Wildcat Nr. 67 - Oktober 2003 - Lohnsenkungen und Rationalisierung der »Weißen Fabrik«


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Lohnsenkungen und Rationalisierung der »Weißen Fabrik«





Im August 2003 haben Regierung und Opposition eine »Reform« beschlossen: Mit zusätzlich ca. 20 Mrd. Euro sollen die ArbeiterInnen direkt an den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beteiligt werden. Und die Umstellung der Krankenhausfinanzierung soll die Produktion dieser Leistungen weiter rationalisieren: Die Ausgaben der GKV sollen »gedämpft« werden. Dabei haben wir es zunächst mit einer paradoxen Situation zu tun: die Ausgaben der GKV sind in den letzten Jahren zwar absolut gestiegen, im Vergleich zum Bruttozozialprodukt aber seit Jahren konstant. Gleichzeitig gilt der medizinisch-industrielle Komplex (MIK)1 als »Profit- und Jobmaschine« – nicht wenige sehen in ihr den Nachfolgehoffnungsträger für die gecrashte IT-Industrie.


Ich schreibe im Folgenden des öfteren von »Gesundheitsreform«, »Gesundheitswesen« usw.. Dabei ist mir bewußt, daß es »Gesundheit« nicht gibt. Es gibt ein schönes Leben, man kann sich wohl fühlen usw., aber »Gesundheit« ist die Gegenkonstruktion der Ärzte zu »Krankheit« und ein Versprechen, das kein Arzt, keine »Gesundheitskasse« und kein »Gesundheitswesen« erfüllen kann.


Hier machen nicht nur die Pharmakonzerne fette Gewinne; 3,6 Millionen Beschäftigte setzen über zehn Prozent des Bruttosozialprodukts um. Die Vorstellungen der » Modernisierer« der GKV lassen sich auf den Satz zuspitzen: Okay, die Leute werden älter und kränker – ein kräftig umstrukturiertes Gesundheitssystem macht daraus Jobs und Profite: das Gerede von der »Kostendämpfung« soll die Produktion und Vermarktung von »Gesundheit« und »Krankheit« gar nicht einschränken, im Gegenteil: Das Projekt wäre gescheitert, wenn die Leute weniger Medikamente konsumierten, seltener zum Arzt und weniger ins Krankenhaus gingen. Denn es geht um ein weiteres Expandieren bei gleichzeitiger Rationalisierung und Privatisierung der Gesundheitsbranche.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre waren europaweit die KrankenpflegerInnen auf die Straße gegangen, um gegen ihre Arbeitsbedingungen zu protestieren und zu kämpfen. Das hatten sie weitgehend selber und ohne die Gewerkschaften gemacht. In Deutschland endete die Bewegung mit einem überdurchschnittlich hohen Tarifabschluss durch die Gewerkschaft und der Einstellung von mehr Personal. In den Mobilisierungen war es nicht »nur« ums Geld gegangen, sondern auch um den Frust und die Wut über die Arbeitsbedingungen. Und bei der Pflege des »Arbeitsgegenstands Mensch« in einer industrialisierten Hochleistungsmedizin steht man schnell vor der Frage, was man da eigentlich tut. Trotzdem wurden und werden von den KrankenpflegerInnen – gegen die eigenen alltäglichen Erfahrungen! – die »Angebote« der Pflegedienstleitungen und Krankenhausmanager (Pflegeplanung und Qualitätsmanagement) als Lösungen angenommen. An dieser Widersprüchlichkeit konnte die Umstrukturierung der Kliniken in den 90er Jahren ansetzen. Deshalb stehen wir heute teilweise wieder vor denselben Fragen wie Ende der 80er Jahre.

Ihr findet auf den folgenden Seiten zwei Artikel: Der erste diskutiert die aktuelle »Gesundheitsreform« und geht der Frage nach, wie »Kostendämpfung« und Expandierung des MIK zusammenpassen. Der zweite Artikel beginnt mit drei Kurzberichten aus verschiedenen Kliniken und dreht sich um die Umstrukturierung der Krankenhäuser und die Leute, die dort arbeiten.


...durch die Gesundheitsreform 2003

Die »Gesundheitsreform« 2003 ist der Höhepunkt aller bisherigen »Kostendämpfungsversuche«. Mit der Streichung des Zahnersatzes und des Krankengeldes aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen und den neuen Zuzahlungsbestimmungen werden ganz offen und ungeschminkt die Lohnkosten für die Unternehmer gesenkt, bzw. den ArbeiterInnen der Lohn gekürzt.



Gesundheitspolitik im Wirtschaftswunder

In den 50er und 60er Jahren galt der Ausbau des MIK als Investition in den Industriestandort Deutschland und in die Arbeitskraft: gesündere ArbeiterInnen sind gut für die Profite, werden seltener krank, ein modernes Gesundheitssystem ist attraktiv für Zuwanderer. Staatliche Sozialpolitik und die Interessen von Ärzteschaft, Pharmaindustrie und medzinisch/technischem Sektor passten zusammen (wenn es auch in dieser Periode Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen gab). In dieser Zeit entwickelte sich die Hochleistungs- und Intensivmedizin, chronische Krankheiten wie z.B. Herz/Kreislauferkrankungen wurden als Kostenfaktor und als Möglichkeit zur Ausdehnung des Gesundheitsmarktes entdeckt, immer mehr Leute wurde zu Patienten, die Kosten verursachten und Profite einbrachten. Diese Ausweitung des MIK wurde Ende der 60er Jahre/zu Beginn der 70er Jahre ausgehend von der 68er Bewegung kritisiert: eine Heilsterror verbreitende Industrie, die verspricht, alles heilen zu können, und eine Gesundheitspolitik, die immer weniger danach fragt, was an dieser Gesellschaft krank macht. Begriffe wie »Krankheit« und »Gesundheit« wurden in Frage gestellt, ihre disziplinierende und kontrollierende Funktion offen gelegt. Diese Kritik wurde auch in den ersten Gesundheitsläden, aber auch von ArbeiterInnen des MIK formuliert. Hinzu kam eine ganz praktische Kritik: Anfang der 70er Jahre kam es zu einem verstärkten proletarischem Gebrauch der Krankenversicherung als zusätzlichem Einkommen. Die Leistungen der Sozialversicherungen wurden offensiv und breit zur Finanzierung arbeitsfreier Zeit genutzt – ausgehend von einer Verweigerung des Daseins als LohnarbeiterIn, der Perspektive eines 40jährigen Arbeitslebens. Dazu gehörte die Ablehnung eines Gesundheitssystems, das den Menschen vor allem in seiner Funktion als Arbeitskraft behandelt, einer Medizin, die den Menschen in Funktionen zerlegt (die Brosch& uuml;re Lieber Krankfeiern als gesund schuften hatte sich dies zunutze gemacht und knapp »Funktionsstörungen« für den Gang zum Krankschreiber beschrieben). Zumindest eine Zeit lang wurde auch die Einsicht vertreten, dass »Gesundheit« sowieso nicht zu haben ist und man sich in einer Ausbeutungsgesellschaft auch nur einigermaßen wohlfühlen kann, wenn man die herrschenden gesellschaftlichen Zustände bekämpft. Mit dem Abflauen der Bewegung spezialisierten sich beide Seiten: Die »Gesundheitsbewegung« wurde tatsächlich zur Alternativmedizin – und Klassenkampf wurde zunehmend zur Verteidigung der »Ökonomie«, manchmal auch als Alternativökonomie.

