Rückkehr nach China
von Charles Reeve
Charles Reeve, bekannt als Autor des Buches Der Papiertiger über die Entwicklung des Kapitalismus in China (1971; deutsch: Verlag Assoziation, Hamburg, 1975) hat nach dem Massaker in Peking vom Juni 89 China bereist und analysiert im vorliegenden Artikel (übersetzt aus der französischen Zeitung Le monde libertaire, Juni 91) die chinesische Wirtschaftspolitik, die Studentenbewegung und die Ereignisse, die zum Massaker geführt haben.
»Der Papiertiger« war ein Versuch, der damaligen Begeisterung für die chinesische Kulturrevolution eine materialistische Analyse der chinesischen Gesellschaft entgegenzustellen. Unter dem Motto »All den Genossen gewidmet, die immer noch glauben, anstatt zu denken« bringt er einen historischen Überblick von den Streiks und Aufständen der chinesischen Arbeiterklasse in den 20er Jahren über die Gründung der Volksrepublik bis zur Beendigung der »Kulturrevolution« per Dekret. Er kommt dabei zu ähnlichen Ergebnissen wie Cajo Brendel (Thesen über die chinesische Revolution, Edition Nautilus, Hamburg 1977):
Entgegen der maoistischen Darstellung war die Bodenreform, wie auch später die Einführung der Volkskommunen kein egalitäres Experiment, sondern nur der Notwendigkeit geschuldet, die Kapitalakkumulation auf dem Land in Gang zu bringen, während in der Industrie durch die Einführung des vorbildlichen Sozialsystems eine Art Keynesianismus praktiziert wurde. Eine Besonderheit des chinesischen Staatskapitalismus war allerdings die Zuhilfenahme ideologischer Kampagnen und der Einsatz der Kategorie »Bewußtsein«, stärker als dies z.B. in der SU praktiziert wurde. Dabei waren Kampagnen wie der »Große Sprung nach vorn« oder die »Kulturrevolution« nur Höhepunkte in der Forcierung der kapitalistischen Entwicklung.
Die politische Entwicklung in der Volksrepublik China hat sich immer auf der Grundlage der sozialen Widersprüche, im Spannungsfeld zwischen staatlichem Kapital und Arbeiterklasse vollzogen. Erhöhung der »Produktivität« und Verschärfung der Ausbeutung sind die Seiten derselben Medaille. Die Annäherung an den »normalen« Kapitalismus führte zu Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse (in »Orthodoxe« und »Reformer«). Differenzen über die Frage, wie die Produktivität der Arbeit erhöht werden kann. Aber auch Differenzen über die Beteiligung an der Macht und über die Beteiligung an den Privilegien. In diesem Sinne gibt es wesentliche Parallelen in der Entwicklung aller »staatskapitalistischen« Gesellschaften. Während in Europa der Machtkampf innerhalb der staatlichen »Eliten« entschieden scheint, ist diese Frage in Asien noch offen. Und ebenfalls noch offen ist die Frage, ob sich die chinesischen (und vietnamesischen) ArbeiterInnen ebenfalls durch die soziale und politische Katastrophe der »Befreiung vom Joch des Kommunismus« schicken lassen werden.
Ende 1990 verkündet Li Peng eine Wiederaufnahme des »Reform«prozesses, im Laufe dessen »der dem Markt zufallende Anteil der Wirtschaft wachsen wird«. Bereits seit Monaten wußte das internationale Kapital, daß die »Rezentralisierung der Wirtschaft« nichts anderes war als eine leere ideologische Formel im Rahmen der Wiederherstellung des sozialen Friedens, der durch den Frühling 1989 erschüttert worden war. Die Kapitalisten haben die vorgeschlagenen Sanktionen der Menschenrechts»vertreter« nicht durchgeführt und ihr Vertrauen in den Fortgang der »Reform«politik gezeigt; die Investitionen steigerten sich auf einen neuen Rekord seit 1949. Im April 1991 wird der Bürgermeister von Shanghai zum stellvertretenden Premierminister ernannt. Dieser »Reformer« symbolisiert gut die Verbindung zwischen der Repression im Frühling 1989 und der Notwendigkeit der Fortsetzung der »Deng-Linie«. In Shanghai sprach er sich gegen die Intervention der Armee aus, organisierte aber öffentliche Prozesse, in denen ProletarierInnen, die an den Revolten teilgenommen hatten, zum Tode verurteilt wurden. Ein unwiderlegbarer Beweis seiner Reformqualitäten! Wie nach jeder sozialen Bewegung, die die herrschende Ordnung in Gefahr bringt, eignen sich diejenigen, die die repressive Aufgabe im Namen der Orthodoxie übernommen haben, in der Folge die Vorschläge der Reformer an, die sie auf der Strecke gelassen haben. Und wie sollte es auch anders sein? Es scheint, daß die herrschende Klasse allein durch die Fortführung der »Deng-Linie« die Krise des chinesischen Staatskapitalismus überleben kann. Es geht um die bestmögliche Verwaltung der destabilisierenden sozialen Konsequenzen der »Reform«politik. Aber greifen wir nicht vor!
