Wildcat Nr. 56, Juli 1991
Vor einiger Zeit veröffentlichte der Europa-Verlag Wien das Buch des Mitbegründers der Roten Brigaden, Alberto Franceschini: Das Herz des Staates treffen (Wien-Zürich 1990).
Hier schildert er seine Geschichte von Ende der 60er bis zu seinem Ausstieg 1983: seine Erfahrungen in der Studentenbewegung, das Zusammentreffen mit den anderen späteren Mitgliedern des sogenannten »historischen Kerns« der BR, die Kritik an der KPI, die ersten Aktionen gegen Abteilungsleiter von Mailänder Großbetrieben, die erste Entführung.
Seit seiner Verhaftung 1974 geht es um die Kämpfe im Knast, Aufstände mit selbst gebasteltem Sprengstoff… Kernpunkt seiner Erzählung ist die Entführung Moros kurz vor dessen Wahl zum Regierungschef - der Wendepunkt der BR-Geschichte.
Hilflos stellen sie im Knast die politischen Fehler der Genossen draußen fest und wissen nicht, wie sie eingreifen sollen (»Die Genossen haben eine Atombombe in der Hand und gehen mit ihr um wie mit einem Knallfrosch«). Die BR fordern die Freilassung von politischen Gefangenen (darunter Franceschini). In Verhandlungen mit Vertretern von Parteien fordert der »historische Kern« der BR-Gefangenen (Franceschini, Curcio usw.) nur noch eine Geste vonseiten des Staates: Schließung des Sonderknasts Asinara. Dann wären sie in der Gerichtsverhandlung aufgetreten und hätten ihre Genossen draußen aufgefordert, Moro freizulassen. Doch eine bestimmte Fraktion der Christdemokratie brauchte offenbar Moros Tod, um den »Historischen Kompromiß« (Koalition von Christdemokraten und Kommunisten) zu verhindern und tat alles, um ein Eingehen auf die Forderungen und damit die Freilassung Moros zu sabotieren.
İm Sommer 1990 erschien in der französischen Zeitschrift Le Brise-Glace eine Diskussion mit Franceschini, in der er auf einige Punkte näher eingeht. Daraus drucken wir im folgenden Auszüge ab.
Arbeitermacht und bewaffneter Kampf
Das Buch von Franceschini ist eines der ganz wenigen ’Aussteiger-Bücher«, die es sich zu lesen lohnt. Auch bei den ganzen Ex-KPlern (Arthur Koestler, Manes Sperber usw.) war das Problem immer, daß sie richtige Kritiken an ihren KP‘s brachten und trotz dem auf dem falschen (reaktionären) Dampfer waren. Franceschini wird nicht reaktionär, aber er verwickelt sich in interessante Widersprüche: Zunächst baut er mit anderen eine Avantgarde-Partei auf, und heute beklagt er sich darüber, daß die Arbeiter ihre Gewalt an die BR delegiert hätten… Revolutionäre Politik muß solche vorhandenen Delegierungstendenzen immer bekämpfen — die BR lebten davon.
Im Gegensatz zu Italien gab es in der BRD bis heute keine politische Debatte über das Scheitern bestimmter Formen des bewaffneten Kampfs. Wenn das überhaupt noch stattfinden soll, dann wäre vielleicht heute mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und der Aufdeckung von Verbindungen zwischen bewaffneten Gruppen und Stasi eine Chance dafür.
Vieleicht kann das folgende dazu einige Anregungen geben.
[…] sind Kürzungen oder Ergänzungen von uns;(…) sind Kürzungen oder Ergänzungen von Brise-Glace.
LBG: Warum hast du eher eine persönliche Faktengeschichte der Roten Brigaden geschrieben statt einer allgemeineren?
Alberto Franceschini: Das wäre so oder so meine Geschichte geworden, eine extrem subjektive Rekonstruktion. Ich fühlte mich auch nicht im Recht, über ein so komplexes Phänomen zu schreiben. Allein die Geschichte der BR schreiben zu wollen, wäre arrogant.
Du hättest es mit anderen zusammen machen können.