Kostendämpfung in der Krise

Die Phase von 1968 bis Mitte der 70er Jahre gilt als die Reformphase (nicht nur) der Gesundheitspolitik, der Leistungskatalog wurde erweitert, Begriffe wie Prävention und Qualität tauchten auf. Mitte der 70er Jahre bekam der Begriff Reform eine andere Bedeutung. Mit dem tiefen Kriseneinbruch 1974/75 und dem Ende der Vollbeschäftigung beginnt die Diskussion um »Kostenexplosion« und »Kostendämpfung« des MIK. Seit dem »Kostendämpfungsgesetz« des SPD-Ministers Ehrenberg von 1977 geht es um die Reduzierung sozialstaatlicher Leistungen im Rahmen der Krankenversicherung, seither wird mit diesen beiden Kampfbegriffen alles begründet: von den Zuzahlungen bei den Medikamenten bis zu den Privatisierungs- und Rationalisierungsplänen im Krankenhaus. Dabei kann von einer Kostenexplosion keine Rede sein. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für die Gesundheitsversorgung sind absolut zwar gestiegen, in Prozenten am Bruttoinlandsprodukt aber seit 1975 nahezu konstant geblieben: Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung lagen 1980 bei 6,1 Prozent und liegen 1999 im Westen bei 6,2 Prozent und insgesamt in Deutschland bei 6,5 Prozent. In den letzten beiden Jahrzehnten ist aber tatsächlich etwas angestiegen, was die permanente Kostendämpfungspropaganda legitimiert. Der durchschnittliche Beitragssatz für die GKV ist seit 1970 kräftig angehoben worden: von 8,2 Prozent des beitragspflichtigen Lohns im Jahre 1970 auf 13,6 Prozent im Jahre 1998 und 14,5 Prozent im Jahr 2003. Und das merken wir alle, wenn wir auf unseren Lohnzettel schauen und immer mehr Kohle für die Krankenversicherung weggeht.2 Außerdem sind die Einnahmen der GKV durch verschiedenen staatliche Eingriffe zurückgegangen, z.B. durch die Kürzungen des Beitrags der Rentenversicherung zur Krankenversicherung Anfang der 80er Jahre, oder die Absenkung der Krankenkassenbeiträge aus der Arbeitslosenversicherung 1992.

<f>Seit dem Kriseneinbruch Mitte der 70er Jahre funktioniert das Finanzierungsmodell nicht mehr. Die Einnahmen der GKV schwinden mit dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit und sinkender Lohnqoute. Die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt, ist bis 1975 auf 75 Prozent gestiegen und bis 2001 auf ca. 65 Prozent gefallen. Gleichzeitig verhindern dieselben Strukturen, die in den 50er/60er Jahren sozial- und gesundheitspolitisch »funktioniert« haben (Investition in die Arbeitskraft und eine Ausdehnung der medizinischen Versorgung) seit 25 Jahren die »Strukturreform«. Diese Strukturen bieten dem medizinisch/industriellen Unternehmen und der Pharmaindustrie weiterhin staatlich garantierte Absatzmärkte, auf denen sie den Bedarf weitgehend selbst bestimmen können. Seit 1995 konnte die Pharmaindustrie ihren Umsatz um über 50 Prozent auf 25 Milliarden Euro anheben, die medizinische Geräteindustrie konnte 2002 ihren Umsatz um acht Prozent auf 13 Milliarden Euro steigern.

Selber schuld!

Kostendämpfung bedeutet zwei Dinge: die Lohnabhängigen sollen mehr zahlen, nach Schätzungen der Gewerkschaft ver.di kommen die ArbeiterInnen inzwischen mit fast 70 Prozent für die Kosten der GKV auf. Zweitens sollen die Lohnabhängigen im Gesundheitswesen mehr arbeiten. Gleichzeitig hat »Kostendämpfung« eine propagandistische Ebene: Es macht die Bevölkerung selber, und wiederum vor allem die ArbeiterInnen, für die Kostenprobleme verantwortlich: Ein an sich positiver Fakt wird zum Problem – zu viele Leute werden zu alt, und sie verhalten sich auch noch gesundheitsschädlich.

<f>Dabei wird der Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und bestimmten Krankheiten usw. inzwischen auch von der bürgerlichen Geschichtsschreibung akzeptiert – zumindest historisch: Das Verschwinden von Seuchen oder Infektionen, die im 18./19 Jahrhundert vor allem in den Wohngebieten des Proletariats gewütet hatten, war weniger den »Errungenschaften der Medizin« zuzuschreiben, als vielmehr der Verbesserung der allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen, bzw. den Kämpfen darum. Aber solche Zusammenhänge gibt es natürlich auch noch heute: Der krankmachenden Lohnarbeiterexistenz ist nicht über individuelles »gesundes Verhalten« zu entkommen. Angehörige der Mittel- oder Oberschicht können z.B. mit Nichtrauchen oder Sport, dem »Abstellen eines Risikofaktors«, tatsächlich gesünder älter werden. Dasselbe Verhalten ist bei ArbeiterInnen nicht nur seltener anzutreffen, sondern führt auch nicht zu diesem Ergebnis. Dennoch können Argumente über »Risikogruppen« in einer individualisierten Gesellschaft greifen, weil 20 Prozent der Krankenversicherten 80 Prozent der Kosten »verursachen«.

<f>Krankheit ist Ergebnis der Ausbeutung, Arbeit macht krank – die Kosten für die Reparatur der Arbeitskraft und die Pflege der nicht mehr arbeitenden Teile der Arbeiterklasse sind gesellschaftlich notwendige Kosten, Teil der Reproduktionskosten der Arbeitskraft. Außerdem hat der MIK eine Kontroll- und Disziplinarfunktion gegenüber der Arbeitskraft. Die »Kostendämpfung« ist auch deswegen permanent und zäh, weil diese Funktion aufrecht erhalten muss. Die niedergelassenen Ärzte haben eine Schlüsselposition, nicht nur als »Strukturproblem«, sondern dadurch, dass sie an der Stelle sitzen, wo das Gesundheitswesen von den Menschen benutzbar wird. Sie kontrollieren den Zugang zu Krankschreibungen, Kuren, Berentungen… Die Kontrolle dieses Zugangs ist bis heute ein Ziel aller »Kostendämpfungsversuche«. Das lässt sich auch an den konkreten Maßnahmen der »Kostendämpfung« nachvollziehen. Mit der Pflegeversicherung von 1994 sollte die »Fehlbelegung« teurer Krankenhausbetten abgebaut werden. Dazu kamen neue gesetzliche Regelungen zur Kontrolle der Arbeitsunfähigkeit im Krankheitsfall: Inzwischen kann formal überall ein Krankenschein ab dem ersten Tag verlangt werden.

Die Zuspitzung der kapitalistischen Krise und die »Strukturreform«

Die Finanzierungsprobleme der Krankenversicherung lassen sich nicht auf finanzielle Fragen reduzieren. Die Investitionen in die Arbeitskraft sollen zurückgefahren werden, sie gelten in ihrer Höhe klassenpolitisch zunehmend als unnötig: Der »soziale Friede« und die hohe Arbeitsproduktivität sind heute billiger zu haben. Und unter dem Druck der kapitalistischen Krise scheinen auch die zähen »Strukturblockaden« langsam aufzuweichen. Neben der Senkung der Reproduktionskosten der Arbeiterklasse geht es um die Ausweitung und Privatisierung der Gesundheitsbranche, mit der Herstellung und Produktion von »Gesundheit« soll weiterhin Geld verdient werden. Da liegt aber noch ein Problem. Die Unternehmer sind über den sogenannten Arbeitgeberanteil an den Kosten beteiligt (sie zahlen schon lange nicht mehr die Hälfte – und auch der »Arbeitgeberanteil« ist einbehaltener Lohn). Solange alle Kapitalisten steigende Lohnkosten haben, wenn die Gesundheitskosten steigen, sind sie nicht unbedingt dafür, dass ein paar Unternehmen, die speziell in diesem Bereich ihr Geld verdienen, hohe Gewinne haben. Darauf zielen die kommenden »Reformen« ab, der Anteil der Unternehmer soll reduziert, »eingefroren« werden. Wenn die Unternehmen nur noch eine Fixsumme zahlen müssen, dann sind ihnen steigende Krankenkassenbeiträge egal. Der aktuelle Vorschlag der Grünen zur Bürgerversicherung zielt darauf, durch die Umstellung auf eine Bürgerversicherung und/oder Kopfpauschale alle zu »Bürgern« zu machen. Zwar müssten ArbeiterInnen und KapitalistInnen Beiträge bezahlen, aber das Kapital wäre von der Zuzahlung befreit (die diskutierte Miteinbeziehung von Zinsen, Mieteinnahmen usw. ändert daran grundsätzlich nichts).