Zu Beginn ist es wichtig zu sehen, wie die Bewegung des Frühlings 1989 selbst ein Produkt der »Reformen« war; wie die breite Beteiligung aus dem Volk den Rahmen der staatlichen Strategie gesprengt hat. Die Politik der »Modernisierung und der Reformen«, die um 1977-78 von der herrschenden Klasse in China in Gang gesetzt wurde, fand ihren Ausdruck in einer verstärkten Öffnung für den Markt. Der Privatbesitz wurde wieder zum vorherrschenden Element in der Landwirtschaft; kleine lokale Industrien wuchsen rasch; ausländisches Kapital investierte massiv in »freie Produktionszonen«. Für einige Jahre schien dieser Kurs eine Alternative zum Niedergang der zentralisierten Wirtschaft darzustellen. Am Ende der 80er Jahre erscheint dennoch die Inflation in China als ein Symptom eines wirtschaftlichen Defekts und wie eine Offenlegung der Krise des Produktionssystems. Dieses Mal ist die landwirtschaftliche Produktivität nicht mehr das grundlegende Problem des Staates. Indem die private Landwirtschaft favorisiert wurde, haben die »Reformer« das Abführen eines bedeutenden landwirtschaftlichen Überschusses erreicht. Das war der große Erfolg der »Deng-Linie«. Doch diese Überschüsse führen nicht zu einer verstärkten sozialen Akkumulation, sie finden kein Gegenstück in einer Wiederaufnahme der industriellen Investitionen. Die klassische Entwicklung der kapitalistischen Akkumulation eine industrielle Entwicklung als Folge einer gestiegenen landwirtschaftlichen Produktivität blieb blockiert. Die »Modernisierung« der Ausbeutung der Arbeitskraft in den alten staatlichen Sektoren war ein weiteres Mal vor eine ungewisse Zukunft gestellt. Nur das massive Eindringen von privatem ausländischem Kapital führte zu einer intensiven Ausbeutung eines Teils der Arbeiterklasse. Die bedeutendste Konsequenz war dabei der Bruch, der innerhalb des chinesischen Proletariats entstand, zwischen den Beschäftigten der alten industriellen Sektoren (»eiserne Reisschale«) und der neuen Industrien (»Reisschale aus Porzellan«). Mit staatlichen Mitteln ermöglichte die kommunistische Macht den wohlhabenden Bauern die Umwandlung ihres Überschusses in Geld. Ein Konzentrationsprozeß in der Landwirtschaft und der Aufschwung kleiner lokaler Industrien waren die Folge. Ein Teil dieser Geldmenge realisierte sich auch im Konsum von Importgütern. So wurde dieser landwirtschaftliche Überschuß, der durch die »Deng-Reformen« mit viel Kosten geschaffen worden war, zu einem Grund der Inflation. Die »Lösung« verwandelte sich in ein neues Problem! Die staatlichen Zuschüsse für die Landwirtschaft wurden anfangs von den Industrieinvestitionen abgezweigt, die bereits wenig effektiv waren. Die Idee der Herrschenden bestand darin, daß das soziale Kapital hier gut aufgehoben sei; der finanzierte landwirtschaftliche Überschuß sollte später in industrielle Akkumulation kanalisiert werden. Das hieß, sich keine Gedanken über die Bedürfnisse dieser neuen ländlichen Schichten zu machen. Die waren mehr daran interessiert, in kleine rentable Werkstätten zu investieren, den Schwarzmarkt und die staatliche Korruption zu versorgen, als die Zukunft zu sichern. Die Korruption und die Inflation sind allerdings nicht, wie die Slogans des Frühlings 1989 sagten, die Gründe für die wirtschaftliche Stagnation, sondern vielmehr deren Konsequenzen.
Um mit diesem »Reformkurs« fortfahren zu können, sah sich der chinesische Staat zusehends dazu gezwungen, Kredite aufzunehmen und ausländisches Kapital anzulocken. Die in Gang gesetzte Inflationsspirale stieß rasch an die Grenze des sozialen Drucks im Land (Kaufkraftverlust der Bevölkerung) und an Einschränkungen im internationalen Geschäft (Schuldenlast). Um 1988 traf die herrschende Klasse die Entscheidung, diese Dynamik durch eine Änderung der Wirtschaftspolitik zum Halten zu bringen. Die Kreditbedingungen wurden verschärft und der Staatseinkauf bei den Bauern eingeschränkt. Das Ziel war die Einschränkung der Aktivitäten der ländlichen Kleinindustrie und die Einschränkung des Konsums der neuen wohlhabenden Schichten auf dem Land. Nur war die Arznei schädlicher als die Krankheit! Zu der bereits angespannten Situation in den Städten wo die Inflation zu gravierenden sozialen Unterschieden geführt hatte kam der Zerfall des sozialen Gefüges auf dem Lande. Anfang 1989 migrierten Millionen von ArbeiterInnen innerhalb des Landes, strömten in die Städte, versuchten, sich in den »Freizonen« niederzulassen, wo das internationale Privatkapital Arbeit anbietet. Dieses »mobile Proletariat« (wie es die chinesische Presse nennt) setzt sich in seiner Mehrheit aus einer Landbevölkerung