stehen die Krankenhäuser als »Reparaturbetriebe« für die beschädigte Arbeitskraft. Hier war das Mißverhältnis zwischen erwarteter Leistung und zugewiesenen Mitteln ständig schärfer geworden.

Als zu Anfang dieses Jahres die Regierung eine neue bedeutende Kürzung der Mittel für den NHS bekanntgab, explodierte die Unzufriedenheit des Pflegepersonals. Ganz zu recht befürchteten die Schwestern und Pfleger, daß mit den anstehenden Kürzungen bei ihrem eigenen Lohn begonnen werden würde, denn an anderen Stellen gab es kaum noch etwas zu verschlechtern. Wie ein Steppenbrand breiteten sich nun Streiks und Demonstrationen von Zentren im Londoner Raum, in den Midlands und Schottland aus.

Zum erstenmal reihten sich in die Kämpfe des Krankenhauspersonals jetzt auch die angesehene und früher besonders gehätschelte Gruppe der diplomierten Krankenschwestern, der registered nurses, ein. Das Entsetzen bei Regierung und Massenmedien war perfekt. Wenn man verhindern wollte, daß der Brand auch noch den bereits murrenden Rest des Sektors erfaßte und neue Wellen der Solidarisierung in anderen Teilen der gebeutelten Klasse auslöste, waren demonstrative Zugeständnisse und – mit Blick in die Zukunft – der Aufbau einer Sackgasse erforderlich, in der man die Bewegung einfangen und fürs erste ruhigstellen konnte. Diesem Zweck gehorchten die Zusagen der Regierung vom April: Aufstockung des NHS-Budgets um einen erklecklichen Batzen für allgemeine Lohnerhöhung, dazu die Erneuerung des betagten Lohngruppenschemas beim Krankenhaus-Pflegepersonal im Sinne der Anerkennung von »Leistung« und »Fortbildung«.

Die Gewerkschaften COHSE und NUPE, die im öffentlichen Dienst organisieren und vor allem bei den »niedrigeren« Gruppen des Pflegepersonals Rückhalt haben, ließen sich auf den Deal ein. In Anerkennung ihrer Fähigkeit, die rebellischen Mitglieder an die Arbeitsplätze zurückzuführen, durften sie sich an der Festlegung der Tätigkeitsmerkmale für die neuen Lohngruppen beteiligen. Verlockend – und ungefährlich – muß den Gewerkschaften die Beteiligung an diesem Unternehmen besonders deshalb erschienen sein, weil sie ihrer Mitgliedschaft zum Ausgleich für die vermutlich magere allgemeine Lohnerhöhung einen breiten Schub der Höhergruppierung in Aussicht stellen konnten, für den die Stunde der Wahrheit nicht mehr am Verhandlungstisch schlagen würde, sondern vor Ort in den Krankenhäusern, wo Personal und Leitungen sich um die »richtige« Eingruppierung zu streiten hätten.

Als nach der Sommerpause der Aufstockungsbetrag für den NHS beschlossen worden war und die Meldungen über die Neueinstufungen des Pflegepersonals aus den Krankenhäusern in der NHS-Zentrale eingingen, wurde klar, daß die Rechnung nicht aufging: Das Saldo der allgemeinen Lohnerhöhung und der Lohnerhöhungen wegen Neueinstufung überstieg bei weitem den für Lohnzuwachs verfügbaren Aufstockungsbetrag. Die Regierung zog die vorgesehene Notbremse und verfügte die Revision der Einstufungen nach strengeren Gesichtspunkten.

