Prekarisierung und industrielle Reservearmee
Von Prekarisierung ist im letzten Jahrzehnt viel die Rede gewesen. Gemeint war die Ausbreitung eines neuen Typs von Arbeitsverhältnissen, der im Vergleich zu einem vorgestellten »Normalarbeitsverhältnis« deutlich schlechter ausgestattet ist. Dies betrifft – in beliebiger Zusammensetzung – das Niveau der Absicherung im Sinne des Kündigungsschutzes, die vorgesehene Dauer des Arbeitsverhältnisses, seine Ausstattung mit Rechten aus der gesetzlichen Sozialversicherung, der Kranken-, der Unfall-, der Rentenversicherung. Und zum üblichen Bild der Prekarisierung gehört, dass diese Nachteile gegenüber den Normalarbeitsverhältnissen nicht durch höheren Lohn ausgeglichen werden, besonders wenn man fehlende besondere Urlaubsvergütungen, Weihnachtsgeld und verwandte Elemente der Sonderausstattung des Normalarbeitsverhältnisses in den Vergleich miteinbezieht. Allerdings zielt der Angriff nicht in erster Linie auf den Nettolohn, sondern eben auf die Zusätze, die ihn ergänzen, auf den »indirekten Lohn«, die »Lohnnebenkosten« in der Sprache des Kapitals.
Zwanzig Jahre Ringen um mehr Lohn
Wo gestrichen werden soll, muss erst einmal etwas vorhanden sein. Tatsächlich greift »Prekarisierung« die Arbeitsbedingungen vor dem Hintergrund von Erfolgen der Arbeiterinnen und Arbeiter an, die in wenig mehr als zwanzig Jahren eine vorher schlichtweg undenkbare Verbesserung ihrer Lage erreicht hatten. Konnte ein angelernter Arbeiter um 1950 für einen halben Stundenlohn gerade ein Pfund Brot kaufen und für zwanzig Stundenlöhne ein Paar Schuhe, so erlaubte um 1970 sein Lohn ihm selbst und seiner Familie nicht nur hochwertige Ernährung und das Ersetzen verschlissener Kleidung. Zur normalen Ausstattung seines Haushalts gehörten Kühlschrank, automatische Waschmaschine und wenige Jahre später auch ein Auto. Der Erwerb von bescheidenem Eigentum war in greifbare Nähe gerückt. Wer Facharbeiter war, dem stand mehr offen: Urlaub im Süden, Eigenheim, eine bessere Ausbildung für die Kinder.
Der in weniger als einer einzigen Generation erreichte Aufstieg aus hundert Jahren Elend war umso eindrucksvoller, als er mit wichtigen Absicherungen der Arbeiterexistenz einher ging, aus denen sich für uns das Bild des »Sozialstaats« zusammensetzt: Gesetzliche Krankenversicherung mit ernsthaften Leistungen, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Versicherung gegen Verlust der Arbeitskraft durch Unfall, Versicherung gegen einen Großteil der Einkommensverluste bei Arbeitslosigkeit, Sicherung des Alterseinkommens durch Rente. All das war nicht geschenkt worden. Zähe Streiks in den 50ern, eiserne Solidarität im Fabrikregime der 60er Jahre hatten Früchte getragen.
Kein Fußbreit Boden wird geräumt
Wo etwas genommen werden soll, muss jemand sein, der es sich nehmen lässt. Seit dem Beginn der Rekonstruktionsphase nach dem 2. Weltkrieg und bis in die 70er Jahre hinein war das Volumen der westdeutschen Wirtschaft – zunächst mitbedingt durch die im internationalen Vergleich niedrigen Arbeitskosten – unentwegt gewachsen. Entsprechend groß war der Hunger der Unternehmen nach verfügbarer Arbeitskraft. Sie wurde in erster Linie bei den im Land lebenden Arbeiterinnen und Arbeitern mobilisiert, durch ausgedehnte Arbeitszeiten, die bei sinkender Regelarbeitszeit entsprechend hoch zu entlohnen waren. Um den so entstehenden Kostendruck zu mindern, setzten die Unternehmen aber schon frühzeitig auf den Einsatz von ca. 10 Millionen Flüchtlingen und im Ausland angeworbenen »Gastarbeitern«.
