Editorial aus der Wildcat #68
Rolltreppen, Busfahrer, Schokolade
Seit mehr als zwölf Jahren hatte ich diese Rolltreppe von der U-Bahn zum Bus nicht mehr benutzt. Damals waren die Leute rechts alle gestanden, links ne knappe Hälfte. Heute laufen links alle und rechts steht nur noch ne Minderheit. Die Zeiten sind schneller geworden, keine Frage!
Bushaltestelle
Als der völlig überfüllte Bus endlich mit Verspätung eintrifft, steigen die meisten ein, darunter auch eine ältere Frau, die es nicht mehr geschafft hatte, einen Fahrschein zu kaufen; der Fahrer weigert sich loszufahren, solange sie an Bord ist, schreit sie schließlich an, bis sie weinend wieder aussteigt – niemand hat sich eingemischt. Die Zeiten sind kälter geworden, individuelle Selbstverwirklichung oft nur ein schickeres Wort für Entsolidarisierung und soziale Feigheit. Kommunikationszeitalter das trügerischste label aller Zeiten für krasseste Kommunikationsunfähigkeit? Der »ganz normale Alltag« ist härter geworden, »Amtspersonen« wieder frecher.
Schneller, kälter, härter, frecher – klingt wie die promo für den hundertsten revival-Versuch dieser unsäglichen 80er Jahre Punkbands. Aber es ist heute nicht mehr die jugendliche Revolte, die frech und schnell und hart gegen die lahm gewordenen 70s anrotzt, heute passen diese Adjektive zu Rogowski-Reden: runter mit den Löhnen, Zähne und Rente selber versichern, weniger Arbeitslosen- und Sozialhilfe, mehr Maloche, Niedrigstlöhne für Langzeit-Arbeitslose usw. usw..Zu den neuesten Arbeitsamts-Maßnahmen, Praktika und Ich-AGs haben wir ein paar Leute befragt. Ansonsten überspannt unser Schwerpunkt zur Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse die letzten vierzig Jahre. Wir sehen es als Neu-Einstieg in die Debatte.
In fear at work beschreibt ein amerikanischer Arbeiter, wie die Bleikappe Angst über allem liegt: Sie ist überall am Werk, vor allem als Angst am bzw. um den flexibilisierten Arbeitsplatz. Leute, die nicht mehr sicher sein können, ihren Lebensstandard zu halten, kriegen Angst – und richten diese größtenteils gegen die anderen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, wie die Abschaffung der gemeinsamen Pausen zur Zunahme von Mobbing und Entsolidarisierung beigetragen hat.
Endlich! Die Busfahrer in Italien schlagen eine andere Richtung ein. Am 1. Dezember brach überraschend in Mailand ein wilder Streik aus, dann am 11. Dezember in Rom, am 15. Dezember in mehreren Städten Italiens, schließlich am 17. ein wilder Streik von über 10 000 Alitalia-ArbeiterInnen in Rom. Wir haben den Artikel (S. 23-25) immer wieder upgedatet; bezeichnend, dass es in der BRD fast so eine Art Nachrichtensperre zu diesen Entwicklungen gab! Am 19. weiteten sich die Streiks der Busfahrer auf Savona, Neapel und Genua aus, das komplett lahmgelegt wurde. Am 20. war wieder Mailand an der Reihe – in der Nacht von Samstag auf Sonntag (20./21.12.) unterschrieben die großen Gewerkschaftsverbände einen Tarifvertrag, den die ArbeiterInnen für eine Frechheit halten. Gegen diesen Tarifvertrag gab es am Sonntag wilde Streiks in Rom, Mailand, Florenz, Brescia, Venedig und Padua. Die Reaktionen der Gegenseite wurden immer hysterischer: Bullen, Strafandrohungen. Alles bereitete sich auf den Montag, 22. Dezember vor. Als die ArbeiterInnen frühmorgens streikbereit zu den Depots kamen, wurden sie von Bullen und Gewerkschaftern empfangen. Die Gewerkschafter versuchten, vor allem die Zeitvertragler zur Arbeitsaufnahme zu erpressen: »Ihr wisst, wie hoch die Strafen sind! ...« Nun mußten wir aber definitiv in Druck gehen – während die compagni/e in Italien vor einem sehr harten Tag stehen, in dem alle Kampfmittel zum Einsatz kommen: wilder Streik, Bummelstreik (»Dienst nach Vorschrift«), Sabotage... - wir versprechen Euch schon jetzt in der nächsten Wildcat umfassende Aufklärung (derweilen lohnt es sich, auf indymedia den weiteren Verlauf zu verfolgen)! Daneben gibt es über weitere Streiks zu berichten, diesmal sogar in Österreich, der Schweiz und Deutschland! (S. 14-22)
Die aktuellen Helden aller Unterdrückten im Land – Quelle: Indymedia
Auf Reisen:
Die Beilage ist das Ergebnis einer Reise zu einer besetzten Kachelfabrik in Patagonien, und Raúl, der seit zehn Jahren in dieser Fabrik arbeitet, war im November in Deutschland auf Rundreise. Auf den Veranstaltungen versuchte er seinem deutschen Publikum klarzumachen, dass auch bei ihnen in der Fabrik vor ein paar Jahren niemand geglaubt hätte, dass sie mal den Betrieb besetzen und zusammen mit arbeitslosen Piqueteros Straßen blockieren würden:
»Ich kriege hier immer zu hören 'Toll, was ihr da macht, aber hier in Deutschland geht sowas nicht, hier ist überhaupt nichts los.' Aber dann habe ich gehört, dass am 1. November in Berlin 100 000 Menschen demonstriert haben, und als wir nach Berlin kamen, zur Veranstaltung in der Uni, da war diese Uni besetzt. Dann sind wir nach Hamburg gefahren, da hatten die Arbeiter eines sozialen Projektes gerade ihren Laden besetzt, weil der geschlossen werden soll. Und in Köln haben sie mir erzählt, dass in dieser großen Autofabrik Ford, wo doch die Gewerkschaftsbürokratie angeblich alles so gut im Griff hat, vor kurzem in einer Abteilung zwei einhalb Tage lang wild gestreikt wurde... Wirklich nix los hier in Deutschland?«
Die Demonstration von 100 000 Menschen am 1. November in Berlin, die Mobilisierungen an den Unis, die vielen – allerdings gewerkschaftlich »angeordneten« – Arbeitsniederlegungen, der wilde Streik bei Ford Köln ... zeigen, dass auch in der BRD das Klima von Angst und Passivität allmählich aufbricht. Raúl betonte immer wieder, dass er die selbstverwaltete Kachelproduktion weder als exotisches Projekt aus dem fernen Lateinamerika präsentieren wolle, noch als Modell, sondern als Teil der weltweiten Klassenkämpfe. Die Besetzung einer so teuren Fabrik hat den Raum für enorme politische Prozesse geöffnet – aber sie ist keine Lösung. Die ArbeiterInnen von Zanon können nicht in einer Fabrik, wie auf einer Insel, eine andere Gesellschaft verwirklichen. Aber sie haben einen Anfang gemacht und gezeigt, was trotz verbreiteter Jammerei möglich ist.