Darüber haben wir seit 80/81 in Palmi [moderner Superknast, wo ein Großteil der BR inhaftiert war] diskutiert: wir wollten eine kollektive Geschichte unserer Organisation schreiben. Damals waren noch alle BR-Gefangenen zusammen… Wir hatten mehrere Pläne zu entwerfen versucht, aber das hat sogleich große Kontroversen unter uns ausgelöst. Uns wurde klar, daß es über die Generationen hinweg verschiedene Rote Brigaden gegeben hatte. Dasselbe Ereignis, z.B. die Sossi-Entführung, wurde ganz unterschiedlich interpretiert. Wir, die sie durchgeführt hatten, verstanden sie auf eine Weise; die, die nach uns kamen, haben sie auf eine andere Weise erlebt… Wir hätten nicht die Geschichte der BR schreiben können. Man hätte drei oder vier schreiben müssen.[…]
Zweitens interessierte es mich persönlich nicht, eine Geschichte der Roten Brigaden zu schreiben. Ich bin aus diesen Jahren der Politik raus und ich verspürte eine Art Ablehnung der Politik. Außerdem hatte ich keine Lust, ein politisches Bild von den Roten Brigaden zu vermitteln. Dieses Bild hatten bereits alle verbreitet: Ich weiß nicht, wie viele Journalisten und Historiker schon ihre Geschichte der BR geschrieben hatten. Ich wollte vor allem vermeiden, mich auf ihre Ebene zu begeben. Ich wollte in meine Erinnerungen eintauchen, die Beziehungen zwischen einigen Individuen am Beginn unserer Geschichte wiederfinden. Als Titel hatte ich zuerst vorgesehen: Meine Roten Brigaden . Den jetzigen Titel hat der Herausgeber verlangt. […]
Ich habe das Buch in einem Zug geschrieben, in zwei Monaten. Ich habe beim Jahr 83 aufgehört, weil es danach zu aktuell war und mich noch betraf. Vor 83 hingegen, auch wenn dies noch relativ frisch ist, war es bereits ein Zeitalter weg. Das Buch zu schreiben, war wie mein eigenes Begräbnis durchzuführen, meine Leiche zu begraben, den Teil von mir, der 1983 gestorben ist. Die folgende Periode des Ausstiegs betrifft mich noch sehr stark … […]
Als du mit dem bewaffneten Kampf angefangen hast, dachtest du da, daß die Revolution in Italien möglich sei?
Ich war davon überzeugt. Ich dachte, daß unsere Aktion wirklich einen Prozeß von sozialer Revolution auslösen würde. Das war eine Idee à la Che Guevara, die Fokus-Theorie. Mailand war unsere Sierra, unser Dschungel. Das haben wir übrigens selber gesagt. In dieser Hinsicht waren wir sehr religiös. Wir glaubten an die Kraft des Beispiels… »In Italien existieren seit langem revolutionäre Bedingungen sowie eine revolutionäre Klasse. Aber die Führer sind Verräter. Die Kommunistische Partei ist eine Verräterpartei, eine Partei von Feuerwehrleuten«, dieses Schema war damals sehr verbreitet.
Die guten Führer, das wart ihr?
Ja. Aber man mußte das den Massen durch persönliche Opfer beweisen. Wir waren die guten Führer, weil wir bereit waren, unser Leben zu opfern, im Unterschied zu den Führern der KP, die sich ein bürgerliches Leben aufbauten, indem sie ins Parlament gingen. Wir hatten die Theorie des »schwächsten Glieds« aufgegriffen. Wegen der Position Italiens mußte eine Revolution in diesem Land die Revolution in ganz Europa auslösen. Wir waren übrigens in Kontakt mit französischen und deutschen Genossen: in Frankreich mit der Gauche Prolétarienne, der Nouvelle Résistance Populaire und Vive la Révolution. Wir hatten enge Beziehungen mit ihnen bis 1972, bis zur Nogrette-Entführung [Personalchef von Renault]. Diese Entführung war mit der von Macchiarini, dem Leiter Staats-Unternehmens Siemens, koordiniert worden. Wir hatten uns gegenseitig über die beiden Projekte informiert. Wir hatten darüber diskutiert, ohne daß sie uns den Namen ihres Ziels gesagt hätten. Es gab also Beziehungen zu Franzosen und Deutschen über die Möglichkeiten von Fabrikinterventionen. […]
In deinem Buch fällt auf, daß es eine klare Trennung zwischen der italienischen Gesellschaft und den BR nicht gab, und besonders zwischen der Partei und den BR und der Bewegung und den BR. Von außen wurden die BR als eine sehr geheime Organisation gesehen, abgeschnitten von der übrigen Gesellschaft. Das, was du sagst, entspricht dem nicht.