Die sich ständig erweiternden Wachstumsgrenzen ebenso wie die geringe Neigung der zugewanderten Arbeiter, sich billiger als die inländischen Arbeiter zu verkaufen, machten jedoch allen Hoffnungen auf Kostensenkung einen Strich durch die Rechnung. Bis vor zwanzig Jahren gab es in Westdeutschland bei Arbeiterinnen und Arbeitern keine erkennbare Bereitschaft, auf irgendein positives Ausstattungsmerkmal ihrer Arbeit zu verzichten – keine Nachgiebigkeit bei Lohn, bei Urlaub, bei Versicherungsansprüchen. Die betriebliche Zulage war in allen Bereichen der Regelfall. Dabei musste der Fächer der Gegenleistungen für die Hergabe der Arbeitskraft nicht von jedem einzelnen Arbeiter durchgesetzt werden. Lohn und Arbeitsbedingungen waren weithin durch Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge und Gesetze geregelt. Sie erschienen in der Form »verbriefter Rechte«, auf die ein natürlicher, wenn nicht sogar unumstößlicher Anspruch zu bestehen schien.
Ausbeutung 1. und 2. Klasse
Das alles änderte sich im Lauf des Krisenjahrzehnts, das in die 80er Jahre hineinführt. Nun gab es Arbeitslose in Millionenzahl, nun gab es »Problemgruppen« – Langzeitarbeitslose, Jugendliche, Ungelernte. In dieser Zeit wurde es üblich, die »hohen Arbeitskosten« in Deutschland West, und damit die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst für die Krise der Kapitalverwertung verantwortlich zu machen.
Zum ersten Mal zeigte ein gesäter Spaltpilz Wirkung: Der trügerische Gedanke, dass die Arbeitskosten wirklich oft zu hoch seien und dass manche sich deswegen eben billiger verkaufen müssten, manche auf volle Ausstattung mit Sicherheit verzichten sollten, wurde von der Boulevardpresse und den Fernsehprogrammen täglich millionenfach zur selbstverständlichen Wahrheit erklärt. Die Lüge konnte auch deswegen wirksam werden, weil die Gewerkschaften, die bei den Arbeitern wegen ihrer instrumentellen Rolle bei der Sicherung der Entlohnungsfortschritte für wichtig gehalten wurden, die Legalität gesetzlicher Neuregelungen respektierten, die auf Verflüssigung und Verbilligung der Arbeitskraft abzielten. Noch zehn Jahre zuvor undenkbar, tauchten ab Mitte der 80er Jahre in den Betrieben des Landes neben so genannten »Stammbelegschaften« »prekäre« Arbeitskräfte mit befristeten Verträgen, Leiharbeiter, Subunternehmer mit extern bezahltem Personal auf.
Die Abkehr vom Regelarbeitsverhältnis:viele Motoren – viele Bremssysteme
Mitte der 80er Jahre arbeiteten Unternehmer, Parteien und Staat nur noch an der Ausdifferenzierung und Verbreiterung dieses »zweiten Arbeitsmarkts«. Das Unternehmen ging jedoch durchaus nicht mit der gewünschten Geschwindigkeit vonstatten. Zu viele Arbeiter rochen den Braten, und spätestens nach der ersten Bekanntschaft mit der Arbeitslosigkeit im Krisenkapitalismus wussten sie, was sie keinesfalls wollten, nämlich eine Minderung ihrer Ansprüche, ihre Entrechtung am Arbeitsplatz, den Verlust der sozialen Absicherung.
