Wildcat Nr. 66 - Juli 2003 - S. 63-65 [w66moers.htm]


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New Clusters oder New Klezmer

»Warum ich auch dieses Jahr wieder nicht
auf dem Buko, sondern in Moers beim Jazzfestival war«

Mitbringsel...

...können ein Hinweis darauf sein, ob und was es auf einem Musikfestival zu entdecken gab. Wir haben zwei Entdeckungen, zwei Erinnerungen und ein Revival mitgebracht. Entdeckt haben wir das Oud-Duo Samir & Wissam Joubran aus Ramallah/Palästina und Savina Yannatou aus Griechenland mit ihrer Band, Konzerte, die wir fast nicht besucht hätten, weil das Programmheft »Ethnoauthenzitität« verhieß. Und dann das: Die Oud-Spieler hätten jedem Paco de Lucia mit ihrer virtuosen und trotzdem ganz unprätentiösen Spielweise die Blässe ins Gesicht getrieben, und das griechische Ensemble griff unglaublich souverän quer durch den gesamten Mittelmeerraum und durch Jahrhunderte, verschmolz Altes mit Neuem, improvisierte, glänzte mit Präzision und Leidenschaft.

Die Erinnerungen sind: North America von Curlew mit u.a. Fred Frith von 1983/84, also aus einer Zeit, bevor sich so einige aus dieser Szene in Richtung Selbstethnisierung oder in Richtung Konzeptkunst/Filmmusik verabschiedet haben. Rootless cosmopolitans, wie Marc Ribot an dieser Stelle sagen würde. Solide. Eine Aufnahme von Richard Teitelbaum mit der Cyberband, Aufnahmen eines elektronischen Projekts in Moers 1993, Musiker als Teil- und Vollzeitschrauber an den Reglern (ihre klassischen Instrumente hatten sie auch noch im Gepäck), was einmal mehr belegt, dass man lieber Musiker als Architekturstudenten und Werbedesigner an diese Geräte lassen sollte.

Das Revival ist die im Oktober 2002 veröffentlichte Doppel-CD von Charles Lloyd: Lift every voice: Er setzt sich auf dieser Veröffentlichung ganz unpatriotisch mit dem 11.9. auseinander (im Gegensatz etwa zu Neil Young, der mit Let's roll den Sound zum bushistischen weltweiten »Kampf gegen den Terror« abgeliefert hat). Ein weiteres gutes Beispiel dafür, klassisches Material aus unterschiedlichen Weltregionen so zu interpretieren, dass am Ende eine Bereicherung rauskommt (siehe auch: jazzecho).

Ist die Ethnoromantik dann durch...

Das erste Festival in Moers hat 1972 stattgefunden. Nach ein paar Aufwärmjahren mit vorwiegend europäischem Freejazz war es in den späten 70er und frühen 80er Jahren ein Festival, wo sich ost- und westdeutsche MusikerInnen und die großen afroamerikanischen Bands und Musiker die Instrumente weiterreichten. Ein Festival für Experimente, Projekte und neue Klänge. Der Name Jazz-Festival paßte in letzter Zeit aber nicht mehr so recht, die »Weltmusik« hielt Einzug, eine African Dance Night wurde eingeführt. Moers wurde dafür bekannt, dass schwarze Musiker auf der Bühne nimmerversiegende Lebensfreude versprühen und in die Jahre gekommene Studienräte dazu abwippen. Darunter waren tolle Entdeckungen, aber auch unerträglicher Kitsch, Volksmusik im schlechten Sinn. Gerade Moers hatte früher eine andere Art von »Volksmusik« experimentell erkundet: Freejazzer spielen zusammen mit der Moerser Feuerwehrblaskapelle, ein Publikumsorchester wird gebildet etc..

...wenn die saharouischen Frauen coole Popstars mit E-Gitarren mitbringen?

Auch diesmal gab es noch Kapellen, die vermeintlich authentisches lokales Lebensgefühl zu vermitteln versuchten, anstatt einfach Musik zu machen. Und eine Sängerin, die sich als »Downtown Gypsy Queen« ankündigen ließ, obwohl ihre Biographie viel komplexer und widersprüchlicher ist. Inzwischen ist die Geste der Authentizität aber gebrochen und seltener geworden. Für die meisten MusikerInnen ist ihr lokaler Hintergrund nur die Basis, von der aus sie arrangieren, komponieren, spielen, experimentieren.