zusammen, die durch den landwirtschaftlichen Konzentrationsprozeß und den Konkurs vieler kleiner ländlicher Fabriken freigesetzt worden war. Unter ihnen befinden sich auch viele StädterInnen, die ihre Arbeit in der staatlichen Industrie verloren haben; die ersten Opfer des Zerlegens des Systems der »eisernen Reisschale«. Zu Hunderttausenden versammeln sie sich vor den Bahnhöfen [1], stürmen die Züge und fallen in die Städte ein. Wenn man den offiziellen Zahlen Glauben schenkt, sind es 1989 50 Millionen; darunter mehr als eine Million in Peking und Kanton, und zwei Millionen in Shanghai. Schwierigkeiten bei der Lebensmittelversorgung, Bettelei und Kriminalität nehmen zu. Kurz gesagt: die strenge Kontrolle der Bevölkerung, die es seit der Revolution gab, bricht zusammen. Im April 1989, während der ersten Demonstrationen der StudentInnen, gestanden die Herrschenden ein, daß sie schwere Aufstände in der Provinz niederschlagen mußten. Die Aufständischen, die »den Eindruck von Arbeitslosen und anderen Marginalisierten machten«, plünderten Läden, zündeten öffentliche Gebäude an und griffen die Polizei an. Diese soziale Revolte gab es in latenter Form bereits seit Monaten. In manchen Gegenden überfielen in Banden organisierte Bauern Bahnhöfe und plünderten die Güterzüge: »All das haben wir mit unserem Schweiß und unserem Blut bezahlt«, sagte einer von ihnen. Andernorts stürmten Gruppen die Züge und enteigneten den Besitz von Bürokraten und Geschäftsleuten. Während eines gewissen Zeitraums nahmen die Mobilisierungen der StudentInnen ein nationales Ausmaß an, konzentrierten die Aufmerksamkeit auf sich und verdrängten diese sozialen Revolten aus den Medien. Dennoch belegten auch sie sehr deutlich den explosiven Zustand der Klassenverhältnisse: sie offenbarten bereits den eingeschränkten Handlungsspielraum der Herrschenden. Sie konnten nicht zulassen, daß ihnen die Agitation der StudentInnen für mehr Demokratie durch die Revolte des Volkes aus dem Ruder lief. Das war aber genau das, was dann passierte!
Die Krise des Ausbildungssystems und der Aufstieg des Elitedenkens
Bevor wir die Inhalte der Bewegung des Frühlings 1989 diskutieren, ist es wichtig kurz auf die materiellen Lebensbedingungen der chinesischen StudentInnen einzugehen. 1978 wurde das Bildungssystem in Einklang mit der neuen Politik der »wirtschaftlichen Modernisierung« reorganisiert. Das Ziel war, die Ausbildung den Erfordernissen der Produktivität anzupassen. So wurde auf die vergangenen Kriterien des Wettbewerbs und der Elite zurückgegriffen; Kopfarbeit wurde wieder gegenüber der Handarbeit aufgewertet. Die Hierarchien an der Universität, das Mandarinat (privilegierte Klasse in China) wurden wiederhergestellt und aufgewertet; »Pilotschulen« mit dem Ziel der Elitebildung wurden eröffnet. All das bedeutete ein Infragestellen der maoistischen Ideologie. Es wäre sehr naiv, zu glauben, daß dieser Schritt zurück etwas mit dem »Anrecht« der proletarischen Klassen auf Bildung zu tun hätte. Der Egalitarismus maoistischer Prägung verhüllte nur schlecht eine andere Form der Selektion, die auf Parteigängertum beruhte. In der maoistischen Periode, die durch die gerechte Verteilung des Mangels gekennzeichnet war, war die Grundbildung für die gesamte Bevölkerung gesichert. Nichtsdestotrotz paralysierte seit Mitte der 60er Jahre eine Atmosphäre der Gewalt und der politischen Agitation das Ausbildungssystem. Zehn Jahre später, zu Beginn der Politik der »Modernisierung«, ist die Situation eine völlig andere. Die Ausbildungsbedingungen sind überall heruntergekommen. Durch den Zerfall der sozialen Strukturen und die Schwächung staatlicher Kontrolle fallen viele Jugendliche aus dem Schulsystem. Mit dem Aufschwung des Privatkapitalismus geht die Ausbeutung von Kinderarbeit einher. Die Schulabbrüche nehmen auf dem Land wie in der Stadt zu. Auf seine Art und Weise erlebt das Ausbildungssystem die wirtschaftliche Krise. Die Einkommen der LehrerInnen werden von der Inflation geschluckt; ihr Berufsbild und ihre Lebensbedingungen verfallen. In den großen Städten gehen viele LehrerInnen einer zweiten Arbeit nach, machen Geschäfte, sogar in den Schulgebäuden. Die Direktoren verhalten sich wie kleine Unternehmer, vermieten Räume an neue Kapitalisten, führen neue Steuern ein, die die Eltern belasten. Die klassische Situation: gleichzeitig mit dem Zusammenbruch des alten Schulsystems erleben wir das Entstehen eines selektiven Bildungswesens mit dem Ziel der Elitebildung. Ab dem Kindergarten sind es die finanziellen Möglichkeiten der Eltern, die über den Besuch der besseren Schulen entscheiden [2]. (...)