Ich habe das Buch geschrieben, um dieses Bild der BR, das die Presse aufgebaut hat, zu zerstören oder wenigstens in Frage zu stellen. Ich rede jetzt von der ersten Epoche, bis 1974-75, sogar bis 78. Die Leute von der Autonomia, Negri, Scalzone und die anderen, kannten uns alle. Sie trafen uns auf der Straße, wir verkehrten an denselben Orten. Wir waren Klandestine, aber Klandestine, die mitten unter den Leuten lebten, so wie ich es in meinem Buch beschreibe. Es wäre sehr leicht gewesen, uns festzunehmen, wenn die Macht es gewollt hätte.
Im Buch erzähle ich von der Spaltung zwischen uns und denen, die die Revolution, den bewaffneten Kampf als ultra-klandestine Aktivität sahen, sodaß sie aus der Bewegung verschwanden. Wir entstehen aus dem Bruch mit ihnen. Für uns war grundlegend, daß der bewaffnete Kampf in der Bewegung stattfindet. Für uns war er der »höchste Punkt« der Bewegung, aber blieb in ihrem Innern. Auch wenn wir persönliche Risiken auf uns nahmen und sehr wohl wußten, daß wir uns von einem Moment auf den anderen im Knast wiederfinden konnten, sagten wir: »Wenn ich eine politische Massenarbeit innerhalb der Bewegung mache, wird es hundert Personen geben, die meinen Platz einnehmen können; wenn ich mich in einer Wohnung einschließe, um den Terroristen zu spielen, bleibe ich in der Deckung.« […] Wir haben uns immer gegen den Terrorismus und für die Massenarbeit entschieden; das war grundlegend, man mußte mitten unter den Leuten leben.
Scalzone und Negri z.B. wußten also nicht unbedingt, daß ihr Brigadisten wart, aber sie kannten eure Positionen.
Genau. […] Wir hatten permanente Beziehungen zu Negri, Scalzone und all den Genossen der Bewegung. Es gab eine kontinuierliche politische Debatte zwischen uns, über das, was wir tun wollten. […] Zu Anfang waren wir wirklich sehr wenige — zehn, fünfzehn Personen — und wir machten fast alles. Zu meiner Zeit gab es nur zwei Kolonnen, in Mailand und in Turin. Dazu kamen einige Genossen in Venetien — in Padua und in Mestre — zu denen wir Kontakt hatten. In Genua kannten wir sehr wenig Leute. In Rom gab es die Organisation erst seit 1977. So waren wir bis 1974 nur 18-20 klandestine Militante. Und wir schätzten, daß auf einen Klandestinen zehn Nicht-Klandestine kamen. Auf zwanzig Klandestine kamen also zweihundert Mitglieder legaler Organisationen, die eng mit der klandestinen Organisation verbunden waren. Schließlich gab es ungefähr tausend Sympathisanten, auf die wir zählen konnten.
Die große Ausdehnung der Organisation kam mit der Moro-Entführung. Von da an gab es fünfzig Klandestine, tausend legale Genossen und vielleicht zehntausend Sympathisanten. Die Moro-Affäre hatte einen großen Sprung nach vorne ausgelöst. Sie hat all die Gruppen wie Potere Operaio in die Krise gestürzt, unter anderem wegen der Brutalität der Repression. Eine ganze Reihe von Genossen im Umkreis dieser Gruppen schlossen sich nun uns an. 1978 bis 1980 gab es schätzungsweise zehntausend Sympathisanten der Roten Brigaden, mit denen die Klandestinen in Verbindung waren und die ihnen halfen. Von 1980 an gab es eine neue Krise, und alles hat sich aufgelöst. Die Gründe dafür waren vielfältig. Am spektakulärsten war das Phänomen der Pentiti [wörtl. »Reumütige«, so wurden sie vom Staat bezeichnet und bezeichneten sie sich selber]: der »Verräter«, wie wir sagten.
Es gibt ein Geheimnis in diesem Phänomen… Wie erklärst du es dir?