Stromausfälle
– man könnte den Zerfall der Infrastruktur natürlich an vielen anderen Stellen untersuchen – z.B. weisen die streikenden BusfahrerInnen in Italien immer wieder darauf hin, dass die Regierung nicht nur ihre Löhne und Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat, sondern dass sie die ganze Infrastruktur des Öffentlichen Nahverkehrs kaputtgehen läßt. Wir bringen es anhand der Stromausfälle – zum einen als Rückbezug auf das letzte Titelbild, zum anderen, weil den Artikel ein Genosse geschrieben hat, der selber in dem Sektor arbeitet. (S. 38-39)
Wir üben noch!
Wir versuchen, ein linksradikales Magazin zu machen. Wir bemühen uns um eine breite Themenmischung; wo klar ist: nicht jede liest alles, aber viele finden was. Das erfordert dauernde Anstrengungen und Neu-Anläufe ... und ist uns diesmal weniger gut gelungen.
Zum Krieg in Afghanistan und im Irak haben wir zum Beispiel diesmal keinen Artikel, obwohl es sehr spannend ist, wie sich die Lage dort entwickelt. Im Irak gab es nach dem Sturz Saddams eine Fülle von Demos, Streiks usw.. Die Realität dieser sozialen Bewegungen wird hinter dem Terror und Gegenterror, medialen Truthähnen und Festnahmen in Kellerlöchern versteckt – ihr wollen wir uns im nächsten Heft zuwenden. Derweilen stecken die USA im Irak auch in großen militärischen Schwierigkeiten. Das sagt General McCaffrey, Professor in West Point; im Golfkrieg 1991 führte er die 24. Mechanisierte Infanteriedivision: »Der Irak ist eine militärische und politische Katastrophe ohne Aussicht auf Besserung... Die US Army ist bis zum Zerbrechen überdehnt ... die US-Streitkräfte im Irak werden in einen Abwärtssog hineingetrieben...« (Wall Street Journal 28.11.2003)
»Magazin« heißt auch, es kann durchaus mal in einem Artikel ein Bezug hergestellt werden, den nicht alle kapieren – manche wissen was gemeint ist, andere nicht. Wir versuchen natürlich drauf zu achten, dass die Artikel von allen LeserInnen verstanden werden können. Aber es wäre öde und langweilig, Artikel so zu schreiben, dass jede/r jede Anspielung versteht. Was anderes sind Bezüge zwischen den Heften. Die Marginalspalte benutzen wir als linkliste und Hinweisraum. Wir bemühen uns so zu schreiben, dass es sich auch nach einem Jahr noch lohnt, einen Artikel nachzuschlagen. Und wir versuchen, die Hefte und die Artikel aufeinander aufzubauen.
Die Beliebigkeit bestimmter Life style Magazine wollen wir sicher nicht. In »authentischem Gedöhns« wollen wir uns auch nicht wälzen. Bleibt ein Schreibstil, der sich an Brechts V-Effekt anlehnt - »wir machen jetzt gleich folgendes – was denkt Ihr dazu?«
Und eigentlich sollen es nicht mehr als 80 Seiten pro Heft sein, mit der Beilage sind es diesmal aber 100... Habt Nachsicht und Geduld!
Trendwende?
Die Börse in Frankfurt schließt wieder früher. Die sinnlose Beschleunigung von allem und jedem, in den uns ein untergehendes Gesellschaftssystem seit den 90er Jahren zu treiben versucht, stößt an Grenzen. Grenzen allerorten (siehe die Artikel zur Krise und zu Lateinamerika/Bolivien).
Wenn die Unternehmer sagen »auf Zeit werden wir nicht setzen können« (S.37) und die ArbeiterInnen sagen »wir haben es nicht eilig« (S. 54), dann stimmen die Koordinaten wieder: die Zeit arbeitet für uns!
Kurz vor Weihnachten entdeckte ich dann auch eine neue Rolltreppentaktik: Leute hatten ihre Einkaufswagen quer gestellt, damit die Rennereien aufhören – und dann konnten sie sich ganz gemütlich unterhalten.
aus: Wildcat 68, Januar 2004