Der Zutritt zur Universität bildet somit die Spitze einer rigiden Klassenauslese. Dieser Zugang ist besonders verriegelt und kaum 20 Prozent der Kandidaten gelingt er. So erübrigt es sich fast zu erwähnen, daß praktisch die Gesamtheit der StudentInnen, die heute diese letzte Stufe des Bildungssystems erklommen haben, Kinder der Nomenklatura und anderer Privilegierter sind. So ist es normal, daß sich die StudentInnen als zukünftige Führungskräfte der Gesellschaft begreifen; der elitebildende Prozeß der Selektion hat diese Überzeugung gefestigt. So ist es auch nicht überraschend, daß ihre Zustimmung zur Partei in den letzten Jahren zugenommen hat. Eine praktische Art, sich einen Platz innerhalb der herrschenden Klasse zu sichern! Dieser Geist der zukünftigen Elite war in der Bewegung der StudentInnen 1989 vom Anfang bis zum Ende präsent. Die ersten Mobilisierungen in den Universitäten (im September 1988) entzündeten sich am Bildungsetat, der in der Nationalversammlung vorgelegt wurde. Auch wenn die Selektion der StudentInnen nach neuen Kriterien stattfand, so blieben die materiellen Bedingungen der StudentInnen nach wie vor dem Mangel des Staatskapitalismus unterworfen: der Campus veraltet und verfallen, überbelegte Schlafräume, fehlende Mittel... Diese Elite mit einem privilegierten Status lebte weiterhin den ärmlichen und miserablen Alltag der maoistischen Periode. Der Gegensatz wurde jedoch nicht mehr hingenommen. Die chinesischen StudentInnen fingen an, ihre Lebensbedingungen mit denen zu vergleichen, die sie bei ihren Stipendien im Ausland mitbekommen hatten. Zu Beginn forderte die Bewegung der chinesischen StudentInnen in der Tat eine Legitimation sozialer Unterschiede; eine Anpassung ihrer Lebensbedingungen an ihren privilegierten sozialen Status; es handelte sich nicht um eine egalitäre Bewegung, sondern um eine korporatistische Elitebewegung. Als Kinder von Führungskräften und als deren zukünftige Nachfolger forderten sie das Recht, besser leben zu können. Um sich Gehör zu verschaffen, wandten sie sich direkt an die Chefs der kommunistischen Macht. Ihnen wurde die beschleunigte Reform eines Systems versprochen, welches sie als ihr eigenes betrachteten. Die Herrschenden erkannten die Berechtigung ihrer Forderungen an. »Bei einigen der Fragen, die ihr aufgeworfen habt, hofft die Regierung, sie gerecht zu lösen. Um offen zu sprechen, ihr helft in Wirklichkeit der Regierung in gewisser Weise beim Lösen ihrer Probleme«, antwortete ihnen Li Peng, einer der Schlächter von Peking. Abgesehen von der Demagogie, wie sie allen Politikern eigen ist, bringt der Premierminister einen aufrichtigen Wunsch zum Ausdruck. Doch alles änderte sich in dem Moment, als die studentische Unzufriedenheit die Revolte des Volkes nach sich zog. Von da an stand nur noch die blutige Repression auf der Tagesordnung.
Von der Studentenbewegung zum Volksaufstand
Die Bewegung des Frühlings 1989 entsteht und entwickelt sich in einem Moment der Krise. Der kommunistische Staat zeigt sich unentschlossen angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Er befindet sich in der Zwickmühle zwischen den Sachzwängen des Staatskapitalismus und den destabilisierenden Auswüchsen des Privatkapitalismus. Die zerfallenden Sozialstrukturen erschüttern die rigiden Strukturen, die das Erbe des maoistisch-stalinistischen Modells sind.
Wir wollen genauer die sich im Laufe der Tage wandelnde soziale Zusammensetzung der Bewegung untersuchen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine genaue Chronologie der Ereignisse. Wir halten es für wichtig, einige allgemeine Thesen herauszuarbeiten, die es uns erlauben, den Inhalt der Bewegung und ihr blutiges Ende zu verstehen. Während der ersten Demonstrationen im April 1989 hatten die StudentInnen die passive, aber herzliche Unterstützung der Pekinger Bevölkerung. Ab dem Moment, als sich der kämpferischste Teil dafür entschied, den Tian-an-men-Platz zu besetzen (Hungerstreik Anfang Mai), wandelte sich das Verhältnis zur Bevölkerung. Die Besetzungen auf der Straße zogen eine Entfremdung der StudentInnen nach sich, die den Parteireformern nahestanden. Zur gleichen Zeit näherten sich all diejenigen der Bewegung an, die auf irgendeine Art mit der kommunistischen Macht im Konflikt standen. Angesichts der sozialen Unzufriedenheit in den großen Städten war es unvermeidlich, daß breite Schichten der Bevölkerung die Räume nutzten, die durch die Studentenbewegung geöffnet worden waren.