Bis 1980 waren 300 Genossen im Knast. Darunter gab es nicht einen, der mit der Justiz zusammengearbeitet hätte. Alle, die verhaftet wurden, erklärten: »Ich bin ein Kriegsgefangener«, sagten ihren Namen, ihren Vornamen, und da hörte ihre Beziehung zur Justiz auf. Seit 1980 begann ein genau entgegengesetztes Phänomen, das für uns schrecklich war. Hunderte und Aberhunderte von Genossen wurden verhaftet… in einem Jahr waren es 1 500. Und davon wurden 1 200 bis 1 300 zu Verrätern, die mit der Justiz, mit den Carabinieri zusammenarbeiteten und andere verhaften ließen. Dies war das offensichtlichste Phänomen. Wir haben uns also nach dem Grund dieser Krise gefragt. […] Meine These war: Wenn wir geschlagen wurden, dann nicht so sehr wegen der Verhaftungen, der gestiegenen Effizienz der Polizei, der Pentiti … Sondern weil es bei uns eine grundlegende Krise gibt, die der Reflex der Krise der italienischen Gesellschaft ist. Es gab einen Epochenwechsel von der agro-industriellen Gesellschaft der 60er/ 70er Jahre zur Gesellschaft, die man postmodern, amerikanisch, New-Yorker, Tertiärgesellschaft genannt hat. Dabei wurden das gesellschaftliche Subjekt und die Verhaltensweisen vollkommen umgewandelt; und auch die Vorstellungen der Leute über eine gesellschaftliche Veränderung haben sich gewandelt. Die revolutionäre Kultur, die wir bis dahin benutzt hatten, der Marxismus usw. das war alles nicht mehr gültig, nicht mehr zu gebrauchen.
Wir haben eine tiefe Krise durchgemacht, wie die ganze Linke. Die KP hat ihre erlebt, auf ihrer Stufe, aber sie war nicht extremistisch… Die Extremisten erleben die Dinge sehr viel schneller. Aber im Grunde genommen haben wir dieselbe Krise durchgemacht wie die italienische KP oder die KPF. Bis zum Ende sind wir Söhne der Partei geblieben. Wenn ich in meinem Buch von »Partisanen« rede, will ich zu verstehen geben, wie sehr wir an die Geschichte der italienischen Arbeiterbewegung gebunden waren.
Meiner Analyse nach war die italienische Gesellschaft dabei, sich radikal zu verändern. Und wir als Kinder eines Gesellschaftstyps, der dabei war zu verschwinden, waren auch zum Verschwinden verurteilt. Dies bedeutete nicht, daß wir mit dem Willen zur Veränderung Schluß gemacht hätten, daß wir nunmehr in der besten aller möglichen Welten lebten. Das bedeutete, daß wir nicht mehr Akteure der Veränderung waren, daß andere vielleicht unseren Platz einnehmen müßten. […]
Das Phänomen der »Pentiti« war aus zwei Gründen sehr beeindruckend. Es wurde zu einer Massenbewegung, und es gab den Spruch: Wenn ein »Pentito« zu reden anfängt, hört er nicht mehr auf …
Ja, ja. Es war, als würden sie ihr Gewissen befreien. Es erinnerte an eine Psychoanalyse. […] Meine erste Reaktion war: »Wenn ich die kriege, bringe ich sie um.« Aber dann habe ich mir gesagt, daß ich versuchen mußte, das Phänomen zu verstehen. Zunächst habe ich kapiert, daß in einem bestimmten Moment nach 78 — die Moro-Entführung — der Terrorismus der BR bei der Jugend zu einer Mode geworden ist. Negri vertritt ja die Theorie der Bedürfnisse; die Leute tun etwas, um Spaß zu haben, und sobald sie keinen Spaß mehr haben, gehen sie ins andere Lager über. Wir von der ersten Generation hatten eine genau entgegengesetzte Theorie: die des Opfers. Den bewaffneten Kampf aufzunehmen war das letzte auf der Welt, wozu ich Lust hatte. Gewalt anzuwenden, war ein Opfer, das ich brachte.
