Wildcat Nr. 57, Oktober/November 1991, S. 38–40 [w57_template.htm]
D E B A T T E
»...Diese pomphaften Reden vom Besten der Menschheit und der Unterdrückung derselben...«
Drei zu eins für wen?
Ein neuer Kult-Text macht seit knapp einem Jahr die Runde in der autonomen Szene. »Drei zu eins« von Klaus Viehmann, der wegen Mitgliedschaft in der Bewegung 2. Juni im Knast sitzt, wurde mehrmals nachgedruckt, zuletzt im Buch des ID-Archivs mit dem treffenden Titel »Metropolen(-Gedanken) und Revolution«. «Hast'n schon gelesen», «Sauguter Text. Ächt total wichtig«, sind übliche Kommentare von LeserInnen. Was sie so gut oder wichtig daran finden, können sie aber selten sagen. Es kommt eben alles drin vor: Antikapitalismus, Antisexismus, Antirassismus...
Hallo Klaus!
Wir haben lange überlegt, was wir mit Deinem Text anfangen sollen: veröffentlichen? Verriß? Drauf eingehen? Dir nen Brief schreiben? Nachdem der Text nun mehrfach veröffentlicht ist, haben wir uns zu diesem offenen »Brief an unseren Leser« entschieden.
Was will Dein Text eigentlich? Will er endgültig mit dem Klassenkampf abrechnen (Triple oppression statt Klassenkampf), oder ist das Ganze ein Versuch, einen modernen Klassenbegriff zu bestimmen? Wen greifst Du eigentlich an? Mit wem setzst Du Dich auseinander? Die zitierte Literatur ist in den 80er Jahren von Frauengruppen, von ImmigrantInnengruppen und vielen anderen sehr ernsthaft diskutiert worden. Die Diskussionen über die neue Klassenzusammensetzung, über die innere Widersprüchlichkeit der Klasse, sind auf halber Strecke steckengeblieben — oft sind die Gruppen selbst an diesen Widersprüchen kaputt gegangen. Aber mit ihnen setzt sich der Text nicht auseinander. Stattdessen hälst Du einer (nicht näher definierten) marxistischen Orthodoxie abstrakt die alltäglichen Widersprüche innerhalb der Klasse entgegen. Das gerät natürlich zum Kampf gegen Windmühlenflügel — oder willst Du Dich tatsächlich mit den letzten standhaften Stalinisten oder Trotzkisten auseinandersetzen? Aber auch das tust Du nicht, Du verteilst nur Seitenhiebe.
Wir gehen davon aus, daß Du und Deine MitdiskutantInnen wie wir auf der Suche sind nach einem modernen Begriff von Klasse, der die wirklichen Widersprüche enthält und auf der Höhe der heutigen Kämpfe ist. Diese Diskussion ist heute wichtiger denn je. Die Wildcat hat in der Vergangenheit oft eine etwas mystische »Klasse« verteidigt, uns wurde ungerechtfertigter Optimismus oder die Blindheit gegenüber Frauenunterdrückung und Rassismus vorgeworfen. Wir wollen deshalb Euren Text so kritisieren, daß eine weitere Diskussion möglich ist.
Unter Klassenbegriff stellen wir uns allerdings keine »Theorie« vor, die behauptet, »all diese Kämpfe erklären und auf einen Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital zurückführen zu können und der damit die Arbeiterklasse zum revolutionären Subjekt bestimmt.« Der Begriff Klasse sucht die materialistische Begründung für die Möglichkeit der Revolution, sucht nach den Kräften, die imstande sind, das Kapitalverhältnis zu zerschlagen. Klasse verstehen wir als revolutionäre Kategorie, als politisches Projekt von Befreiung.