Es handelt sich dabei um ein getreues Abbild der sozialen Zusammensetzung einer Metropole der Dritten Welt: ArbeiterInnen, Arbeitslose, Marginalisierte. Vertreten waren auch diejenigen der »neuen Schichten«, die in der Periode der »Modernisierung« entstanden waren: Kleinhändler und »Geschäftsleute«, Geschäftemacher aller Art, prekäre ArbeiterInnen, das »mobile Proletariat«. Sehr schnell fanden sich diese »Nicht-Studenten« in der Rolle der »Diener« der Studentenbewegung wieder [3]. Das studentische Elitedenken im postmaoistischen China ließ all diesen Leuten wenig Spielraum für autonome Ausdrucksformen. Diese SympathisantInnen unterstützten aus vollem Herzen die Forderung nach Demokratie. Sie gaben ihr im Einklang mit ihren unmittelbaren Interessen einen sehr präzisen Inhalt: die Verteidigung der Prinzipien der Marktwirtschaft, das Trachten nach der »Konsumgesellschaft«. Da sie keine spezifische soziale Kraft darstellten, hatten sie wenig Einfluß auf die Ausrichtung der Bewegung. Einige ArbeiterInnen, die zu den StudentInnen auf dem Platz Tian-an-men gestoßen waren, sahen die Notwendigkeit, sich unabhängig zu organisieren und gründeten die »Unabhängige Vereinigung der Arbeiter von Peking«. Während die Bewegung der StudentInnen praktisch keine Texte über die Gründe und Ziele ihrer Bewegung hinterlassen hat, hat dieser kleine Kern im Gegensatz dazu zahlreiche Schriftstücke produziert (Aufrufe, Flugblätter...) [4]. Die StudentInnen begriffen sich als der praktische Ausdruck der reformbereitesten Linie innerhalb der Partei. Die revoltierenden militanten ArbeiterInnen waren sich hingegen ihrer minoritären Rolle bewußt. Um als unabhängige Kraft zu überleben, war es für sie unausweichlich, sich an andere ArbeiterInnen zu wenden. Deshalb legten sie einen wesentlichen Schwerpunkt auf Agitation und Propaganda.
Die Informationen über diese Organisationen sind ungenau und oft widersprüchlich. Ohne jetzt von der »Ausweitung autonomer Verhaltensweisen« sprechen zu wollen und ohne die Situation glorifizieren zu wollen, ist es unleugbar, daß das Entstehen von unabhängigen Zusammenschlüssen eine neue Dimension in die Bewegung gebracht hatte, die bis dahin mit den herrschenden Institutionen in Beziehung stand. Daß die ArbeiterInnen sich außerhalb der offiziellen Gewerkschaften organisierten, und anderen vorschlugen, es ihnen gleich zu tun, war die erste inakzeptable Initiative für die kommunistische Macht. Zu Beginn gehörte der Großteil der Militanten höchstwahrscheinlich dem Teil der ArbeiterInnenklasse an, die »Reisschale aus Porzellan« genannt wird. Darunter waren vielleicht auch einige ArbeiterInnen des Teils, der »eiserne Reisschale« genannt wird; dem System kritisch gegenüberstehend, aber ohne die Möglichkeit, sich innerhalb der Staatsbetriebe offen zu bewegen. Ex-Funktionäre der Parteibasis, die durch die »wirtschaftliche Liberalisierung« deklassiert worden sind, waren auch vertreten. Allergrößter Wahrscheinlichkeit nach rekrutierten sich aus ihren Reihen die selbsternannten »Chefs«, die die meisten Texte veröffentlichten. Drei Hinweise scheinen diese Hypothese zu bestätigen: Ihre Vorsicht gegenüber den offiziellen Gewerkschaften, daß die kommunistische Partei als »Partei der Arbeiterklasse« verstanden wird, und schließlich ihr marxistisch-leninistischer Jargon. Ihr anvisiertes Ziel war, »das Pekinger Proletariat in die Bewegung zu integrieren (...), als Subjekt«. »Innerhalb eines kurzen Zeitraums machte die Bewegung in vielen Städten von sich hören. (...) ArbeiterInnen aus anderen Städten sind gekommen, um sich zu treffen. Ein nationaler Zusammenhang war am Entstehen«. Zumindest in Peking sind ihre Texte in der Bevölkerung breit verteilt worden. Aber ihr Aufruf zum Generalstreik ist Papier geblieben und die Bedeutung ihrer Initiativen ist nicht über die Straße hinausgegangen. Dennoch bekam es die kommunistische Macht mit der Angst zu tun und reagierte rasch. In den Betrieben wurde die Anwesenheit verschärft kontrolliert. Man kann jedoch an der Wirksamkeit solcher Maßnahmen zweifeln, wenn man das Ausmaß des Absentismus und die Abneigung gegen die Arbeit in dieser Art von Gesellschaft kennt. Es schien zudem, daß den ArbeiterInnen Prämien für »Nichtbeteiligung an den Demonstrationen« geboten wurden. Wie es auch immer gewesen sein mag, schlußendlich wurde die Armee eingesetzt, um die großen Industriezonen vor der Agitation der Straße zu schützen. Das war z.B. im großen Stahlwerk von Peking der Fall, wo ungefähr 200 000 beschäftigt sind. Das eigentliche Problem war nun gestellt: das des Vertrauens in die Arbeiterklasse. Als Klasse blieben die ArbeiterInnen passiv und die wenigen AktivistInnen der »Unabhängigen Vereinigung« arbeiteten isoliert weiter. Deshalb entbehrt der Vergleich mit Solidarność in Polen jeglicher Grundlage. In Polen entstand die Massenorganisation direkt in einem allgemeinen Kampf an den Arbeitsplätzen. In China hingegen gründeten sich diese kleinen kämpferischen Kerne außerhalb der Ausbeutung.
