Wildcat Nr. 68, Januar 2004, S. 53-54 [w68chefduz.htm]


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"Wir haben es nicht eilig ..."

Interview mit www.chefduzen.de

Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, dieses Diskussionsforum einzurichten?

Die Politszene hier findet McDonalds doof, weil Hamburger nicht vegan sind, oder man geht mit einem Transparent "Smash Capitalism!" zur Demo, um anschließend mit seinen Chefs aus der Computerklitsche auf eine after work-Party zu gehen. Für einen Umgang mit dieser Szene haben wir nicht ausreichend Humor. Wir selber schlagen uns als "Marginalisierte" irgendwo zwischen Schwarzjob und Ich-AG herum. Nicht aus politischen Gründen, sondern mangels besserer Alternative. Das Leben ist nervig genug geworden, um zu dem Schluss zu kommen: So geht es nicht weiter!

Wir hatten auch schon unsere Finger in Kämpfen im Krankenhaus, auf dem Bau, im Callcenter und in der Alternativklitsche. Und die Idee für ein Internetforum kam von der amerikanischen Site Netslaves, die zur Zeit des Platzens der New Economy-Seifenblase wirklich aufregend war (und heute vergleichbar öde ist ...).

Wir haben völlig auf blauen Dunst angefangen. Wir haben erst einmal alle Großbetriebe aufgelistet, die uns eingefallen sind und noch verschiedene Branchen. Die Besuche und die Besucher sorgen für einen ständigen Umbau des Forums, Bereiche, die wir für unbedeutend hielten, bekamen Besucherrekorde, und wir wurden darauf hingewiesen, dass es einige Betriebe unter dem alten Namen gar nicht mehr gibt. Wir haben auch keine vorgefertigte Strategie, wir lassen uns von den Betroffenen und von den Verhältnissen zurechtweisen. Es macht auch Spaß zu lernen, wie es läuft, auf unserem Forum und in der bösen Welt da draußen.

Ihr schreibt, es geht Euch weniger um das Virtuelle und mehr um praktische Sachen wie z.B. Flugblätter gegen aktuelle Schweinereien in Betrieben oder ähnliches. Habt Ihr da schon Erfahrungen gemacht?

Die Website soll nur ein Mittel sein, dass Erfahrungen und andere Infos zugänglich werden. Es geht uns um praktische Konsequenzen, darum, dass Leute Mut fassen, zusammen kommen und aktiv werden. Wir können nicht stellvertretend kämpfen, von uns kommt bestenfalls minimale Hilfestellung. Bisher ist alles noch Testphase, was wir machen, aber es läuft gut an. Es gab Unterstützung in Form von Veröffentlichungen und Verlinkungen von Leuten und Projekten, die wir kaum oder gar nicht kannten.

Sachen außerhalb der virtuellen Welt haben erst begonnen, und sie sind sehr simpel. Der monatliche Stammtisch wurde uns von unseren Usern aufgenötigt, wir hatten eigentlich gar keine Zeit dazu. Ansonsten hat es Spuckies und ein paar Graffiti zum Thema Leiharbeit gegeben und Flugblätter zur Bahn. Die haben wir in Zügen auf die Sitze gelegt, im Reisecenter in die Regale für Informationsmaterial und auf einem Parkplatz für Bahnmitarbeiter hinter die Scheibenwischer.

Der Boden wird täglich fruchtbarer, um die Themen Arbeit, Ausbeutung und Verarmung anzugehen, und wir haben es nicht eilig.

Mehrere Benutzer behaupten, dass in ihrem Bekanntenkreis zwar haarsträubende Geschichten über Arbeitsbedingungen usw. erzählt werden, die Leute aber Angst haben, darüber was auf Eurer Website zu schreiben... Ist das ernst gemeint?

Es ist wirklich so, dass aus dem Bekanntenkreis fast niemand gepostet hat, obwohl es dort die haarsträubendsten Stories gibt und wir die Leute regelrecht genötigt haben, etwas zu schreiben. Es ging sogar soweit, dass uns gesagt wurde, dass eine Geschichte nur dann erzählt wird, wenn wir sie nicht in unserem "komischen Forum" veröffentlichen. Dafür wird aber das Forum genutzt von Leuten, mit denen wir kaum gerechnet haben, wie z.B. den armen Schweinen von Drückerkolonnen. Und wir bekamen Posts von gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen in Betrieben, von denen wir nichts wussten. Wir freuten uns auch, dass in Streikforen der IGM Texte aus unserer Site hineinkopiert wurden, bevor wir überhaupt wussten, dass die Gewerkschaft auch Online-Foren eingerichtet hatte. Dass in Betrieben, in denen es gärt, von Firmencomputern auf unserer Site gesurft wurde, empfanden wir als Ritterschlag für unser Projekt.

Wenn man auch "praktisch" werden will, macht es ja erst mal Sinn, sich auf eine Stadt oder Region zu beschränken, wie Ihr das tut. Habt Ihr von ähnlichen Initiativen wie Eurer aus anderen Städten gehört?

Wir sind zwar die ersten, die in dieser Form arbeiten, aber nach diesem wirklich erfolgreichen Start sind wir sicher, dass man die Idee anderenorts auch aufgreifen wird. Wir sind über chefduzen@gmx.de zu erreichen und können unsere Erfahrungen weitergeben, um solch ein Projekt schneller zu etablieren.



aus: Wildcat 68, Januar 2004


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