Proletariat
»Die Situation zwischen Metropolen und Trikont und deren Hinnahme durch die Masse der metropolitanen ArbeiterInnen kennzeichnet nicht nur eine (nebenwidersprüchliche) Spaltung des behaupteten Weltproletariats, sondern sie beweist seine Inexistenz.«
Mit der Ausbreitung des Kapitalverhältnisses in die letzten Winkel der Erde ist die weltweite Proletarisierung Wirklichkeit geworden: in den »entwickelten« Regionen lebt die große Mehrheit der Menschen in kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen. Es gibt riesige Unterschiede im Lebensstandard — zwischen den Kontinenten, aber auch innerhalb einer Großstadt. Die Begriffe »Metropole« und »Trikont«, so wie sie im Text verwendet werden als feste Abgrenzungen von Welten, verdecken aber immer wieder den Klassenantagonismus in den armen Ländern, und wie rasch sich diese Weltaufteilung ändern kann — wie nahe ist heute die Armut in Osteuropa, der Bürgerkrieg in Jugoslawien. Es überrascht uns »MetropolenbewohnerInnen« doch immer wieder, wie modern oder metropolitan das Proletariat in sogenannten Ländern des Trikonts ist und kämpft.
Das Kapital hat die Welt kleiner gemacht, durch Medien, Transport, durch einen weltweiten Markt von Arbeitskraft usw. Wer heute aus Sri Lanka nach Berlin kommt, weiß, was ihn dort erwartet. Die Fernsehbilder von den Riots, die aus den Ghettos von Sao Paulo, Johannesburg und London kommen, gleichen sich. Südkoreanische TextilarbeiterInnen sind in der Lage, die Ausbeutungssituation ihrer westdeutschen Kolleginnen zu verstehen und Gemeinsamkeiten festzustellen usw.
Dieses sich weltweit herausbildende Proletariat ist freilich weit von jener ominösen »Einheit« entfernt: es gibt Frauenunterdrückung, Schwulenunterdrückung, Kinder werden geprügelt, einzelne Schichten konkurrieren miteinander, lassen sich für nationalistische Ziele einspannen, stechen sich gegenseitig ab.
Die Widersprüche innerhalb des Proletariats versucht der Text in den folgenden drei Abschnitten in zwei weiteren (Hauptwidersprüchen?) zu fassen, die er dem Klassenwiderspruch gegenüberstellt:
Erstens (II): Der Klassenbegriff muß endlich überwunden werden, weil er Rassismus und Sexismus verdeckt.
Zweitens (III): Der Rassismusbegriff ist zu ungenau, weil er die Frauenfrage und sozialen Unterschiede (Klassenlage?) außer acht läßt.
Drittens (IV): Der Anti-Sexismus muß sich den Vorwurf der schwarzen Frauen gefallen lassen, daß er rassistisch ist und außerdem das kapitalistische Gewaltverhältnis zu wenig berücksichtigt.
Ihr sucht nach einem revolutionären Subjekt, wollt es aber weder aus einer Dualität, aus einem Hauptwiderspruch ableiten, noch aus einer Addition von Unterdrückungen, bei der dann die »schwarze Frau« übrig bleibt. Der Text schlägt als Lösung vor, das ganze als »netzförmig angelegte Herrschaft« zu betrachten, wobei bei jedem Faden und Knoten OBEN und UNTEN erhalten bleibt.
Der Begriff »netzförmige Herrschaft« definiert Unterdrückungsverhältnisse zwischen Menschen, es taucht kein Feind mehr auf, den es zu zerstören gilt. Er führt nicht zur Revolution. Denn dieses Netz bleibt statisch, die Widersprüche bleiben als Kategorien festgeschrieben. Diese »Analyse« zeigt doch gerade nicht, daß all diese Widersprüche keine historischen Konstanten sind, sondern sich in bestimmten Phasen zuspitzen und innerhalb von revolutionären Bewegungen auflösen können. Deshalb kann der Begriff »Herrschaft« nicht — wie Ihr meint — der »zentrale Begriff« sein.
Wir wissen, daß der Kapitalismus die Herrschaftsverhältnisse zum Beispiel zwischen Männern und Frauen nicht automatisch aufhebt, indem er beide zu LohnarbeiterInnen macht, sondern auf einer anderen Ebene neu errichten kann: Die »Hausfrau« ist ein Produkt des Kapitalismus. Deshalb sind die Kämpfe der Frauen gegen diese Hausarbeit heute konstituierendes Moment des Klassenkampfs. Statt von Definitionen müssen wir vom wirklichen historischen Prozeß ausgehen, in dem sich ständig Herrschaftsverhältnisse verändern. Junge gegen Alte, Homosexuelle gegen Heterosexuelle, Kranke gegen Gesunde: An all diesen Fronten sind in den letzten Jahren Bewegungen entstanden. Zu untersuchen, wie sich bei aller Unterschiedlichkeit ein weltweites Proletariat herausbildet, ein weltweites Kampfverhältnis zum Kapital, läßt die Unterschiede nicht außer acht, sondern versucht die Veränderungen und Umbrüche zu begreifen.