Zwei der Hauptakteure der ’Gesundheitspolitik« – die Krankenkassen und die kassenärzliche Vereinigung – sind Ergebnis der Einrichtung der Sozialversicherung seit Ende des 19. Jahrhunderts. Zu Beginn war die Sozialversicherung keine Forderung der ArbeiterInnen und auch nicht ihrer Organisationen. Stattdessen wurde die Sozialversicherung als Enteignung der bestehenden Versorgungsstrukturen gesehen, die als Absicherung gegen die Lebensrisiken vom entstehenden Proletariat eingerichtet worden waren. Sich im kapitalistischen System einzurichten (was die Enteigung der eigenen Versorgungsstrukturen bedeutete) war alles andere als selbstverständlich. Auf der anderen Seiten wussten die Unternehmer und die bismarckschen Sozialplaner, dass sie diese unabhängigen Versorgungsstrukturen auflösen mussten. Sei es, weil diese Strukturen auch die Basis von Organisationsversuchen waren, sei es, um die ArbeiterInnen an den Arbeitsmarkt zu binden. Die Enteignung der bestehenden Versorgungsstrukturen und die Einrichtung der Sozialversicherung lief über die Einbindung der Gewerkschaften in die Verwaltung der Sozialversicherung. Die vormals selbstververwalteten Versorgungsstrukturen hatten sich bereits 1885 zu 17.500 unterschiedlichen Krankenkassen entwickelt. Diese Institutionen entwickelten sich zu einer Domäne der Sozialdemokratie, auch deswegen, weil sie für viele Sozialdemokraten oft einige der wenigen Möglichkeiten zum beruflichen Aufstieg im damaligen Kaiserreich boten. Die heutige starke Stellung der Ärztevertretungen wurde im Faschismus durchgesetzt. Die als ’rote Kassen« bezeichneten Betriebskrankenkassen, Orts- und Hilfskassen wurden verstaalicht. Der unter Brüning 1931 durchgeführte Übergang des Sicherstellungsauftrages für die medizinische Versorgung von den Kassen auf die neugeschaffene kassenärztliche Verwaltung der Ärzte wurde im Nationalsozialismus weiter ausgebaut (vor diesem Ü bergang waren die Ärzte praktisch Angestellte in den von den Krankenkassen eingerichteten Polikliniken und Krankenhäusern).
Das erklärt teilweise, warum wir bis heute aus den Krankenkassen Polemiken gegen die Interessenvertretungen der Ärzte hören, aber auch, warum diese Diskussionen nie die Ebene der ’Strukturdebatte« verlassen, und sich gegen die Lohnkürzungen, die diese ’Kostendämpfungs- und Strukturdebatten« seit 1975 bedeuten, so schwer Widerstand entwickelt.




...die Situation am Arbeitsplatz Krankenhaus

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre entwickelte sich in ganz Westeuropa – mit Schwerpunkt in Frankreich – eine Bewegung im Pflegebereich. In ihrem Zentrum stand eine neue Generation von Krankenschwestern. Der Mythos von der »erfüllenden Arbeit am Menschen« zog bei diesen Frauen nicht mehr, schon gar nicht, wenn damit Rund-um-die-Uhr-Maloche zu Niedriglöhnen begründet werden sollte. Mit Demos, Streiks und allerhand öffentlichen Aktionen setzten die KrankenpflegerInnen die gesellschaftliche Anerkennung ihrer qualifizierten Arbeit durch. Die Gewerkschaft setzte das in den nächsten Jahren in deutlich höhere Löhne um, zudem wurde das Personal aufgestockt und somit die Belastung verringert. Die Bewegung hatte aber auch gegen das Krankenhaus als »weiße Fabrik« polemisiert. Tatsächlich war das Schlagwort von der »Dienstleistungsgesellschaft« in den 80er Jahren vor allem beschönigende Propaganda, hinter der eine breite Industrialisierung von Reproduktionsarbeit stand. Frauen machten nun für Kohle das, was sie zuvor unentlohnt getan hatten. Die Flucht aus der Familie und die Krise der traditionellen Industriesektoren führten sehr oft ins Krankenhaus und zu Jobs in den »sozialen Dienstleistungen«. An dieser zweiten Front, gegen die »weiße Fabrik«, konnte die Bewegung nur wenig ausrichten. Von heute aus betrachtet lässt sich sogar sagen, dass Forderungen wie z.B. die nach »besserer Pflege« von den Umstrukturierern benutzt werden konnten – etwa mit an Industriestandards angelehnten Qualitätszertifikaten/Normen, mit denen die Arbeit in den Krankenhäusern verdichtet und neue Hierarchien durchgesetzt werden konnten. In den 90er Jahren wurden mit immer weniger Betten immer mehr »Fälle« in immer kürzerer Zeit durch die Krankenhäuser »hindurchbetreut«.
Seit Mitte der 90er Jahre wird die Schraube in bezug auf Arbeitsverdichtung und schlechtere Löhne wieder angezogen. Vor dem aktuellen Hintergrund von allgemeiner Krise, Kürzung der Sozialausgaben und der sogenannter Kostendämpfung im Gesundheitswesen erreichen diese Angriffe nun auch die Kliniken und Abteilungen, die früheren Hochburgen der Krankenschwesternbewegung waren und um die solche Angriffe bisher herumgegangen waren: die großen Krankenhäuser und Universitätskliniken.

Freiburger Universitätsklinik

1995 auf einer Personalversammlung der Freiburger Universitätsklinik: Personalrat und örtlicher Gewerkschaftsfunktionär thematisieren die angeblich anstehende Privatisierung der 4 Unikliniken in Baden-Württemberg. Es drohe der Ausstieg aus den Tarifverträgen und etliches mehr. Nur mit dem Eintritt in die Gewerkschaft könne dies verhindert werden. Auf derselben Personalversammlung wurde die Verhinderung der Auslagerung/Privatisierung der Putzdienste gefeiert: Der Personalrat hatte in Zusammenarbeit mit der Verwaltung die Putzdienste selber rationalisiert. Sicher, für die meist ausländischen Putzfrauen war diese Lösung besser als eine tatsächliche Auslagerung – trotzdem gab es massig Unzufriedenheit unter den Leuten, aber das interessierte angesichts des »Erfolges« nicht. Reste einer noch bestehenden unabhängigen Klinikgruppe verteilten einen Aufruf zu Aktionen gegen die beginnenden Umstrukturierungen: nicht auf die Privatisierung schielen, sondern jetzt schon was machen, sonst werden wir gar nicht die Kraft haben, eine eventuell anstehende Umstrukturierung zu verhindern, so der Tenor. Sowohl der Aufruf, in die Gewerkschaft einzutreten, als auch der Aufruf der unabhängigen KlinikarbeiterInnen verpufften ungehört.
2003, acht Jahre später, selber Ort, selber Gewerschaftsfunktionär, nur inzwischen noch ein bisschen mehr Funktionär, frisch von einem Treffen mit schwarzer Jacke und Krawatte: Die Landesregierung plane den Austritt aus dem Arbeitgeberverband und die Privatisierung der Unikliniken in Baden-Württemberg, wer jetzt nicht in die Gewerkschaft eintreten würde, der müsse in Zukunft mit einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen rechnen. Anders als vor acht Jahren sind nach Angaben der Gewerkschaft in den darauffolgende Wochen mehr Leute eingetreten als im ganzen vorausgegangenen Jahr.