FreeJazz is not dead...

Er kehrt aber nach dem Ende des Identitäts-Kults auch nicht in der Form zurück, wie ihn Brötzmann&Co. Ende der 60er, Anfang der 70er zelebrierten. Im wesentlichen haben zwei Stränge diesem Festival ihren Stempel aufgedrückt:

die umtriebigen Jungmusiker um das Schweizer Trio »Steamboat Switzerland«. Diese haben in den Projekten am Vormittag und auf der Hauptbühne im Zelt ihr Crossover aus Deep Purple Rock, Jazzimprovisation und Musique concrète zelebriert, und werden - wenn sie denn keinen Herzinfarkt erleiden - wohl auch in den nächsten Jahren mit innovativen Impulsen auf die junge Jazz- und Rockszene ausstrahlen.

die alten Jazz- und »Artrock«-Giganten. Diese haben in epischen Geschichten ihre Arbeit und ihr Leben der letzten Jahrzehnte erzählt: Das Charles Lloyd Quartet, ein großes Tenor-Sax, ein alter Frontmann, fast blind und schon schwach auf den Beinen, spielte - aus Gründen der Kraft wohl - eher wenig, dann aber sehr eindrucksvoll, Erzählungen aus Generationen des Jazz; Geri Allen am Klavier, die immer wieder die Harmonierolle übernahm, wenn der alte Meister ausruhen mußte. An Bass und Drums zwei jüngere Musiker (Bob Hurst, Eric Harland), die enormen Druck gemacht haben, superenergetisch, super schnell, swingend, mit einer Coolness, Wahnsinn...

George Russell, die einzige BigBand in diesem Jahr: auch hier hohes Alter und große Erzählung. Er hat die ganze LP von 1968/69 gespielt: Electronic Sonata for Souls Loved by Nature: groovig, soulig-funkig, zwischendrin hat er selber mal eine Rap-Einlage gegeben ...große Klasse!

»...it only smells funny!«

Nach Patchouli, Zirkus, Dope, Schweiß, afrikanischem Essen... überhaupt ist das Festival sehr körperbetont: die MusikerInnen schwitzen, keuchen, koordinieren sich lauthals, die Leute schwitzen, tanzen, bewegen sich ständig, hören zu. Das eigentliche Musikfestival ist eingebettet in ein bestimmt 10- oder gar 20mal so großes »freies Campen« außenrum im Park. Auch dadurch sind die meisten Leute zu viert oder fünft unterwegs und bewegen sich in Gruppen übers Festivalgelände ... Um Hörerfahrungen, Zusammensein und Bewegung unter einen Hut zu bringen, braucht man nicht in entlegene mexikanische Gegenden zu fahren.

Vor allem die vormittäglichen Projekte in Moers haben sicherlich das Hörvermögen vieler Anwesender geschult und weiterentwickelt. Hier werden über drei Tage hinweg in der Turnhalle, der Aula, der Musikhochschule usw. verschiedene Projekte in ihren Facetten, Entwicklungsstadien und oft auch unterschiedlichen Besetzungen entwickelt - schon diese Projekte, zuweilen in intimem Rahmen zu »nachtschlafener Zeit« (um 11 Uhr morgens geht's los!), entschädigen für manche lange Anreise!

Kennst du den Türsteher?

Das Kapital ist die Gemeinschaft der Menschen, aber in entfremdeter Form. Das ist bei der Musikindustrie nicht anders (der Ort, wo Gefühle ausgelebt und abgeparkt werden; der Ort, der Identitäten anbietet: »Deutschland sucht den Superstar«, 70% der Rap-Platten werden von weißen Mittelstandskids gekauft, Maffay & Wecker für die Angepaßten, die verschüttete Rebellengefühle abrufen wollen etc.). Bei Konzerten kommen Menschen tatsächlich zusammen, es ist hier schwerer/leichter, den (manipulativen?) Zusammenhang zu unterlaufen (Konzerte boomen übrigens, während die CD-Verkäufe rückläufig sind). Moers ist ein Festival, wo Menschen gemeinsam hingehen und Musik hören und auch darüber reden wollen - und Musik machen: auf dem Campinggelände wird in den Nächten überall Musik gemacht, getanzt und gefeiert...