[…] Als ich mit einem der Jüngeren geredet habe, wurde mir klar, daß für sie der bewaffnete Kampf ein Bedürfnis war, so wie ins Kino zu gehen. Sie hatten das Bedürfnis, Gewalt auszuüben. Das war eine völlig andere Herangehensweise […] Ich habe Leute kennengelernt, die hatten getötet, ohne sich klar zu machen, was sie da taten. Und als sie dann geschnappt wurden, haben sie sich davon distanziert, haben sie ausgepackt, auf die allerselbstverständlichste Art. Das war für sie fast etwas Natürliches. […] Sie wollten ihre Kraft zur Schau stellen. Und als der Staat, indem er sie schnappte, ihnen bewies, daß er der Stärkere war, gingen sie auf seine Seite über. Sie hatten oft nicht mal Schwierigkeiten, sich mit den Carabinieri zu identifizieren. […] In den 70ern gab es für die Jungen keine Schule mehr, die war von der 68er Bewegung zerstört worden. Es gab die Theorie der garantierten Note [niemand bleibt mehr sitzen]. Du mußtest nicht mehr gegen einen Lehrer kämpfen, der dir auf den Sack ging. Die Eltern ließen die Kinder gewähren. Das war eine Generation, die niemand hatte, dem sie sich hätte widersetzen können. […] Die Generation nach uns hatte keine Lehrer, keine bösen Lehrer, alles war sehr einfach. Selbst auf der Ebene des Strafsystems; sie machten drei, vier Jahre im Knast ab und kamen dann raus — auch die, die nicht abgeschworen hatten. 1982 traten neue Bestimmungen über die maximale Dauer der U-Haft in Kraft, und viele der Jungen kamen raus, obwohl sie [in erster Instanz] zu 30 Jahren oder Lebenslänglich verurteilt worden waren. […]
Ziemlich faszinierend an der Geschichte ist, daß der bewaffnete Kampf und speziell die Roten Brigaden größtenteils durch die »Pentiti« geschlagen wurden. Und das Phänomen der »Pentiti« ist großteils den Medien zu verdanken. In einer bestimmten Phase entstand das Bild des Brigadisten, und Jugendliche identifizierten sich damit. Das war es, was die BR getötet hat.
Ja, so ist es. Vor vier Jahren haben wir in Rebibbia (das moderne Gefängnis von Rom) mit Journalisten ein Seminar organisiert über das Verhältnis zwischen Massenmedien und Terrorismus. Wir haben mit ihnen über den Gedanken der zwei Phasen unserer Geschichte diskutiert. Es gab eine erste Phase bis zur Moro-Entführung, in der wir für die Journalisten nie revolutionäre Kommunisten, sondern Banditen und Faschisten waren. Wir wurden genau als das Gegenteil von dem dargestellt, was wir waren. Nach 78 haben die Medien uns dann als Kommunisten dargestellt und uns eine politische Identität zuerkannt, aber die hatten sie selber aufgebaut.
Vor 78, als sie sagten, daß wir Faschisten seien, glaubten die Leute das nicht, weil sich das, was wir machten, zu sehr von dem unterschied, was die Faschisten machten. Das Bild, das sie von uns entwarfen, war also ineffektiv. 1978 gab es eine große Debatte über ein Interview von MacLuhan, im Corriere della Sera glaube ich, in dem er während der Moro-Entführung erklärt hatte, daß man, um die BR zu bekämpfen, »das Mikrofon abschalten« müßte, das heißt, in den Zeitungen nicht mehr darüber zu reden, das totale Schweigen zu praktizieren: denn die Terroristen lebten nur durch die Propaganda. Wenn Fernsehen und Zeitungen nicht mehr darüber redeten, würden die Terroristen von selbst verschwinden. Diese These wurde getauft »das Baby in der Muttermilch ersäufen«.
MacLuhan war nicht dumm, er hatte dies sicher als Provokation gesagt, um eine Diskussion anzufangen. Nun, man hat sich sehr intelligent dazu entschieden, darüber zu reden, aber in einer bestimmten Weise. Man hat sich entschieden, das Bild des Terroristen zu benutzen und daraus ein spezielles Bild zu konstruieren. Wenn man nicht mehr darüber geredet hätte, hätte man einen Raum freigelassen, den wir hätten besetzen können. Aber indem sie ständig darüber redeten, haben die Medien den ganzen Raum besetzt. Das war Kulturimperialismus im wahren Sinne des Wortes. Die Journalisten lieferten sich einen Wettstreit, wer überzeugender darstellen könne, daß wir Kommunisten seien. Genau so, wie sie vorher bemüht gewesen waren, uns als Faschisten darzustellen. Bald war die Unità, das Organ der KP, ganz allein mit ihrer Propaganda, daß wir Faschisten seien. Alle anderen schrien: »Nein, nein, das sind Kommunisten, das sind eure Kinder.«
Dahinter stecken natürlich politische Spekulationen, aber es stimmt, daß wir die Kinder der KP waren. Sie fingen also an, uns eine politische Identität zuzuerkennen, aber darüber haben sie das Bild aufgebaut, das ihnen paßte. Nun, was ist passiert: Das Kapitel über Moro, das im Buch »Den Kaiser vom Pferd ziehen« heißt, hatte ich »Die historischen Führer« genannt, denn meiner Meinung nach haben wir es seit der Moro-Entführung akzeptiert, von den Medien vermittelte Figuren zu werden, wir haben es akzeptiert, die Rolle der »historischen Führer« zu spielen.