Klinikum Wahrendorf, Sehnde-Illten (bei Hannover)

Das Klinikum Wahrendorff, ein Fachkrankenhaus für Psychiatrie mit 200 voll- und rund 60 teilstationären Betten und einem Heimbereich mit rund 700 Wohnplätzen, ist die größte private psychiatrische Klinik in Europa. Derzeit arbeiten hier rund 800 Beschäftigte. 1992 ging das vor dem Konkurs stehende Krankenhaus der Wahrendorff-Erbengemeinschaft für eine Millionensumme in den Besitz von Matthias Wilkening, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, über. Von Anfang an wurde versucht, mittels Umstrukturierungen, Rationalisierungen und Auslagerungen (z.B. Küche, Wäscherei, handwerklicher Bereich) und Angriffen auf die Beschäftigungsverhältnisse den Laden umzukrempeln.
Inzwischen gibt es im Prinzip drei unterschiedliche Arbeitsverträge:

• die vor 1992 abgeschlossenen Verträge mit den Regelungen des Tarifvertrags des Verbandes der Privaten Krankenanstalten Niedersachsens mit der ÖTV/DAG, heute ver.di (angelehnt an den BAT);

• die seit 1993 vereinbarten Verträge (Wilkening trat zum 31.12.1992 aus dem Arbeitgeberverband aus) sind vom BAT abgekoppelt worden. Nun gibt es »Festgehälter«, tarifliche Zusatzleistungen und die Übernahme von Tariferhöhungen sind in einer Ergänzungsvereinbarung als »Kann-Leistungen« definiert.

• seit 1999 werden »individuelle« Verträge abgeschlossen, die sich an gar keinem Tarif anlehnen. Seit fast vier Jahren verhandeln Geschäftsleitung, ver.di und Betriebsrat um einen Haustarifvertrag.


Immer mehr KollegInnen (v.a. dreijährig examinierte) kündigten und »flüchteten« in andere Häuser. Diese Entwicklung fing die Geschäftsleitung nicht mit Neueinstellungen auf, sondern erhöhte den Druck: Es gibt kaum noch freie Tage, Ruhezeiten werden ignoriert. So gab es Anrufe, bei denen ernsthaft gefragt wurde, ob KollegInnen nicht zum Nachtdienst kommen könnten, obwohl sie gerade nach dem Frühdienst zu Hause anlangten. Die Situation eskaliert immer mehr, es wird seit Jahren nur noch mit ungelernten Aushilfen gearbeitet. Damit wenigstens immer eine examinierte Pflegekraft im Dienst ist, werden diese von anderen Stationen abgezogen. Stellenausschreibungen werden nur intern ausgehängt, wir wurden dazu animiert, selbst KollegInnen zu werben. 2001 initiierte die Geschäftsleitung einen »Wettbewerb«: Der beste Rationalisierungsvorschlag sollte mit einer Reise prämiert werden – die KollegInnen sandten nicht einen einzigen Vorschlag ein! Auch die mit einer Prämie verbundene Aktion »Mitarbeiter/in des Monats« motivierte die Beschäftigten nicht. Gerne werden auch sog. »Krankenrückkehrgespräche« geführt.
Dennoch entwickeln sich widerständige Strukturen, die marginal erscheinen mögen, für die KollegInnen aber riesige Schritte bedeuteten. So wurde in der Vergangenheit über kollektives Krankfeiern sinniert, da es keinerlei Bereitschaft zu offenen Streiks gab. Über KollegInnen, die über viele Stationen rotierten, wurden Stimmungen, Ereignisse und Ideen ausgetauscht. Es gab Ansätze von »Dienst nach Vorschrift«, individuelles Krankfeiern oder auch »verdeckte« Arbeitsverweigerungen; KollegInnen, die z.B. auf anderen Stationen aushelfen sollten, reichten »gelbe Scheine« ein. Leider hat das nie ausreifen können, da immer wieder kämpferische KollegInnen »abwanderten«.
Vor Kurzem erhielt ein Großteil der Beschäftigten die Aufforderung, detaillierte Auskünfte über ihre Erkrankungen zu geben, »um eine bessere Planbarkeit der Arbeitskraft vornehmen zu können und zu prüfen, ob die Fortführung des Arbeitsverhältnisses zumutbar ist.« Es geht nicht nur darum, kranke Beschäftigte loszuwerden und diejenigen, die den Mund aufmachen, zum Schweigen zu bringen (z.B. mit Zwangsversetzungen oder Abmahnungen). 135 (der zwischen 1992 und 1999 eingestellten) Beschäftigten erhielten die Mitteilungen, dass ihnen aufgrund der gescheiterten Haustarifvertragsgespräche ab Juli nur noch das oben beschriebene »Festgehalt« zustehe, das zur Zeit der Ergänzungsvereinbarung zu ihren Arbeitsverträgen gegolten habe! Einem Großteil der Betroffenen wurden aber neue Verträge angeboten, mit denen sie ihre derzeitige Vergütung und eine nachträgliche Erhöhung für die vergangenen drei Jahre erhalten sollen. 20 KollegInnen wurde dieses Angebot nicht unterbreitet. Diese KollegInnen sehen sich mit monatlichen Einkommenseinbußen von bis zu 800 Euro brutto (also einem Drittel ihrer Gehälter) konfrontiert, damit würden sie weniger als BerufseinsteigerInnen (bei BAT) verdienen. Wie diese »Auswahl« zustande kam, ist noch unklar. Fakt ist, dass unter den Betroffenen KollegInnen sind, die bisher nicht mundtot zu kriegen waren und die Zustände immer wieder zur Sprache brachten. Mittlerweile klagen fast 200 Beschäftigte vor dem Arbeitsgericht auf tarifliche Bezahlung. Leider haben auch diese Angriffe noch nicht zu kollektiven Kampfformen geführt, zum Teil wird noch immer den Versprechungen hauptamtlicher Funktionäre der reformistischen Gewerkschaften geglaubt, die ihr eigenes Süppchen kochen. Denn ver.di versucht auch hier im Klinikum Wahrendorff wieder nichts anderes, als die Wut in regelrechten »Mitgliederwerbe- und Klagekampagnen& laquo; zu kanalisieren und zu individualisieren. Die KollegInnen lassen sich nach wie vor spalten, und einige dienen sich weiterhin der Geschäftsleitung an.