Unsere Festivalkarten haben wir bezahlt (65 Euro für vier Tage - ein saftiger Aufschlag von 30 Prozent in zwei Jahren!), denn entweder gemeinsam den Konzertsaal stürmen oder in kleinen Gruppen die Security-Truppe austricksen, aber bloß nicht über einen VIP-Zugang (für »MedienvertreterInnen«) in abgetrennten VIP-Bereichen VIP-Getränke abfassen und nicht wissen, wo man sich eigentlich warum befindet. Wie auch sonst gibt es in Moers jede Menge Leute, die auf solchen Tickets unterwegs sind: und selbst bei Berichten über Evian kann man oft nicht mehr unterscheiden, ob die Leute das als Beteiligte oder als (bezahlte) Journalisten schreiben.

The Sound of Surprise

Das Sun Ra Arkestra war enttäuschend, müder Abklatsch des Afro-Tribal-Konzepts des Art Ensemble of Chicago. Das klassische Piano/Bass/Drums-Trio W-H-O war der Höhepunkt des Freitags. Am Samstag spielte nach den Oud-Brüdern ein weiteres Duo: Bill Bruford mit einem jungen holländischen Pianisten (Michiel Borstlap), einer der Höhepunkte des Festivals, klasse... (Für jüngere LeserInnen, die vielleicht Bill Bruford nicht kennen: Drummer bei u.a. YES, King Crimson, siehe auch: hier und hier). Außerdem die Chan Band, eine Spar-Variante des Shibusa Shirazu Orchestras aus Japan, das in den letzten Jahren immer mal wieder in Moers war und dort im Zelt, im Park, auf der Straße großartige Spektakel zelebrierte. Wenn man das schon gehört und erlebt hat, war das dieses Mal wirklich abgespeckt, und so die tollen MusikerInnen an sich sind sie nun mal nicht. Zum Abschluss am Samstag Ojos de Brujo aus Barcelona, ein Cross-Over aus Baskenpunk, Flamenco, HipHop, Manu Chao und einfacher politischer Botschaft, der Soundtrack für die Anti-Glob-Bewegung, der jedem Autonomen das Herz höher schlagen läßt, technisch gut, aber ohne Wagnisse und Überraschungen...

Sonntags u.a. eine holländische Band mit einer Gitarristin als Leaderin, klang etwas nach Terje Rypdal, ihre Mitmusiker waren eher von der zurückgenommenen reservierten Sorte. Demierre/Guy/Niggli boten FreeJazzTotal an Piano, Bass und Schlagwerk, Brachialimprovisation und das dicht und sensibel, präzise und leidenschaftlich! Danach »Ethno« aus Madagaskar, ein körperbehinderter Frontmann an den Vocals und Valiha (einem klassischen Saiteninstrument) in Koproduktion mit AKTION MENSCH, technisch gut, schöne Harmonien, gute stimmungsvolle Performance.

Auf der African Dance Night - wo wir nicht waren - spielten: Khaled (Algerien), Amadou&Mariam (Mali), Sam Mangwana (Zaire) und DJ Cosmomix (France).

Montags war außer George Russell noch Kazutoki Umezu »Kiki Band« erwähnenswert, die japanische Antwort auf Brötzmann in Sachen Brachialimprovisation, er spielte mit einer »Heavy Metal Band«, vom Sound sehr druckvoll, obwohl da mehr rauszuholen gewesen wäre... Außerdem spielten 11 Jazzer eine 60minütige Komposition von David Dramm »Orange Slice«, was ganz ordentlich war (einige bekiffte 20jährige haben es sogar hingekriegt, dazu zu tanzen!).

Und was hab ich versäumt?

Ein Freund schrieb mir: »Klar, der Buko war diesmal recht chaotisch, das Essen keine Gaumenfreude, die vertretenen Positionen bisweilen schwierig zu vermitteln. Das überrascht angesichts der Vielfalt der anwesenden Gruppen nicht. Aber eins war wichtig: die Leute haben miteinander geredet, zugehört, und es war der Versuch, mal wieder übers große Ganze nachzudenken. Insofern war auch die Kopplung des Buko an die antipatriarchale Diskussion folgerichtig. Natürlich kann der Buko nicht jahrelang separat geführte Debatten zusammenbringen, dennoch haben viele Anwesende erkannt, dass so was angesagt ist. Dazu müßten aber die Kontroversen auch mal ausgetragen werden, und das hat mir dieses Jahr am meisten gefehlt ...«

 

...und was macht Ihr LeserInnen

so an Pfingsten ?

Mayer & Vorfelder


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