Diese Rolle war einfach zu spielen, denn sie war nahe an der Realität. Wenn sie uns sagten: »Ihr seid Kommunisten, ihr seid Revolutionäre«, dann konnten wir die Rolle des revolutionären Kommunisten spielen. Sie lieferten das Szenario. Und wir fingen an, diese Rolle in den Medien, vor den Gerichten zu spielen, eine Art von Symbolen zu werden, Fahnen, die man hochhält. Das ist tragisch, aber das war in der Logik des Systems selbst; es war das, was das System von uns erwartete, und genau das haben wir getan. Wir im Knast genauso wie die draußen. Alle sind in ihre Rollen geschlüpft. Bei den Aktionen dachten wir daran, was die Zeitungen schreiben würden. Unser wirklicher Gesprächspartner war die Zeitung. Wir machten wirklich medienvermittelten Terrorismus.
Das war aber von Anfang an so. Ihr habt nach der Sossi-Entführung gesagt: »Es ist uns gelungen, die Mauer der Presse zu durchbrechen«.
Wir hatten immer dieses Problem: »die Mauer der Information niederzureißen«. Und wenn einem das gelingt, ist man von der Information gefangen. Man wird zu Figuren, die ihre Rolle rezitieren. Und die Jugendlichen, welche dieses Bild sehen, haben Lust, ihm zu ähneln. Es ist dasselbe Phänomen wie mit einer Rockgruppe, nur daß es hier, das ist das Tragische, um Leben und Tod geht.
Wir haben zum Schluß des Seminars gesagt: »Der schlimmste Terrorismus ist der, der nach Moro aufkam, der der Morde, der der Pentiti«. Und den entsetzten Journalisten sagten wir: »Das sind die Terroristen, die ihr gewollt habt. Das sind nicht unsere Kinder, das sind eure Kinder. Kommt mit ihnen zurecht!«
Mit euren Avantgarde-Aktionen konntet ihr aber vorhersehen, daß ihr zu Symbolen werdet, oder nicht?
Ich kannte Situationisten aus der 68er Bewegung, z.B. Cesarano, der sich später umgebracht hat. Wir haben eingehend mit ihm geredet, als wir unsere ersten Aktionen gestartet haben. Wir hatten mit ihm ein Diskussionsverhältnis. Nach seinem Selbstmord wurden bei ihm unsere ersten Dokumente gefunden. Er schrieb ein Buch Apokalypse oder Revolution, das ich später, 1974, im Knast gelesen habe, wo er uns kritisiert und bereits sagt, daß wir das letzte Spektakel der Medien seien. Er hatte vollkommen Recht, wenn man es danach beurteilt, was dabei herausgekommen ist. Ich habe mich immer an seine Überlegungen erinnert…
Wir wurden bis ins Innere selbst Medienfiguren. Wir wurden bis zum letzten benutzt. Ich weiß nicht, ob es unter uns Infiltrierte gab, Leute von der Polizei, die uns benutzt haben, aber eins ist klar, wir wurden von den Zeitungen benutzt. Nach 78 wurden wir zu einer Variablen des Systems, des Informationssystems und also des politischen Systems. […] Was wir nicht kapiert, nicht vorhergesehen hatten: In der Konsumgesellschaft ist die Information die grundlegende Ware. Und der Terrorismus ist von dem Standpunkt aus einer der größten Produzenten von Information, von Ware. Wir waren also Faktoren der Vermarktung. Wenn es uns nicht gegeben hätte, hätte uns das System erfinden müssen. […]
Es scheint, daß ihr zur Umgestaltung der italienischen Gesellschaft beigetragen habt. Das merkwürdigste in dieser Geschichte der neuen Generation ist, daß ihr wie eine Täuschung funktioniert habt. Ihr habt alles zu euch hingezogen, was die Maschine während der Veränderung der Gesellschaft hätte kratzen können. Und ihr habt als Beispiel gedient.