Nandor

Median Klinik Freiburg

Die Klinik gehört zur Unternehmensgruppe Dr. Marx, die Ende der 60er Jahre in Berlin entstand und sich erst einmal mit Immobilien und Wohnungsbau beschäftigte. Im Laufe der Zeit entstanden ca. 34 Rehabilitationskliniken in ganz Deutschland, hier im Raum sind es drei.
Die Medianklinik ist privat, wir werden nicht nach BAT bezahlt, es gibt einen eigenen Tarifvertrag, der unter dem des öffentlichen Dienstes liegt. Dr. Marx hat nach der Tariferhöhung im öffentlichen Dienst eine Nullrunde beschlossen. Ver.di Südbaden verhandelt mit der Unternehmensgruppe, es kam – allerdings getrennt! – an allen Standorten in Südbaden zu von ver.di organisierten Protestaktionen.
Die Arbeitgeberseite redet von Verlusten, du kriegst fast Mitleid und fühlst dich »schuldig«, nicht noch schneller, noch besser zu arbeiten. Die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust soll das Personal mundtot machen.
Es gibt drei Stationen: eine hat 30 Kurzzeitpflegebetten, die beiden anderen jeweils knapp 50 Rehabetten. Ich arbeite auf einer Station mit 48 Betten, wovon zwischen 35 und 44 belegt sind. Vom Pflegepersonal haben ca. zwei Drittel eine ein- oder dreijährige Ausbildung (Kranken- und Altenpflege). Dann gibt es FSJler, Zivildienstleistende und mehrere PflegehelferInnen. Im Frühdienst bist du mit 2 Examinierten und einem Helfer für ca. 20 PatientInnen zuständig, im Spätdienst arbeitet oft eine Pflegekraft mit ein bis zwei Helfern. In der Nacht ist eine Examinierte für die ganze Station zuständig, und ein Helfer ist für das ganze Haus als Springer eingesetzt.
Die Fluktuation ist hoch, da die Arbeit sehr anstrengend ist. Die PatientInnen sind hochgradig pflegebedürftig. Es ist psychisch anstrengend, da die Patienten oft an Demenz, und Hörproblemen leiden.
Bei hoher Fluktuation kommen ständig neue Leute nach. Das läßt vermuten, dass das Arbeitsamt »schwer vermittelbare« Arbeitslose in die Altenpflege reindrängt. Außerdem scheint das Arbeitsamt für die Übernahme von schwer vermittelbarem Pflegepersonal zu bezahlen.
Wir stehen immer in dem Konflikt: Sich der Arbeitsbelastung zu entziehen bedeutet, die PatientInnen zu vernachlässigen. Die Verwaltung kümmert es nicht, ob du die Leute 1,2,3 oder 5 mal aus der Scheiße ziehst. Tagessatz bleibt Tagessatz.
Die Akademisierung der Pflege hat dazu geführt, dass die Distanz zwischen Pflegenden und Leitung immer größer geworden ist. Sie befinden sich auf der anderen Seite, so dass sich das Pflegepersonal nicht vertreten und in seinen Problemen nicht wahrgenommen fühlt. Auf dieser akademischen Ebene entwickelt sich die Pflege immer weiter, z.B. durch Pflegediagnosen. Qualitätskontrolle ist das Schlagwort in der Pflege. Die Pflegediagnosen sollen die Pflege aufwerten, lehnen sich aber sehr stark an ärztliche Diagnosen an und übernehmen diese Sichtweise von Krankheit. Letztlich soll die Akademisierung verschleiern, dass sich die Situation der Pflegenden und der zu Pflegenden in den nächsten Jahren sehr stark verschlechtern wird.



Die kurzen Eindrücke aus der Freiburger Universitätsklinik und die beiden Berichte aus privaten Kliniken zeigen die drei Strategien der Umstrukturierung: Rationalisieren, Auslagern, Privatisieren.

• Die unmittelbaren Arbeitsprozesse (»Pflegeprozess«) müssen messbar und somit rationalisierbar gemacht werden. Die Pflegedokumentation kontrolliert alle Arbeitsschritte, und ist gleichzeitig die Voraussetzung für die Standardisierung der Arbeitsprozesse und damit die »Industrialisierung« der Pflegearbeit.

• Die zuarbeitenden Funktionen werden hierarchisiert und zentralisiert. Vom Bettenwaschen bis zur Essensausgabe wird die Arbeit zunehmend aufgespalten, damit die einzelnen Bereiche getrennt »optimiert« werden können.

• Die Kliniken selber werden privatisiert. Das hat mit Pflegeheimen, Spezial- und Rehabilitaionskliniken angefangen, droht inzwischen aber tendenziell jedem Krankenhaus.

Diese Maßnahmen sind schon lange in der Diskussion. 1988 hatten wir in der Wildcat 44 diese drei Linien der Umstrukturierung herausgearbeitet und die Einführung sogenannter DRGs (Diagnosis related Groups – Fallpauschalen) als kapitalistische Synthese der Rationalisierungsbemühungen beschrieben. Schon damals konnten wir aus der Ausgabe 2/88 von Die Schwester/der Pfleger zitieren:

Drgs sind Fallpauschalen, (sie) stellen ein Klassifikationssystem dar, das den Patienten bei der stationären Aufnahme, je nach Diagnose in bestimmte Diagnosegruppen einordnet, ein Vergütungssystem, das eine im vornehinein festgelegte Pauschale pro Diagnosegruppe zusichert. Wird der Patient vor der Ausschöpfung der Summe entlassen, kann das Krankenhaus die Differenz einbehalten (…) Zudem zwingt es die Krankenhaushausleitung, sich an marktwirtschaftlichen Prinzipien zu orientieren. Diese Management-Behandlungsstrategie bewirkt die Verkürzung der Verweildauer, erhöht aber die Pflegeintensität. (…) Die Pflegedokumentation bildet die unverzichtbare Datenbasis für eine realistische Pflegeadministration. Denn auf aus der Pflegedokumentation gewonnenen Daten basiert der Produktivitäts- und Qualitätsnachweis. Die von der Basis der Pflegearbeit stammenden Daten bilden die Grundlage für Managemententscheidungen der Pflegedienstleitungen, um den Personal- und Mehraufwand den veränderten Bedingungen anpassen zu können (…) Endlich ist es möglich, die Arbeit der Pflege für die Gesamtproduktion des Krankenhauses darzustellen (…) Die vielschichtigen Veränderungen kann die Pflegedienstleitung allein nicht bewältigen. Sie muss daher alle in der Pflege Tätigen mobilisieren und sie durch Aufklärungsarbeit emotional und rational für die neue Realität sensibilisieren (…) dabei ist es wichtig, die berufliche Herausforderung der einzelnen sowie die kollektive Chance der Pflegenden, produktiv am wirtschaftlichen Erfolg des Pflegedienstes im engeren und des Krankenhauses im erweiterten Sinn mitwirken zu können, hervorzuheben. Und dazu wird jede Pflegeeinheit als Kostenstelle eingerichtet, Leistungserfassungslisten, die den Leistungsstand monetär ausdrücken, sind unentbehrliche Instrumente für ein wirtschaftliches effizientes Management. (…) (die Schwester/der Pfleger 2/88 – zit. nach Wildcat 44)

Ab Januar 2004 soll nun die Finanzierung der Krankenhäuser auf solche Fallpauschalen umgestellt werden. Über die Folgen sind sich alle – Krankenkassen, Gewerkschaften, Gesundheitsökonomen, Krankenhausleitungen – einig: Kleinere Krankenhäuser werden zumachen und/oder weiter Betten abbauen, die großen Krankenhäuser kommen unter Rationalisierungsdruck. Die Verweildauer der Patienten wird weiter gesenkt, sie kehren früher und kränker in die Pflegeheime, ambulanten Dienste, Rehakliniken usw. zurück. Die Ausbeutung der »GesundheitsarbeiterInnen« soll von zwei Polen aus reorganisiert werden: In den (Groß-) Kliniken ist die Umstellung der Krankenhausfinanzierung und die damit oft verknüpfte Privatisierung(sandrohung!) Mittel zur Steigerung der Produktivität und zur weiteren Arbeitsverdichtung, während Privatisierung und Expandierung der Gesundsheitsbranche in den die Kliniken umgebenden Bereichen die Ausbeutung von zusätzlicher billiger, prekärer Arbeitskraft ermöglicht.