Klasse ...
Die These vom Haupt- und Nebenwiderspruch hat immer dazu gedient, eine große Masse hinter dem Projekt der Eroberung der politischen Macht durch die Partei zu organisieren. Als dies erreicht war, wurden die Widersprüche nicht aufgelöst, sondern festgeschrieben. Dieses Konzept ist nicht unseres.
Deshalb ist es richtig, all jene Vorstellungen der leninistischen Parteien von der monolithischen Klasse (die Klasse steht da wie ein Mann, ein Fels...) zu kritisieren. Aber es reicht nicht, diese im Stil der bürgerlichen Soziologie in verschiedene Schichten oder Hierarchien einzuteilen:
»Die Spitze bilden die gehobenen Weiße-Kragen-Jobs (Forschung, Konstruktion, Verwaltung) mit deutscher überwiegend männlicher Arbeitskraft, — es folgen die Facharbeiter und Vorarbeiter in den Fabriken; sie setzen sich zusammen aus deutschen Männern und der obersten Sprosse der ausländischen Arbeitskräftehierarchie, nämlich Italienern, Spaniern, Jugoslawen, ebenfalls männlichen Geschlechts, — dann kommen die Türken, Marokkaner und die ausländischen Frauen insgesamt (in der industriellen Massenarbeit und im Dienstleistungssektor), — ganz unten die Flüchtlinge beiderlei Geschlechts (aus einem Flugblatt der Aktionsgruppe Günter Sare vom Sommer 1989)«. Denn Eure Analyse ist objektivistisch, ihr zerlegt die Klasse in verschiedene Schichten und könnt so die Frage nach ihrer (revolutionären) Subjektivität nicht beantworten. Es bleiben dann zwei Möglichkeiten: durch die Hintertür doch wieder das schon fertige hehre Subjekt einführen (»die am meisten Ausgebeuteten...»), oder sich selber, die »revolutionäre Intelligenz«, die »autonome Bewegung« o.ä. zu diesem Subjekt zu stilisieren. Aber so kommen wir nicht weiter, so landen wir immer wieder bei leninistischen oder jakobinischen Vorstellungen.
In der italienischen Diskussion der 60er Jahre wurde mit dem Begriffspaar »technische/politische Klassenzusammensetzung« ein Instrument entwickelt, um die inneren Widersprüche in der Klasse untersuchen und zuspitzen zu können, ohne dabei die Dynamik des Klassenkampfs aus den Augen zu verlieren. Eine Fraktion hat dann daraus die Vorstellung entwickelt, daß sich die Dialektik technisch-politisch umdrehen ließe - was den Aufbau einer »Avantgardepartei« leninistischen Typs wie Potere Operaio legitimieren sollte.
Heute stehen wir vor dem Problem, daß es überall auf der Welt Kämpfe gibt, aber nirgends ein homogenisierendes Subjekt auftritt. Die Situation erscheint völlig »offen«. Der Untersuchungsansatz »Klassenzusammensetzung« muß sich freimachen von der Vorstellung, das »homogenisierende Subjekt« bereits fix und fertig irgendwo zu finden — man müsse nur richtig suchen. Stattdessen muß er all seine Dynamik ausspielen in der Fähigkeit, die vielen verstreuten Kämpfe in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu entdecken und zu verstehen: um eingreifen zu können. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns auf die wirkliche Welt mit ihren Widersprüchen einzulassen und dort Anknüpfungspunkte für revolutionäre Tätigkeit zu suchen. Nicht als »Politik für andere«, sondern weil wir unsere eigenen Utopien und Hoffnungen auf Befreiung noch nicht über den Haufen geworfen haben.
... Macht ...