Zum Schluß wollen wir von der Figur sprechen, die eine zentrale Rolle in den letzten Tagen des Frühlings 1989 gespielt hat. Es handelt sich um das Volk von Peking, die Bevölkerung der Arbeiterviertel: unter ihnen befand sich wahrscheinlich eine große Anzahl des »mobilen Proletariats«, welches seit Monaten in die chinesischen Städte geströmt war. Diese Leute, von den StudentInnen und der Presse »Städter« (laobaixing) genannt, mobilisierten sich ab dem Moment, wo der Anmarsch der Armee zu vernehmen war. Sie waren es, die die Barrikaden errichteten, die die Straßen dicht machten, um den Vormarsch der Armee zu stoppen, die mit den Soldaten diskutierten, diesen entgegentraten, um Waffen zu erbeuten, Panzer anzündeten. »(...) Aktionsgruppen bildeten sich in ganz Peking. Es gab u.a. die ›Todesmutigen‹, die sich aus ArbeiterInnen und anderen Leuten aus dem Volk zusammensetzten, die ihr Leben dafür einsetzten, den Einmarsch der Armee in die Stadt zu verhindern. Es gab auch Gruppen von ArbeiterInnen, die zusammen mit (gutorganisierten) Gruppen von StudentInnen die Viertel kontrollierten und die Ordnung aufrecht erhielten (die Polizeikräfte waren seit dem 20. Mai überall verschwunden)« [5]. Unter diesen »Städtern« gab es so auch die meisten Toten: sie ließ man die Kugel bezahlen, mit der sie umgelegt wurden!
Aber von ihnen wurde am wenigsten gesprochen. Natürlich berichteten die Medien von ihrer Präsenz, vor allem während der Zusammenstöße mit der Armee. Sonst wurden sie meist als »gemeines Volk« im Schlepptau der StudentInnen behandelt. JedeR weiß, daß ArbeiterInnen sich weniger gut verkaufen können als StudentInnen, daß ein Volksaufstand Angst und Schrecken verbreitet, und daß, im Gegensatz dazu, ein »Massaker an Unschuldigen«, welches auf deren »Opferverhalten« folgt, den rechtschaffenen Bürger empört. Die Journalisten sahen und berichteten die Sachen, die ihrer eigenen Wahrnehmung der Dinge entsprachen. Ein aufmerksamer Beobachter kommentierte: »Die ganze Welt schaut zu; die Journalisten betrachteten sich die meiste Zeit als Sicherheitsgaranten für die StudentInnen. Im pazifistischen Idealismus der StudentInnen lag etwas, was die Aufmerksamkeit der Leute aus dem Westen anzog und bei ihnen dazu führte, die grundlegende Bedeutung der laobaixing zu unterschätzen«.
Wenn die soziale Propaganda unter der Elite für böses Blut sorgt
In den letzten Tagen des Pekinger Frühlings befürchtete der kommunistische Staat das Schlimmste. Alles ging sehr schnell. Der Zusammenstoß zwischen dem Volk und der Armee konnte nicht verhindert werden. Es bestand das Risiko, daß dieser die Außenviertel ergreift und bis an die Tore der großen Fabriken vordringt, die von der Armee umstellt waren. Weil die Medien sich alle am Tian-an-men konzentrierten, gab es wenig Informationen über die Revolte in diesen Bereichen der Stadt. Nichtsdestotrotz bemerkten einige Zeugen »...die relative Toleranz des Regimes gegenüber den StudentInnen und seinen Terror gegen die Erhebung der Arbeiterklasse, die die Bewegung in einen offenen Aufstand zu verwandeln drohte«. Wie wir bereits unterstrichen haben, setzte sich die Bevölkerung von Peking in Bewegung, als die Verhandlungen zwischen den StudentInnen und der Regierung scheiterten, und dieser Mißerfolg den Hungerstreik auf dem Tian-an-men nach sich zog. Diese Unterstützung der StudentInnen blieb nicht lange passiv und Unstimmigkeiten traten schnell zu Tage (vor allem über die dem kommunistischen Staat gegenüber einzunehmende Haltung). Die Studentenführer, Sprößlinge der Nomenklatura und »politisch« denkend, waren Gefangene ihres Projekts der Partei- und Staatsreform. In ihren Augen konnte die Armee nicht Repressionsorgan sein. Die StädterInnen hatten andere Erfahrungen mit der Macht. Sie erlebten sie als rigide und autoritär. Sie kritisierten die »pazifistische« Linie der StudentInnen als unbeständig und unausweichlich in die Katastrophe führend. Sie täuschten sich nicht. Chai Ling, eine Studentenführerin, erzählt: »Viele Gefährten, ArbeiterInnen und StädterInnen kamen in unser Hauptquartier um uns zu sagen, daß es an dem Punkt, an dem wir jetzt angelangt seien, anstehe, die Waffen zu ergreifen. Die Leute waren