Die Umstrukturierung in den 90er Jahren

Mehr Personal und besser standardisiert

In den ca. 2100 allgemeinen Krankenhäusern (ohne die ca. 1300 Rehakliniken) in Deutschland arbeiten rund 1,1 Millionen Menschen. Das ist eine bunt zusammengesetzte Arbeitskraft: Pflegehilfskräfte, Zivildienstleistende, studentische Aushilfen, KrankenpflegerInnen, medizinisch-technisches Personal, PutzarbeiterInnen, WäschereiarbeiterInnen, ärztliches Personal, Küchenpersonal… Ungefähr ein Drittel davon sind Krankenschwestern/Pfleger, ca. 100 000 arbeiten im hauswirtschaftlichen Bereich, 65 000 in der Verwaltung, 100 000 ÄrztInnen, 145 000 im medizin-technischen Bereich. Die Anzahl der Beschäftigten war Anfang der 90er und Ende der 90er Jahre in etwa gleich, aber die Arbeitskraft war insgesamt neu zusammengesetzt worden: Die Zahl der Ärzte ist um über 10 Prozent gestiegen – und mit ihnen die Zahl ihrer »direkten« ZuarbeiterInnen: der Pflegedienst, der medizin-technische Bereiche und die Funktionsdienste (z.B. Operationsbereich, Diagnostik). In den Wäschereien, Küchen und den Reinigungsdiensten hat das Personal zwischen 10 und 40 Prozent abgenommen – wobei die Zahlen nicht zwischen Auslagerung und Arbeitsverdichtung unterscheiden lassen.
Das Pflegepersonal wurde nach der Bewegung Ende der 80er Jahre bis Mitte der 90er Jahre aufgestockt, es wurde Dampf aus dem Kessel gelassen. Über die sogenannte Pflegepersonal-Regelung (PPR) wurde zu Beginn der 90er Jahre das Personal aufgestockt; darin enthalten war ein zusätzliches Dokumentationssystem, das detaillierte Zeitvorgaben für die Pflegearbeit machte und somit die einfache Berechnung der Mindestanzahl qualifizierter PflegerInnen ermöglichte. Die Dokumentierung und Standardisierung der Pflegearbeiten konnte an der Forderung nach »besserer Pflege« andocken, da sie verspricht, die Fehler und Unzulänglichkeiten der »weißen Fabrik« zu minimieren. 1996 wurde die Personalaufstockung via PPR ausgesetzt, als Instrument zur Standardisierung der Pflegearbeit wurde PPR aber beibehalten.
In den Kliniken mit über 500 Betten und besonders in den 35 Universitätsklinken wurde bis zum Ende der 90er Jahre vor allem die Arbeit der »zuarbeitenden Funktionen« verdichtet. Zu Beginn der 90er Jahre hatte es mehr Pflegepersonal gegeben, ab Mitte der 90er Jahre änderte sich auch das: Die Fluktuation wurde benutzt, um Stellen nicht mehr zu besetzen, vor allem in den kleineren Kliniken wurden Stellen abgebaut, mit weniger Personal gearbeitet. Nun geht es darum, den Arbeitsprozeß selber stärker zu rationalisieren – aufregende Zeiten stehen uns bevor!

Die Hierarchie wird wiederhergestellt

Die Krankenschwesternbewegung hatte ein Problem deutlich gemacht, das von der Gegenseite 1988 als »Krise des unteren Managements« beschrieben wurde: Die Funktion der Stationsleitung hatte sich in den 80er Jahren praktisch auf alle ausgebildeten Kräfte verteilt, auch wenn es formal eine Stationsleitung und deren Stellvertretung gab. Das funktionierte fürs Krankenhaus, weil es die Leute trotz allem Frust bei der Stange hielt und motivierte. »Krise des unteren Managements« bedeutete, dass die formale Qualifikation praktisch keine Rolle spielte. Alle taten mehr oder weniger das Gleiche, irgendwie musste das, was an anfiel, eben weggearbeitet werden. Daraus ergab sich eine Kommunikation, die für die Bewegung wichtig werden sollte: Die Diskussionen wurden über die Aushilfen, Schülerinnen usw. über die einzelnen Stationen hinaus verbreitet. So konnten Erfahrungen verglichen oder verallgemeinert und die Ebene der einzelnen Station mit ihren speziellen Problemen durchbrochen werden. Um die Umstrukturierung durchzusetzen und dem »demokratischen Stil« der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen, war wieder die »hierarchische Seite« der Vorgesetzten gefragt, sie sollten neue Arbeitsprozesse und Vorgaben auch durchsetzen und kontrollieren können. Hierzu musste die Homogenisierung aufgebrochen werden. Das funktionierte zunächst über das Eingehen auf die Forderungen der Bewegung. Mehr Kohle, mehr Personal, die Arbeit wurde »anerkannt«: Das reichte vom nicht mehr Kaffeekochen für die Ärzte bis zur Einrichtung von Fortbildungsprogrammen und Studiengängen für PflegerInnen, also eine weitere Qualifizierung. Die studierten PflegerInnen tauchen inzwischen wieder auf den Stationen auf. Als sogenannte Pflegeexperten galten sie offiziell anfangs noch als Ansprechpartner bei Pflegeproblemen (obwohl die meistem KollegInnen von Beginn an misstrauisch waren, weil die einem auf die Finger schauen), inzwischen »begleiten« sie ganz offen die Einführung der oben beschriebenen Fallpauschalen und die Kontrolle der Pflegedokumentation, bzw. der Standardisierung. Außerdem wurden die PflegerInnen zunehmend von »fachfremden Tätigkeiten« befreit: bis vor ein paar Jahren waren z.B. Putzarbeiten normal. Die Bewegung hatte bestimmte Tätigkeiten abgelehnt, »um besser pflegen zu können«. Putzen, Betten waschen, Transportdienste gehören heute weitgehend der Vergangenheit an. Die Konflikte um diese Arbeiten sind aber nicht weg, sie finden heute zwischen Qualifizierten und ZuarbeiterInnen statt. Heute herrscht eher ein Vorarbeiterverhälnis, es gibt eine zunehmend strikte Trennung zwischen Qualifizierten und Nichtqualifizierten. Es wird weniger kommuniziert und mehr delegiert. Mit der Befreiung von »fachfremden Tätigkeiten« und der Aufwertung des sogenannten Pflegeprozesses sollen sich die KrankenpflegerInnen auf die Planung und Durchführung der Pflege konzentrieren. Mit der Ideologie der ganzheitlichen Pflege soll jede examinierte Arbeitskraft eine bestimmte Anzahl von PatientInnen »eigenverantwortlich« versorgen. Das hat dazu geführt, dass jede/r für den Arbeitsanfall in ihrem/seinem Bereich zuständig ist und der Druck entsteht, das auch hinzubekommen. So kommt es viel schwerer zu gemeinsamen Diskussionen über die Arbeitsbelastung oder gar dazu, zusammen mal »Stop« zu sagen!