»Getrennt von objektiv vorhandener Macht bleibt revolutionäres Wollen ziemlich folgenlos«, schreibst Du und fragst nach dem Zusammenhang zwischen »materieller Lage« und »revolutionärer Kampfbereitschaft«. So landest Du bei der Arbeiterklasse. Jede soziale Bewegung kommt irgendwann mal an den Punkt, daß die Revolution nicht allein eine Veränderung des Bewußtseins vieler ist — das wäre Christentum —, sondern daß es auch ein Kampf um die Macht in Produktion und Gesellschaft ist. Die ArbeiterInnen in den Zentren der Mehrwertproduktion sind in der Lage, die Brocken hinzuschmeißen und die Verwertung zu blockieren, das haben sie auf der ganzen Welt immer wieder gemacht und damit Regierungen zu Fall gebracht. Aber ist revolutionäre Macht als »objektiv vorhanden« überhaupt vorstellbar? Macht ist nicht ohne Inhalt diskutierbar — sonst landet man unweigerlich beim (stalinistischen oder nazistischen) Produzentenkult oder bei modischen Vorstellungen von Technikersabotage.
Die »Arbeiterklasse«, die Du als »weiß und metropolitan« bezeichnest, hat doch wohl nur in den Köpfen der Führer der offiziellen Arbeiterbewegung existiert. Denn seit Beginn der Industrialisierung haben die Kapitalisten kräftig nach Hautfarbe und Geschlecht gemischt, um die »Einheit« so schwer wie möglich zu machen.
Die einzelnen ProletarierInnen sind durch eine Unzahl von Widersprüchen voneinander getrennt. Macht können sie jedoch nur erlangen, wenn sie sich gemeinsam bewegen, revoltieren, organisieren und ihre Widersprüche untereinander austragen. Dort, wo das Kapital sie zusammengebracht hat, sind die Kampfbedingungen meist am besten. Um kämpfen zu können, gehen sie dorthin, wo sie bessere Bedingungen erwarten. Sie fliehen aus der feudalen Unterdrückung in die Stadt, aus dem Kleinbetrieb in die Fabrik, aus Afrika nach Europa... Viele Frauen verlassen das Haus und suchen sich eine Arbeit, weil sie isoliert im Haus und über den Mann kein Verhältnis zur Gesellschaft draußen herstellen können... Sie suchen Veränderung.
... und Revolution?
Allein aus den Kämpfen für ein besseres Leben entsteht noch kein »kämpfendes Proletariat« mit Zielen von Befreiung, die über die unmittelbaren Bedürfnisse der einzelnen (Essen, Wohnung) hinausgehen. Wie oft haben Häuserkämpfe ihr Ende darin gefunden, daß die Besetzer eine Wohnung zugesprochen bekamen. Überall, wo Menschen zur Arbeit in Fabriken gezwungen werden, werden sie immer wieder rebellieren und immer wieder erfolgreich eine Veränderung erkämpfen. Aber wie oft hat der nach einem Streik abgeschlossene Tarifvertrag jahrelange Ausbeutung garantiert.
Die Kämpfe stoßen immer wieder an innere Grenzen, aber der Intellektuelle, der für all diese lebendigen Widersprüche schon seine alten Kategorien parat hat von »ökonomischen und politischen Kämpfen«, von »gewerkschaftlichem Bewußtsein« und »revolutionärer Partei« usw., hinkt den Kämpfen hinterher. Die Klasse hat diese Schablonen immer wieder überwinden können: die Lohnkämpfe des Massenarbeiters waren jenseits des »ökonomisch-politisch«, die bunte Zusammensetzung in den Kämpfen der 60er Jahre (Schwarze, Hausfrauen, Fließbandarbeiter, Jugendliche...) war schon jenseits »des männlichen Lohnarbeiters« usw.
Der Widerspruch liegt im Kapitalverhältnis selbst begründet: Die Arbeiterklasse ist als Produzentin des Werts Teil des Kapitals; sie reproduziert die herrschenden Verhältnisse. Als ausgebeutete Klasse ist sie gleichzeitig größter Feind im Innern des Kapitalverhältnisses selbst. Entlang dieses Widerspruchs entwickelt sich der Klassenkampf — und ist dabei immer vor allem Kampf der Klasse mit sich selbst.