Die Geschichte geriet aber noch von einer anderen Seite her in die Zange. Schon frühzeitig, lange vor dem Einbruch der ersten größeren Krise, hatten die Arbeiter in der BRD die Chancen entdeckt, die in einer ausreichenden Absicherung des Arbeitsverhältnisses gegen die Wechselfälle des Alltags liegen, gegen Krankheit, gegen Arbeitslosigkeit, aber auch gegen die Nachwirkungen eines Wochenendes, das den Namen verdient. Solche Absicherung machte es möglich, wenigstens für einen Teil der immer noch unbezahlten Arbeitsleistung Ausgleich zu schaffen: Durch Krankfeiern, Blaumachen, aktive Karriereplanung unter Einschluss von Arbeitslosigkeit. Etwas anderes trat hinzu
Politisch hatten sich die Koordinaten etwa Mitte der 70er Jahre verändert: Streikbewegungen, unübersichtlich zusammengesetzt aus gewerkschaftlichen und aus wilden Streiks, hatten die Fortsetzung der sozialfriedlichen Verhältnisse in Westdeutschland unwahrscheinlich gemacht. Die Energieversorgung der Industrieländer war durch die »Ölkrise« in Frage gestellt worden, die Umweltzerstörung durch »ungehemmtes Wachstum« der Industrieproduktion unter Kritik geraten. Die Vereinigten Staaten hatten mit dem Putsch in Chile die weltweit verbreiteten Hoffnungen auf einen friedlichen Übergang zum Sozialismus vom Tisch gefegt.
Sozial hatte all dies zunächst keine Auswirkungen: die Löhne stiegen trotz wachsender Arbeitslosigkeit weiter an. Gleichzeitig war eine unklare Bewegung entstanden, die sich politisch nicht fassen lässt und die auf vielfältige Weise nach einem Leben jenseits kapitalistischer Ausbeutung suchte. Die nachfolgenden Rationalisierungsschübe in den Fabriken und Verwaltungen ließen das Reservoir der für alternative Entwürfe Empfänglichen weiter anschwellen. Die sozialstaatliche Absicherung diente dabei durchweg als Fundament.
Der Gesamtkomplex dieser Erfahrungen bildete ein historisches Hemmnis bei der Konstruktion einer bescheidenen, geduckten, leicht manipulierbaren, im Ergebnis billigeren Arbeiterklasse. Die Unternehmer und die von ihnen bestimmten Institutionen bemühten sich, auf verbreitete Neigungen von Arbeitern, besonders von Arbeiterinnen einzugehen. Teilzeitarbeit, die den gewohnten Regelarbeitstag in der Dauer unterschritt, war ein Angebot, das Widerhall fand. Empfänglich für die Vorzüge der schwach abgesicherten Teilzeitjobs waren wie immer auch diejenigen, die eine Ausbildung oder ein Studium auf der Einkommensseite unterfüttern wollten, und die, denen das Verharren im Dauertrott des Regelarbeitsverhältnisses ein Gräuel war. Jugendliche und Heranwachsende mit solchen Bedürfnissen hatte es auch zwanzig Jahre zuvor gegeben, nur war ihre Zahl inzwischen stark gewachsen. Der erste größere Durchbruch ereignete sich aber gerade in demjenigen Sektor, der sich den Schutz des Regelarbeitsverhältnisses auf die Fahnen geschrieben hatte.
Die gewerkschaftlichen Hebel funktionieren nicht mehr
War seit den 50er Jahren mehr als zwei Jahrzehnte lang die Stundenlast der Arbeit sowohl auf den Arbeitstag, auf die Arbeitswoche und auch auf das Jahr bezogen unter der Maßgabe des Lohnausgleichs kontinuierlich herunter gezwungen worden, so erwies sich in den 80er Jahren der Versuch mehrerer Gewerkschaften, die tarifliche Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden zu reduzieren, als Falle. Als Kompromissbeitrag schlossen wichtige Verbände flankierende Flexibilisierungsverträge ab, welche die Arbeitszeit ganzer Belegschaften und weite Tarifbereiche betrafen. Die früher tariflich befestigte »starre« Arbeitszeit, die für jede Abweichung Lohnzuschläge fällig machte, gehörte der Vergangenheit an. Mit der »flexibilisierten« Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf weniger als die seit mehr als zehn Jahren geltenden 40 Stunden wurde zum ersten Mal auch den Arbeitern im Kernbereich der tarifgeschützten Arbeitsverhältnisse ein wichtiger Teil der Verfügungsmacht über die Verteilung ihrer Arbeitsleistung streitig gemacht.