Privatisierungen

Die Privatisierung von Küchen, Wäschereien und Putzdiensten hatte bereits in den 70 Jahren begonnen, aber auch Laborarbeiten und Transportdienste wurden ausgelagert oder rationalisiert. In den 80er Jahren kam die Privatisierung von Pflegeheimen, die Einrichtung von Spezialkliniken und der Bereich der Rehabilitationskliniken hinzu. In den 90er Jahren weitete sich die Privatisierung auf städtische Kliniken und Kreiskrankenhäuser aus. 3
Seit Anfang der 90er Jahre sind ungefähr 150 kleinere Krankenhäuser zugemacht worden, die Anzahl der Betten hat sich von 685 000 1990 auf 570 000 im Jahr 2000 reduziert. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Behandlungsfälle um 15 Prozent, die durchschnittliche Verweildauer sank um 25 Prozent. Ein Großteil der daraus resultierenden Arbeitsverdichtung fand bislang in den Kliniken mit weniger als 500 Betten statt. In diesem Bereich ist die Anzahl an privatisierten Kliniken in den 90er Jahren um 35 Prozent gestiegen. Ungefähr 20 private Klinikketten betreiben inzwischen ein knappes Viertel der Krankenhäuser. Allerdings befinden sich noch immer weniger als 10 Prozent der gesamten Krankenhausbetten in privatisierten Kliniken, immerhin eine über 50prozentige Steigerung im Vergleich zum Beginn der 90er Jahre.
In diesen Kliniken finden sich inzwischen die unterschiedlichsten Ausbeutungsbedingungen (siehe den Bericht aus Hannover). Hier wird mit weniger Personal pro Bett gearbeitet, oft arbeitet eine ausgebildete Kraft ausschließlich mit Aushilfen zusammen, viele arbeiten nur noch mit befristeteten Verträgen, und es wird weniger verdient.

Warum funktioniert das Ganze irgendwie?

Die Umstrukturierung in den 90er Jahren konnte die Mobilität der KrankenpflegerInnen in Arbeitsverdichtung und eine Zersetzung der Bewegungserfahrung umsetzen: Viele nutzten die höheren Löhne, um die Arbeitszeit zu reduzieren (siehe die nebenstehende Anmerkung). Viele verließen aber auch die Krankenhäuser und versuchten es in der ambulanten Pflege. Hier hat sich seit der Einführung der Pflegeversicherung 1994 viel getan: Die »Hochleistungsmedizin« in den Kliniken sollte nicht mit Pflegefällen »fehlgenutzt« werden, und die Übernahme der Pflege durch unbezahlte oder prekär beschäftigte ArbeiterInnen sollte einen Schub erhalten. Ende der 80er Jahre wurde die geringe Anzahl an ambulanten Pflegediensten festgestellt. Zu Beginn der 90er Jahre waren es ca. 1700 bundesweit, 1993 waren es bereits über 6000 und für Ende der 90er Jahre werden Zahlen um die 13 000 genannt. Gleichzeitig erhöht sich in diesen Pflegediensten der Druck, mit immer weniger Leuten die Pflege hinzubekommen: Immer weniger ausgebildete Kräfte sind für die sogenannte medizinische Pflege zuständig und für die Organisierung der »nicht-medizinischen« Leistungen wie Einkaufen, Putzen, Körperpflege durch nicht ausgebildete PflegerInnen. Eine ähnliche Entwicklung gibt es in der stationären Altenpflege.
Dazu kam eine Art »Zwangsmobilität« vor dem Hintergrund der Umstruktrierung des Gesundheitswesen der ehemaligen DDR. Die Polikliniken wurde praktisch alle zugemacht und das westdeutsche »Kassenarztmodell« eingeführt, in den Krankenhäusern wurden in den 90er Jahren 60 000 Betten zugemacht, hinzu kam der Lohnunterschied zwischen Ost und West.
Und seit Ende der 90er ist auch die selbstbestimmte Mobilität zu Ende. Jahrelang hatten die Leute so gearbeitet, wie sie es sich gerade am besten vorstellen konnten. Wechseln von Teil- und Vollzeitstellen, mal ein Jahr in der ambulanten Pflege, vielleicht eine Pause oder ein Studium einschieben… Alle gehen davon aus, dass auch in den großen Kliniken in den nächsten Jahren unter dem Druck des neuen Krankenhausfinanzierungssystems Betten und Personal abgebaut werden sollen. Sie haben keine Angst vor Arbeitslosigkeit, sondern davor, nicht da oder nicht mehr so arbeiten zu können, wie sie es wollen. Sie wissen, dass in vielen privaten Kliniken weniger bezahlt wird, die Arbeitsbedingungen schlechter sind. Sie wissen, dass die Arbeitssituation in den ambulanten Pflegediensten immer schwieriger wird, und in die Altenpflege wollen sowieso die wenigsten. Es wird immer noch viel darüber geredet, die »Brocken hinzuschmeißen«, zu gehen, aber anders als vor 10 Jahren passiert es immer weniger.
Eine eigentlich paradoxe Situation: Die Umstrukturierung in den 90er Jahren – vor allem im ambulanten Sektor und die Privatisierung in den kleineren Kliniken – traf auf eine durch die Mobilität immer wieder neu zusammengesetzte Arbeitskraft. Die nun anstehende Umstrukturierung in den großen Kliniken findet in einer Situation statt, in der sich viele in diesem Bereich »verschanzen« und gleichzeitig klar ist, dass ein »Wegtauchen« immer schwieriger wird.

Was tut sich in den Kliniken?

Gründe genug eigentlich, dass sich mal wieder was tut!

Die »öffentliche« Debatte ähnelt fast der gesellschaftlichen Diskussion um den sogenannten Pflegenotstand Ende der 80er Jahre: Es gibt reihenweise Berichte über die Auswirkungen der neuen Krankenhausfinanzierung, nach zehn Jahren Pflegeversichderung wird viel über die beschissene Situation in den ambulanten Pflegdiensten und den Altenheimen geschrieben. Das spiegelt sich in einer Reihe von politischen Kampagnen wider. Unter dem Motto »Für eine gesunde Reform« polemisiert auch die Gewerkschaft ver.di gegen die anstehenden Umstrukturierungen und gegen Privatisierung. Tatsächlich werden immer mal wieder Protestaktionen in kleineren Krankenhäusern organisiert. Hier entwickeln sich immer wieder lange und zähe Auseinandersetzungen, in denen es um die Abschlüsse von Haustarifverträgen geht, nachdem die Unternehmer aus dem Arbeitgeberverbad ausgetreten sind und die Tarifverträge für den öffentlichen Dienst (BAT) keine Gültigkeit mehr haben. Oft kommt es zum Abschluss eines Tarifvertrags, der kaum schlechter ist als der BAT.4 Aber damit ist noch gar nichts über die Situation in diesen Kliniken gesagt, wo oft immer weniger Examinierte mit Aushilfen den Laden schmeißen. Außerdem funktionieren diese Konflikte immer als Auseinandersetzung mit dem »eigenen« Kapitalisten, die Grenze des einzelnen Krankenhauses wird nicht überschritten. Schon die ver.di-Parole »für einen solidarischen Wettbewerb« oder »Rationalisieren statt Rationieren« zeigt das ganze Dilemma: Politisch wird gegen die Privatisierung gewettert, in den Kliniken, Pflegeeinrichtungen …, aber die Inhalte der Privatisierung werden mitgetragen. Die Einführung der Fallpauschalen wird befürwortet – nur deren konkrete Ausgestaltung kritisiert. Gegen die Privatisierungsdrohung wird Stimmung gemacht – in den Kliniken soll’s ruhig bleiben. Unter dem Motto & raquo;Gesundheit darf nicht zur Ware werden« mischt sich attac in die Debatte um Gesundheitsreform und Privatisierung ein. Es wird ein Haufen Material zusammen getragen, in vielen Städten entwickeln sich kleine Diskussionszirkel, die aber gar nicht wissen, was sie tun sollen (abgesehen davon, dass solche Kampagnen die aktuellen Verhältnisse schönreden, indem sie vor der schrecklichen Zukunft warnen).
In den Kliniken sind die Bedingungen erstmal anders als vor 15 Jahren. Die Leute scheinen von zwei Seiten in der Klemme zu sitzen. Alle gehen von weiteren Verschlechterungen aus. Gleichzeitig hat die Wiederhestellung der Hierarchie, die Aufwertung der Stellung der examinierten PflegerInnen, die Fluktuation der 90er Jahre zu viel Individualisierung geführt. »Bewegungserfahrung« gibt es kaum noch, die »Alten« sitzen meist auf einer Teilzeitstelle, oder sind in der Hierarchie aufgestiegen. Das skizziert aber nur die Ausgangslage, kann die Grundlage dafür sein, klarzubekommen, wo die Schwierigkeiten liegen. Wir wissen, dass es in den Krankenhäusern, Pflegeheimen … viel Wut über die jetzigen Verhältnisse gibt, Unsicherheit darüber, was noch alles kommen wird. Die Bewegung Ende der 80er hatte die Proletarisierung zum Inhalt: dass es eben ein Job ist, stressig, qualifiziert, schlecht bezahlt. Die »nächste Bewegung« wird darüber hinausgehen, die eigene »produktive Funktion« in der »Weißen Fabrik« zum Inhalt machen: Die in der Debatte um die »Gesundheitsreform« vorgenommen Trennungen zwischen den Arbeitsbedingungen in den Kliniken und Pflegeheimen, sogenannte »Kostenfragen« und Fragen nach den Ursachen der ungleichen Verteilung von »Krankheitsrisiken« in dieser Gesellschaft fallen hier zusammen. Es haut gar nicht hin, »nur« über Arbeitsbedingungen, »nur« über mehr oder weniger Lohn zu reden. Der Beitrag ist auch eine Aufforderung an euch, eigene Erfahrungen, Betriebsberichte o.ä. an uns zu schicken!