Ein revolutionärer Prozeß ist nur vorstellbar als massenhafte Selbstveränderung, indem Menschen im Rahmen von gesellschaftlichen Kämpfen ihren Individualismus überwinden, neue soziale Beziehungen eingehen und damit zugleich die alten gesellschaftlichen Verhältnisse über den Haufen werfen.
Der letzte Rassismus ist der Antirassismus
Der Text verfängt sich ständig in seiner fein geordneten Begriffs- und Definitionswelt und legitimiert — konfrontiert mit der Schlechtigkeit der Welt — den Rückzug auf die eigene moralische Geläutertheit: ich bin gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus.
Dieser Rückzug auf die Moral wird — wie in allen Religionen — damit erzwungen, daß Menschen per Geschlecht, per Hautfarbe, per Geburt »Böses« zugeschrieben wird. Es wird nicht mehr ausgegangen von gesellschaftlich fixierten Gewaltverhältnissen oder Geschlechterdefinitionen, von Warenbeziehungen zwischen Menschen usw., sondern die Rede ist von »die Männer«, »die weißen Frauen«, »die Flüchtlinge«, »die MetropolenbewohnerInnen« alles quasi biologische Kategorien. Es ist wie in der Kirche: egal, was eineR macht, es ist eine Sünde. So hat dann der weiße Mann ein schlechtes Gewissen und legitimiert deshalb rassistische Vorstellungen bei Schwarzen: »Von 'Rassenbewußtsein' motivierte Kämpfe sind als Schwarze Kämpfe antirassistisch!« Laß die armen Schwarzen ruhig mal rassistisch sein — einem weißen Menschen freilich wäre das nicht zu verzeihen. Das sind die alten Kategorien vom guten und schlechten Nationalismus, die die Linken lange genug wiedergekäut haben.
Der Fehler beginnt schon da, wo Ihr die Welt in ein Netz von Unterdrückungsverhältnissen aufzuteilen versucht. Dieses Aufzeigen immer neuer Widersprüche oder Herrschaftsverhältnisse endet beim atomisierten Individuum, das sich gegen Unterdrückung wehrt oder sie akzeptiert. Also »Recht auf Selbstbestimmung«, Existenzialismus: »das Leben als Kampf« und letztlich Demokratie und »Freie Marktwirtschaft« als beste Gesellschaftsformen. Was hat das mit den Machtperspektiven wirklicher Bewegungen zu tun? Kollektive Befreiung wird mehr heißen, als drei rausgepickte »Herrschaftsverhältnisse« zu beseitigen. Schluß mit aller Arbeit, weg mit dem Geld, Zerstörung des Wahnsinns der Stadt oder der Medizin. In ihrer revolutionären Tätigkeit werden die Menschen noch Dinge in Frage stellen, die uns heute nicht mal bewußt sind.
Der Text verstärkt die Tendenzen in der autonomen Linken, sich in lauter Mikrowidersprüche zu verrennen, sich von jeder sozialen Realität abzukoppeln und letztlich nur mit der Gewißheit »Wir haben die bessere Moral« in Kontakt nach außen zu treten. Das wird dann legitimierbar durch »die sind sexistisch, die sind rassistisch, die sind...«. Und genau deshalb werden die »Autonomen«, die in dem Text ständig kritisiert werden, durch die Lektüre eher in ihrer Haltung bestätigt. Denn in einer zunehmend chaotischen Welt gibt er die Gewißheit, auf der richtigen Seite zu stehen. Aber er gibt wenig in die Hand, die lebendigen Widersprüche zu untersuchen, zu verstehen und politisch in sie einzugreifen.
»... diese pomphaften Reden vom Besten der Menschheit und der Unterdrückung derselben, von der Aufopferung fürs Gute und dem Mißbrauch der Gaben — solcherlei ideale Wesen und Zwecke sinken als leere Worte zusammen, welche das Herz erheben und die Vernunft leer lassen...; Deklamationen, welche nur diesen Inhalt bestimmt aussprechen, daß das Individuum, welches für solche edle Zwecke zu handeln vorgibt und solche vortreffliche Redensarten führt, sich für ein vortreffliches Wesen gilt, — eine Aufschwellung, welche sich und anderen den Kopf groß macht, aber groß von einer leeren Aufgeblasenheit.«
aus: Wildcat 57, Oktober/November 1991