Die Macht, Ja oder Nein zu sagen
Im landläufigen Sinn redet man von »prekären Arbeitsverhältnissen«, wo Arbeit unter Bedingungen geleistet wird, die nach Höhe der Entlohnung, Bestimmung der Arbeitszeit, gesetzlichen Schutzrechten sowie sozialer Absicherung den Standard erkennbar unterschreiten, der im Zeitraum der höchsten Kraftentfaltung auf Arbeiterseite definiert worden war. Dem Inhalt nach lässt sich die »Prekarisierung« in einen Fächer von Erscheinungen aufgliedern. Historisch wird sie am besten verständlich, wenn man sie als Angriff auf die Verfügungsmacht von Arbeiterinnen und Arbeitern über ihre Arbeitsleistung betrachtet.
Wenn die Dauer des Arbeitsvertrages von vornherein befristet wird, verliert der Arbeiter die Macht, die Dauer seines Verbleibs in einem bestimmten Betrieb und damit in einem bestimmten sozialen Zusammenhang mit seinen Kolleginnen und Kollegen selbst zu bestimmen. Wird seine Arbeitszeit flexibilisiert, so gerät die Macht zur selbständigen Definition von Lage und Dauer des Arbeitstages in Verlust. Schließt ein Arbeitsvertrag die Absicherung durch Beiträge zur Altersrente aus, so rückt die selbstbestimmte Beendigung der Lohnarbeit in weitere Ferne.
Für den Einzelnen sind die Folgen solcher Eingriffe leicht erkennbar. Ihr sozialer Sinn wird aber erst deutlich, wenn man sie als Angriff nicht nur auf die Verfügungsmacht der einzelnen Arbeiterin, des einzelnen Arbeiters über ihre Arbeitsleistung versteht, sondern als Angriff auf die Dispositionsmacht der Klasse über ihr Arbeitsvermögen im Kampf mit dem Kapital. Erst dieser umfassende Sinn weist über den täuschenden Eindruck hinaus, der in der Einzelerscheinung der Prekarisierung nur den kleinlichen Chef, nur das neoliberale Raubtier der Konzernleitung, nur die vielleicht kurzsichtige Maßnahme der Kostensenkung erkennbar werden lässt.
Die Arbeiter vor den Schutzrechten schützen
An der Zerstörung der Dispositionsmacht der Klasse über ihr Arbeitsvermögen, an der schrittweisen Einschränkung und projektierten Beseitigung des im historischen Vergleich bedeutenden Maßes von Einfluss, den Arbeiterinnen und Arbeiter in diesem Land auf die Ausgestaltung ihres Lebens ausüben konnten, haben der Staat und seine Institutionen seit nunmehr drei Jahrzehnten zielstrebig gearbeitet. Schon zu Beginn der 70er Jahre, als der Ausbau sozialstaatlicher Garantien für die Arbeitsverhältnisse in der BRD noch seinem Höhepunkt entgegen ging, wurde unter der von Willy Brandt geführten SPD/FDP-Regierung das Gesetz über Leiharbeit verabschiedet, das für den vorher undenkbaren »modernen Sklavenhandel« eine rechtlich unangreifbare Grundlage bereitstellen und ihn damit möglich machen sollte. Wenige Jahre später – immer noch unter SPD/FDP-Regierung – wurde in einer Novellierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes die Nachtarbeit für Jugendliche, die vorher verboten gewesen war, wieder gestattet.
Zum ersten Mal bewährte sich bei diesem Unternehmen eine zynische Unterstellung, die seither die Rechtfertigung jeden Angriffs auf Lohn und Arbeitsbedingungen, jede staatlich inszenierte Verschlechterung der Bedingungen der Arbeiterexistenz flankiert hat: Das Schutzrecht gefährde die Arbeits- oder eben im Fall der Jugendlichen die Ausbildungsplätze.