Wir waren eine Art Katalysator, ein Enzym, Beschleuniger der tiefen gesellschaftlichen Prozesse. In zehn Jahren sind in Italien, dank uns, fünfzig Jahre vergangen. Die Gesellschaft ist heute völlig anders, sowohl in den Mentalitäten und Verhaltensweisen wie in der Produktion. […]
… In Frankreich geht Kritik an den BR meistens in die Richtung zu sagen: »Die BR haben die revolutionäre Bewegung durch ihre stalinistischen Praktiken zerstört.« Wir — und einige andere — antworten, daß die BR existiert haben, weil die soziale Bewegung nicht fähig war, ihre eigene Gewalt durchzusetzen. Ich wüßte gerne deinen Standpunkt über eure Beziehungen zur Arbeiterklasse… Im Buch z.B. sprichst du von diesem Demozug in einer Fabrik, der stehenblieb, nachdem er losgegangen war, um sich einen der Chefs zu greifen… und du erzählst, daß ihr darauf für kurze Zeit diesen Typen entführt habt. Weißt du, wie die Arbeiter auf eure Aktion reagiert haben?
In der Tat haben nicht die Roten Brigaden das Ende der Arbeiterbewegung hervorgerufen, sondern das Ende der Arbeiterbewegung ist mit dem Ende der BR zusammengefallen. Wir waren niemals eine Massenbewegung, wir waren etwas Kleines, aber sehr Tiefgehendes im Arbeiterbewußtsein. …
Das große Unglück war, daß die Arbeiter uns gegenüber ein Verhältnis von Delegierung hatten. Bei FIAT wußten viele Arbeiter sehr gut, welche Kollegen zu den Roten Brigaden gehörten. Und sie hüteten sich wohl, sie zu denunzieren. Das hat Giuliano Ferrara bestätigt, der damals Verantwortlicher der KPI für die Mailänder Fabriken war. Statt ihre Kollegen zu denunzieren, sagten sie zu ihnen: »Dieser Chef hat die und die Schweinerei gemacht«. Sie wußten sehr gut, daß die Information zu den Richtigen gelangen und der Chef niedergeknallt wird. Die Haltung der Arbeiter war immer die, die Gewalt an uns zu delegieren. Sie hatten uns als heilige Beschützer. Das waren, wenn du willst, Opportunisten. Sie taten nichts, sie riskierten nichts, sie begnügten sich damit, Beschuldigungen zu verbreiten und für sie reichte das.
Es stimmt, daß die Fabriken zehn Jahre lang unregierbar waren. Hier sagt Agnelli die Wahrheit. Die Chefs bei FIAT waren eingeschüchtert. Die Arbeiter machten, was sie wollten, sie arbeiteten sehr wenig… Die Genossen haben mir erzählt, daß von 72 bis 79 alles gemacht wurde außer arbeiten. Und das unter anderem, weil wir auf die Chefs schossen. Wir waren eine Art Arbeitermafia.
Aber ich glaube nicht, daß wir das Ende der Arbeiterbewegung bewirkt haben; es war umgekehrt. Wir waren, in unserem kleinen Maßstab, ein Element, das der Arbeiterbewegung diente. Nicht der Partei und den Gewerkschaften, sondern den Kämpfen. Wir haben den Kämpfen sehr viel geholfen. Aber wir haben auch eine Reihe schrecklicher Fehler begangen…
Als die Roten Brigaden verschwunden waren, haben die Arbeiter nicht gesagt: »Jetzt müssen wir auf die Chefs schießen«, sondern »Oh, wenn die BR noch da wären…« Sie haben ihr Delegationsverhältnis verlängert gegenüber einer Phantomgruppe, einer Institution, die sie hätte verteidigen sollen.