ziemlich aufgeputscht, und wir aus dem Hauptquartier haben ihnen gesagt: wir sind für friedliche Forderungen und das höchste Prinzip des Pazifismus ist das Opfer«. Die ArbeiterInnen und laobaixing beließen es aber nicht dabei, es ihnen nur zu sagen. Ihre Aktionen bewiesen, daß sie sich darüber im Klaren waren, daß der Zusammenstoß vor der Tür stand. Tag für Tag vertiefte sich diese Unstimmigkeit. Einige Beispiele: StädterInnen entwendeten den Soldaten Waffen, die die StudentInnen an sich nahmen und den Herrschenden zurückgaben (sie trieben ihre pazifistische Naivität bis an den Punkt, dafür »Quittungen« zu verlangen). Die StädterInnen griffen die Armee an, während die StudentInnen hingegen die Soldaten und Angehörigen der »Bürgerwehr« schützten. Dann gab es diese Geschichte der drei jungen Leute, die am 23.Mai das riesige Mao-Denkmal mit Farbe begossen. Die Reaktion der Studentenführer ließ nicht lange auf sich warten und zeigte deutlich den Graben, der sie von den radikalsten StädterInnen trennte. Ihr Pazifismus verschwand und sie verwandelten sich in ein Anhängsel des Staates. Diese Jungen wurden von den StudentInnen festgenommen, »zwei Stunden verhört und dann der Polizei ausgeliefert«. Man kann sich ausmalen, was mit ihnen dann passiert ist. Trotz aller Bemühungen um einen Dialog und Kompromiß seitens der Studentenführer, geriet die Situation zusehends außer Kontrolle. Ein Beispiel: »Mehrere Dutzend Pekinger versammelten sich und stellten sich den Truppen entgegen. Delegierte der StudentInnen versuchten vergeblich mit der Armee zu verhandeln. Leute beschmissen die Soldaten mit Steinen«. In einem unabwendbar scheinenden Prozeß verlor jede Vermittlungsbemühung an Glaubwürdigkeit und der Druck der Straße wuchs. Auch wenn die Mehrheit der StudentInnen ihren FührerInnen bis zum Ende folgte, ist es möglich, daß Einzelne sich im Kontakt mit der Revolte des Volkes radikalisierten. Die weniger angepaßten StudentInnen aus der Provinz schienen gegenüber der Aufstandsstimmung der letzten Tage sensibler zu sein.
Die Mitglieder der »Unabhängigen Vereinigung der ArbeiterInnen« sind indessen vom Volksaufstand getrennt geblieben, der in den westlichen Vierteln Pekings losging. Sie, deren Ziel es gewesen war, die ArbeiterInnen dazu anzuregen, sich zu organisieren, hatten keinerlei Einfluß auf den Aufstand der Straße. Da sie sich auf dem Tian-an-men niedergelassen hatten, blieben sie den StudentInnen verhaftet, die Gefangene ihres Legalitätsdenkens waren. Es ist anzunehmen, daß dieses Legalitätsdenken einer der Faktoren war, die sie von den kämpferischsten ArbeiterInnen und laobaixing getrennt haben. Als am 30. Mai, drei Tage vor dem Massaker, einige von ihnen verhaftet wurden, blieben die Texte der »Vereinigung« durchtränkt von der Achtung vor den staatlichen Institutionen. Selbst als der Bruch zwischen dem Volk von Peking und der Macht stattgefunden hatte, erklärte sich die »Vereinigung« dem »Prinzip der freien Vereinigung, im Gesetz festgeschrieben« treu, und betonte, daß keine ihrer Aktivitäten »jemals das Gesetz übertreten« hat. Die Bewegung der StudentInnen fürchtete den Volksaufstand, weil er im Widerspruch zu ihrer pazifistischen Linie stand. Ihre Klasseninteressen standen gegeneinander, auch wenn es Übereinstimmungen zwischen den beiden Bewegungen gab. Auf der einen Seite gab es die spontane und grundsätzliche Revolte des Volkes gegen das System des Staatskapitalismus und die totalitäre Macht der Kommunistischen Partei. Auf der anderen Seite fuhren die StudentInnen damit fort, eine Reform des politischen Systems zu fordern und sich ausschließlich gegen die Exzesse dieses Regimes zu wenden. Sie forderten eine Beschleunigung der »Modernisierungsbewegung«, wohlwissend, daß das die verstärkte Tendenz zur Marktwirtschaft beinhaltet. Die studentische Bewegung sah sich im Grund als ergänzende Kraft für eine reformistische Alternative an der Macht. Die gewalttätigen Kämpfe innerhalb der Studentenorganisationen, vor allem unter den FührerInnen der Bewegung, brachten diese Problematik zur Sprache. Die Hauptsorge war, sich nicht von der reformistischen Linie der Partei abzuschneiden und die Verhandlungstür offen zu halten.