Die Logik, der zufolge man den Arbeitslosen durch Verschlechterung ihres Arbeitslosengelds und Verwüstung ihrer Arbeitsbedingungen zu Hilfe kommen müsse, ist von der Thatcher-Regierung in Großbritannien in Umlauf gebracht und von den sozialdemokratischen Regierungen – unter gebührender Verteufelung ihrer Urheberin – lautstark und von den Gewerkschaften kleinlaut bestätigt worden. Diesem ideologischen Strickmuster ist in der Folgezeit überall dort gefolgt worden, wo Maßnahmen erprobt oder sanktioniert werden sollten, die wir zum Panorama der Prekarisierung rechnen: Bei der Verschlechterung des Kündigungsschutzes, bei der Beseitigung der rechtlichen Hemmnisse für befristete Arbeitsverhältnisse, bei der Öffnung der Schleusen für »geringfügige« sprich: sozialversicherungsfreie Arbeitsverhältnisse, am deutlichsten beim »Beschäftigungsförderungsgesetz« von 1985, das die Einrichtung von Arbeitsplätzen ohne Kündigungsschutz ausdrücklich unterstützte und die Arbeitslosen zum Eintritt in solche Arbeitsverhältnisse zu zwingen versuchte.
Vor der Beseitigung der Rechte steht der inszenierte Bankrott der Sozialversicherung
Die seit Jahrzehnten durch Parteien und Staat vorangetriebene Minderung der finanziellen Absicherung bei Arbeitslosigkeit komplettiert das Panorama. Denn erst die spürbare Verschlechterung der Lebensbedingungen bei Verlust des Arbeitsplatzes, erst die ernsthaft drohende Gefahr sozialen Elends kann die prekären Arbeitsverhältnisse so attraktiv machen, dass sie auch wirklich akzeptiert werden.
Zum Ärger der Unternehmer hatten es sämtliche Regierungen seit Mitte der 70er Jahre nicht geschafft, hier den entscheidenden Durchbruch zu bewirken. Das Objekt der Begierde, eine unter manifesten Elendsperspektiven bescheidene, lenkbare, kostengünstig einsetzbare Arbeitskraft, war weiterhin nicht zu greifen. Erst die Verschleuderung der angesparten Guthaben der Sozialversicherungen, insbesondere der Rentenversicherung, haben den bevorstehenden Bankrott der sozialen Sicherungssysteme der Arbeiterexistenz herbeigeführt, unter denen sich der Durchmarsch der Schröder-Regierung inszenieren lässt. Zum ersten Mal seit den 50er Jahren steht ein Angriff auf die Existenzsicherung nicht nur isolierter »prekärer« Gruppen, sondern der gesamten Arbeiterklasse auf der Tagesordnung.
Wunschbild des Kapitals: die um Arbeit bettelnde industrielle Reservearmee
In der Perspektive dieses Angriffs zeichnet sich ein projektierter Szenenwechsel ab: Die abgemagerten Vergütungen und Sicherungen, der weitgehend beseitigte »indirekte Lohn«, bislang in erster Linie für die prekären Arbeitsverhältnisse charakteristisch, sollen Allgemeinerfahrung werden – schrittweise, aber nicht weniger planmäßig. Nicht schwer vorauszusagen, dass die Dynamik der Spaltung durch neue Verschlechterungen im fortgeführten prekären Sektor lebendig gehalten werden wird. Immer vorausgesetzt natürlich, dass der Keulenschlag der neuen »Reformen« die richtige Stelle trifft. So oder so: Wer über die mehr oder weniger tristen Einzelfälle hinausblickt, wird in der »Prekarisierung« von Teilen der Klasse den Hunger des Kapitals erkennen, der auf die Wiederherstellung einer industriellen Reservearmee im klassischen Sinn zielt.
Aber der Bär, dessen Fell verteilt werden soll, ist noch nicht erlegt. Schon melden sich als Antwort auf das große Verelendungsprojekt der »Agenda 2010« die ersten Sturmzeichen. Demonstrationen, Proteste und Streiks kommen in Bewegung. Ob es dazu reicht, das Projekt zu unterlaufen, ist heute noch nicht absehbar.
aus: Wildcat 68, Januar 2004