Dann war da der schwere politische Fehler, wie die Moro-Entführung durchgeführt wurde. [..] Die unglaublichste Sache war es, daß Genossen Moro entführen, um der Christdemokratie den Prozeß zu machen. Dies ist eine sehr einfache Interpretation, da doch in Wirklichkeit der wahre Sinn der Entführung war, einen Schlag gegen den Historischen Kompromiß zu führen. Dies war der wirkliche politische Sinn. Wenn du die Flugblätter der Genossen von draußen nochmals liest, siehst du, daß ihnen nichts klar geworden ist. Man kann damit einverstanden gewesen sein oder nicht, aber dies war das Ergebnis der Operation. Wir im Knast hatten es plötzlich sehr wohl verstanden. Wenn du die Kommuniqués liest, die wir vor Gericht verlesen haben, wirst du sehen, daß wir folgendes sagten: »Genossen, es geht nicht darum, der Christdemokratie den Prozeß zu machen. Diese Aktion ist objektiv gegen den Historischen Kompromiß gerichtet. Ihr müßt eure Karte auszuspielen verstehen.« Aber es scheint, daß sie nichts verstanden hatten. Wenn es mit der Tötung Moros darum ging, dem Historischen Kompromiß ein Ende zu machen, wenn dies wirklich das war, was sie wollten, dann mußten sie die Entführung so durchführen, daß sie gewisse Dinge erhalten. Stattdessen haben sie ein Projekt zerstört, ohne im Austausch dafür etwas zu kriegen.
Es wurde gesagt, daß die BR von den Feinden des Historischen Kompromisses in der Bourgeoisie manipuliert wurden…
Wenn ich darüber nachdenke, dann ist objektiv gesehen genau das passiert. Moro zu töten, war die schlimmstmögliche Entscheidung. Aber ab einem gewissen Moment war es unmöglich, es nicht zu tun. Wir waren in einer Sackgasse. Als ob man auf uns eingewirkt hätte, direkt oder über die Medien. Das könnte eine rein äußerliche Manipulation gewesen sein… Keine Sache von Spionen…
Es ist wohl so, daß die Polizei den Ort entdeckt hatte, wo Moro gefangengehalten wurde und es laufen ließ…
Das scheint sicher zu sein. Wenn sie gewollt hätten, hätten sie die Aktion stoppen können. Aber sie zogen es vor, sie ablaufen zu lassen und auf die Folgen der Ereignisse einzuwirken. Das hat sich jedesmal abgespielt, aber man kann es nie beweisen… Wir hatten immer das Gefühl, daß sie uns stoppen würden, wenn es ihnen paßte, daß sie uns auch früher hätten stoppen können. Warum haben sie uns also nicht gestoppt? Wir haben es nie verstanden. Die Frage kam mehrmals im Laufe der Moro-Affäre aufs Tapet… Die befragten Carabinieri rechtfertigten sich so: »Wir ließen sie an der langen Leine, um andere Leute zu fangen.« Es ist sehr schwierig, auf juristischer Ebene das Gegenteil zu beweisen.
Im Moro-Prozeß sagten viele Leute, daß es seltsame Sachen in dieser Affäre gab.
[…] Im allgemeinen rechtfertigen sich die Vertreter des Staates hauptsächlich damit, daß sie seine Ineffizienz geltend machten. Sie sagen: »Zur Zeit der Moro-Entführung haben wir viele Fehler gemacht.« […] Aber ich vermute, daß ihre Ineffizienz Absicht war. Es war in Wirklichkeit eine große Effizienz. Es steckte viel Intelligenz hinter dieser Pseudo-Ineffizienz. Die Polizei und die Carabinieri haben unglaubliche Fehler gemacht… Es ist nicht zu glauben, daß Leute so dumm sind.
Es kommt sogar vor, daß Leute sehr dumm sind…
Aber der Verdacht kommt daher, daß dieselben Leute bei anderen Gelegenheiten sich als sehr intelligent erwiesen haben. Die Moro-Affäre ist sehr kompliziert… Es wird niemals gelingen, die Fäden zu entwirren, den roten Faden zu finden. Meiner Meinung nach — es handelt sich um eine Hypothese, die ich ausgehend von meiner politischen Analyse formuliere — handelte es sich um eine große Affäre, in die der Osten und der Westen verwickelt wurden, die westlichen und östlichen Geheimdienste. Zur Zeit der Entführung gefiel der Historische Kompromiß weder Kissinger noch Breschnew. Es gab also ein Spiel, in dem die einen gewähren ließen, die anderen so taten, als würden sie nicht sehen, wieder andere favorisierten die Hinrichtung. […]
Ich bin überzeugt, daß eine Entführung wie die von Moro unmöglich durchzuführen war ohne die Zustimmung der Russen. Sie hätten die Operation sicher stoppen können. Ich glaube nicht, daß eine so umfassende Aktion enden kann ohne zumindest das Gewährenlassen der Geheimdienste. Das ist meine Meinung. […]
aus: Wildcat 56, Juli 1991