Fußnoten:

[1] Bis in die 80er Jahre hinein hießen die entsprechenden Institutionen »Krankenkassen«, erst Mitte der 80er, also im Zuge der 25jährigen »Kostendämpfung« hat sich z.B. die AOK in eine sog. Gesundheitskasse umbenannt. Wenn von dem ganzen Sektor die Rede ist, dann nenne ich das den medizinisch-industriellen Komplex (MIK). Das umfasst - ohne Ärzte - die verschiedenen sozialen Dienstleistungen wie Kranken- und Altenpflege, KrankengymnastInnen, die ArbeiterInnen in den Krankenhäusern, in Arztpraxen und Apotheken…, aber auch die Pharma- und Geräteindustrie. Alles zusammengenommen kommt man auf ca. 3,6 Millionen ArbeiterInnen des MIK.


[2] Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung setzen sich aus dem vom Lohn einbehaltenem Beitragssatz für die Krankenversicherung und dem Beitrag der Unternehmer in der selben Höhe zusammen. Diese »Parität« besteht aber durch die verschiedenen »Kostendämpfungsgesetze« schon länger nicht mehr.
Ausserdem steht hinter dieser »Parität« die Vorstellung, die Unternehmer ausgerechnet mit dem Staat zu irgendeiner Art »verträglicher Ausbeutung« zwingen zu können. Die Einrichtung der Sozialversicherung war die staatliche Anerkennung und Eindämmung der kollektiven Bedrohung des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse. Im Lohn soll die Ausbeutung verschwinden, die Sozialversicherung verschleiert den kollektiven Zusammenhang. Das Einkommen, dass wir über den Lohn - oder vom Staat über die Sozialversicherungen -bekommen hat zweierlei Funktion: die ArbeiterInnen können sich reproduzieren, Kinder bekommen, trotz der Arbeit »gesund« bleiben, als Arbeitskraft wieder hergestellt werden; gleichzeitig ist dieses Einkommen natürlich so bemessen, dass der Zwang zur Arbeit erhalten bleibt.
Der vom Lohn einbehaltene Beitragssatz für die Krankenversicherung ist unmittelbarer Lohnbestandteil. Aber auch der Anteil der Unternehmer wird als »Lohnkosten« behandelt, der bei Tarifverhandlungen und der Preiskalkulation berücksichtigt wird. Auch dieser Anteil ist eine Form des Arbeitslohns, da er Teil der Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft ist. Die »Gesundheitsreform« ist eine versteckte Lohnsenkung. Und es ist was anderes, ob ein Unternehmer im Betrieb den Lohn senkt, oder ob alle wissen, dass sie nun weniger übrig haben, weil es mehr kostet zum Zahnarzt... zu gehen. Diese Verschleierung über die Sozialversicherung ist ein Grund dafür, das sich dagegen so schwer Widerstand entwickelt, bzw., dass sich diese Auseinandersetzungen nur als »Interessenstreit« der Institutionen der Sozialversicherung (Gewerkschaften, Krankenkassen...) darstellen.


[3] Ende der 80er Jahre konnte die Situation in den Kliniken der DDR durchaus mit derjenigen »im Westen« verglichen werden – allerdings gab es keine öffentlche Debatte um den »Pflegenotstand«, und – soweit wir das wissen – auch keine Demos von KrankenpflegerInnen. Nach der »Wende« kam es zu einem Austausch von fast 50 Prozent der KrankenpflegerInnen in den Kliniken: einerseits gingen viele in »den Westen«, da dort der Lohn und die Arbeitsbedingungen besser waren. Gleichzeitig gingen die Leute aus den dichtgemachten ambulanten Polikliniken in die Krankenhäuser. Ausserdem wurden viele Frauen aus anderen, »abgewicklelten« Sektoren zu KrankenpflegerInnen, vor allem KrankenpflegehelferInnen, ausgebildet. Durch den Bettenabbau und die allgemeine wirtschaftliche Situation in der Ex-DDR gibt es seit Mitte der 90er Jahre wieder ein »Überangebot« an KrankenpflegerInnen.


[4] Als BerufseinsteigerIn kommst du bei voller Arbeitszeit ca. 1200 Euro netto. Arbeitest du mit 40 immer noch in dem Job (es zählt das Alter nicht die Berufsjahre) kommst du auf ca. 1600 Euro netto. Mit einer halben Stelle sind es knapp 1000 Euro, bei den Älteren ist es oft etwas mehr, weil Kinder da sind, weniger Steuern bezahlt werden. Also eine erhebliche Lohnspaltung zwischen »Alten« und »Jungen«. Durch die Tariferhöhung vom Januar 2003 wurde das verstärkt. Es kam zu einer stufenweisen Anhebung der Löhne bis zum 1. Mai 2004. Als »Kompensation« für die Unternehmer wurde die Lohnerhöhung nach Altersstufen für die Jahre 2003 und 2004 um 50 Prozent verringert und die Laufzeit des Vertrages auf 27 Monate festgelegt. Die geplante Erhöhung der Arbeitszeit fiel erstmal weg. Die »Kompensation« wird auf dem Rücken der jungen und neuen Kolleginnnen ausgetragen. Der Abstand zwischen den »Alten« und den »Jungen« vergrößert sich. Eine echte Schweinerei der Gewerkschaften – sie sparen an den Schwächsten und nicht an den hohen Lohngruppen. Gleichwohl politisch schlau – die alten, erfahrenen und aufmüpfigen Leute (und das gilt für alle, die seit den unabhängigen Demonstrationen damals durchgehalten haben) im Krankenhaus bedient man und schadet ihnen wenig, die Jungen und Unerfahrenen läßt man bezahlen. Eine halbe Stunde mehr für alle, das hätte zuammengeschweißt, so spaltet man an der richtigen Linie.


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