Anfang Oktober begann deutlich zu werden, wie die Krankenhausleitungen und unteren Gesundheitsbehörden – gestützt durch die Anordnung der Regierung – ihre Hausaufgabe neu gemacht hatten. Nun klaffte die Schere in der Einkommensskala so weit, wie »Leistungs«-Strategen der Thatcher-Gruppe es wünschten, und zeigte auch in die richtige Richtung: Die Hilfsschwestern, etwa ein Viertel der insgesamt ca. 500 000 Pflegekräfte in GB, erhielten nichts oder fast nichts hinzu. Im Mittelfeld der Lohnerhöhungen lagen die Schwestern mit kürzerer Ausbildung. Überproportional wurden die diplomierten Schwestern belohnt, freilich mit auffälligen Benachteiligungen gegenüber solchen, die neue Druckpositionen einnehmen sollten. Kümmerlich fielen auch die Lohnerhöhungen für Hebammen und andere Schwestern mit Sonderqualifikationen aus.

Als die Schwestern Kontakt zu Kolleginnen in anderen Krankenhäusern aufnahmen, stellten sie fest, daß offenbar auch noch bei der Durchsetzung der neuen Anordnung die Meßlatte in allen Häusern unterschiedlich angelegt worden war. Die Empörung vereinte die vorher klüglich gespaltenen Schwesterngruppen wieder, und der Funke sprang über. Nun, seit Ende Oktober, entwickeln sich die Dinge schnell.

In mehreren Krankenhäusern im Londoner Raum und in Manchester beginnen Krankenschwestern mit dem »Dienst nach Einstufungsmerkmalen«, dem work-to-grade: Wo Hilfsschwestern nach Lohnstufenmerkmalen nur »unter Aufsicht« tätig sein sollen, verweigern sie die Arbeit, sofern keine Aufsicht in ihrer Nähe ist. Wo examinierten Schwestern eine Kollegin vor die Nase gesetzt wurde, die im Unterschied zu ihnen als einzige »selbständig« handeln soll, wo früher alle »selbständig« arbeiteten, da lassen sie nun alle »selbständige« Arbeit liegen.

Das Arbeiten nach dem Grundsatz work-to-grade breitet sich aus. Allen voran gehen die Hilfsschwestern in den Psychiatrischen Anstalten, die dort oft mehr als die Hälfte der Pflegekräfte stellen. Stoke-on-Trent, St. Audry, dann Manchester, Leavesden in Hartfordshire, Birmingham, Wakefield, Coventry, Bury, schließlich Tooting Bec und die psychiatrische Abteilung des Hospitals von Charing Cross, beide in London, setzen die work-to-grade-Welle in Bewegung, andere folgen.

Anfang November tritt das Personal im Psychiatrischen Krankenhaus Prestwich bei Manchester in den unbefristeten Streik. Das West Cumberland Hospital in Whitehaven ruft nach freiwilligen Helfern, nachdem nun auch das Küchen- und Hilfspersonal sich einem Vollstreik der Krankenschwestern angeschlossen hat. Im Großraum Manchester machen die Schwestern an den picket lines der verschiedenen Krankenhäuser die Runde.

Inzwischen haben die Behörden bereits Krankenschwestern wegen »Arbeit nach Einstufungsmerkmalen« vom Dienst suspendiert. Die Hetze aus dem Gesundheitsministerium läuft auf vollen Touren. Ein neuer winter of discontent wird als Schreckgespenst an die Wand gemalt. Aber bis in die zweite Novemberhälfte greifen die Kämpfe weiter um sich.

COHSE und NUPE unterstützen die Aktionen der Arbeiterinnen und Arbeiter im Krankenhaussektor. Was bleibt ihnen anderes übrig? Das Londoner Regionalkomitee von NUPE beschließt, für den 28. November einen Aktionstag anzusetzen, an dem sich alle 16 000 Mitglieder aus der Hauptstadt beteiligen sollen. Zugleich verwahren sich beide Gewerkschaften gegen den Vorwurf des Gesundheitsministers, sie hätten die neue Protestwelle in Gang gesetzt. Darin haben sie recht, und der Minister weiß es: Bei mehreren Gewerkschaftsversammlungen sind Funktionäre unsanft hinausbefördert worden, als sie den Schwestern dazu rieten, ihre Einwände doch auf dem offiziellen Beschwerdeweg vorzubringen.

 


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