Wie jede soziale Bewegung hat sich die Revolte der StudentInnen von 1989 ausgeweitet und ist in einer Situation aufgeblüht, die durch Aktivitäten von Individuen und bereits existierenden Gruppen gekennzeichnet war. In den letzten Jahren der »Reform«periode waren unabhängig von den Parteistrukturen Organisationen von Intellektuellen entstanden. Die Mehrzahl betrieb Aktivitäten in »Forschung« und »Lehre« auf Rechnung der Unternehmen und anderen Institutionen des Staates. Die Korruption und das Netz von Beziehungen ermöglichte einigen dieser »neuen Unternehmen«, viel Geld zu machen und ihren Chefs, in die ausgewählten Kreise des Regimes aufzusteigen. Das gilt z.B. für das »Institut für sozialwirtschaftliche Forschung in Peking« (ISFP). Es war von ehemaligen Kadern der Kommunistischen Jugend aus der Umgebung von Zhao Ziyang, dem Generalsekretär der Partei, der während des Frühlings 1989 abgesetzt wurde, ins Leben gerufen worden. Formal wie eine »Ausbildungsstätte« für reformistische Kader funktionierend, organisierte die ISFP seit 1988 in den Universitäten zahlreiche Konferenzen und Diskussionen. Die Chefs der ISFP nahmen die zunehmende Unzufriedenheit der StudentInnen wahr und setzten sich an die Spitze der studentischen Aktivitäten. Die Föderation der StudentInnen von Peking wurde mit finanzieller Unterstützung der ISFP gegründet. »Es ist diese Föderation, die am 21. April einen Marsch von 200 000 StudentInnen zum Tian-an-men organisiert. Ebenso auf Initiative der ISFP bildet sich am 22. Mai der wichtige »Zusammenschluß der Zirkel der Hauptstadt«. Er ist wie eine Regierung organisiert, versammelt sich täglich und gibt eine Zeitung heraus, die auf dem Tian-an-men, dem Hauptquartier der StudentInnen, erstellt wird. Nur drei der Chefs des Hauptquartiers waren nicht gleichzeitig Mitglieder der ISFP«. All das belegt deutlich, daß die der Macht nahestehenden reformistischen Tendenzen die Rolle der Bewegung der StudentInnen begriffen hatten. Wichtiger noch, die »Reformer« haben eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Bewegung gespielt, mit dem strategischen Ziel, sie zur Stärkung ihrer Position innerhalb des Staates zu benutzen. Die Volksbewegung hat, da wo sie spontan und nicht so leicht zu manipulieren war, dieses politische Projekt gestört. Für einen Moment hat sie so die »Reformer« und »Hardliner« wieder näher zusammenrücken lassen. Anfangs forderte die Regierung (sie hatte dabei das Bild von Polen während der Revolten der ArbeiterInnen 80/81 vor Augen) die intellektuellen »Dissidenten« auf, bei den StudentInnen zu intervenieren und diese zu mäßigen. Zuerst ließ die Regierung sie wissen, daß sie es sich verbittet, daß der Platz besetzt wird, dann, daß es ratsam wäre, ihn vor dem Entstehen einer Volksbewegung zu verlassen. Das blieb erfolglos, und dieser Mißerfolg offenbarte deutlich den Bruch zwischen »Reformern« und »Hardlinern« innerhalb des Regimes. Als Zeichen der Dankbarkeit wurden die »Dissidenten« trotzdem über die bevorstehende Intervention der Armee informiert. So konnten sie sich in Sicherheit bringen, während ProletarierInnen exemplarisch exekutiert wurden. (...)
Auf den »wahren demokratischen Inhalten« des Frühlings 1989 zu bestehen, heißt zu vergessen, daß die politischen Ideen der Mehrzahl der intellektuellen FührerInnen der Studentenbewegung eine autoritäre Vorstellung von Regierung beinhalten. Die Revolte des Volkes beunruhigte die »Dissidenten« ebensosehr wie den kommunistischen Staat. Der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit des »mobilen Proletariats« hatte innerhalb ihrer Interessen keinen Platz. Es ist die Ironie der Geschichte, daß nichtsdestotrotz dank der »sozialen Konflikte« die chinesische Elite das Wort ergreifen und von sich reden machen konnte.
Fußnoten:
[1] Es ist bezeichnend, daß die Bahnhöfe die Orte mit den meisten Polizeikontrollen der Bevölkerung geworden sind. Das offenbart den Zusammenbruch der Kontrolle der Staatspartei in den Dörfern und Stadtvierteln.
[2] Der Preis für einen Platz in einem »guten« Kindergarten beträgt einen durchschnittlichen Monatslohn.
[3] Das bekannteste Beispiel ist das der Motorradkuriere, die die Bewegungen der Sicherheitskräfte observierten.
[4] Solche Texte wurden in der trotzkistischen Zeitschrift »Inprecor« (Juni 1989) veröffentlicht. »October Review«, eine Zeitschrift derselben Strömung, die in Hongkong erscheint, hat auch zahlreiches Material veröffentlicht. Hervorzuheben ist die Textauswahl der »Unabhängigen Vereinigung«, die in der libertären Zeitschrift »Iztok« veröffentlicht wurde.
[5] Robin Munro, »Who died in Beijing, and why«, »The Nation« (New York), 11.Juni 1990. Robin Munro war im Auftrag einer amerikanischen Hilfsorganisation in China. Er war einer der letzten aus dem Westen, die in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni Tian-an-men verließen. Er behauptet, daß viele Journalisten, die sich in Sicherheit gebracht hatten, ihre Reportagen am Fenster ihrer Hotels geschrieben haben. Nach ihm »hat in der Tat ein Massaker stattgefunden, aber nicht am Tian-an-men und vorallem nicht unter den StudentInnen. Die Mehrheit derjenigen, die getötet wurden, waren ArbeiterInnen und laobaixing, und sie sind in den Straßen West-Peking gestorben«.